Meine Schulzeit 1935 – 1939 bei den Fratres des Maristenordens

Das Jahr 1939 begann für mich, damals ein Kind von 14 Jahren, sehr traurig. Anfang März war die geliebte Mutter unerwartet gestorben. Damit war ein Grundpfeiler dessen, was man „Heimat“ nennt, über Nacht zerbrochen. Ein Zweites kam hinzu, denn nahezu gleichzeitig mit der familiären Katastrophe ging ein weiteres Stück heimatlicher Geborgenheit verloren. Nach diversen „Warnschüssen“ – in der Zeit von Mitte 1936 bis 1938 – wurde im Frühjahr 1939 per Dekret die durch katholische Ordensleute geleitete „Höhere Knabenschule (mit Internat)“ in Remagen geschlossen. Patres und Fratres wurden aufgefordert, das Zuhause am Rhein zu verlassen, irgendwo anders zu leben, in vielen Fällen auch einfach zu emigrieren, teilweise bis nach Übersee auszuwandern. Vorausgegangen waren mehrere Gestapo-Besuche in der Maris-tenschule, wobei vor allem die Internen vernommen wurden. Den Lehrern wurden dabei „wohlwollende“ Zusagen einer Unterbringung an Staatlichen Lehranstalten gemacht, wenn sie bereit gewesen wären, die Ordenszugehörigkeit aufzukündigen. Als weiteres einschneidendes Ereignis kam der Kriegsausbruch am 1. September 1939 hinzu. Wen wundert es, wenn dieser hier aufgezeigte Rahmen eine Kindheit und die Zeit der frühen Jugend in besonderem Ausmaß sehr hart geprägt und mich seither nicht mehr losgelassen hat.

Die neue Schule

Ich erinnere mich sehr gut der „Aufregungen“ in unserer kleinen Familie als in meinem Zeugnis vom Halbjahr 1934/35 der Volksschule im Abschnitt „Bemerkungen“ ein Hinweis nicht zu übersehen war: „… ist zum Besuch der höheren Schule geeignet“. Hierzu hatte der damalige Remagener Lehrer Kliche die Eignung auf einem lose beigefügten Zettel begründet, dergestalt eindringlich, dass meinem Vater eine Entscheidung gewiss erleichtert worden ist; immerhin war neben grund-sätzlichen Erwägungen auch zu bedenken, dass beim Eintritt in die „Sexta“ (völlig neuer Begriff!) einer Ordens(=Privat=) Schule auch finanzielle Belastungen entstanden, darunter ein Schulgeld von monatlich 20,– ­Reichsmark. Gesamtaufwendungen waren aufzubringen, unterm Strich zur damaligen Zeit in nicht unbeträchtlicher Höhe. Herzklopfen des Knaben – und sicherlich auch des Vaters – beim Antrittsbesuch und der Vorstellung in der hellen, freundlich-strengen, sehr modernen neuen Lehranstalt. Deren Leiter, Frater Johannes im schwarzen Ordenshabit, das Kreuz auf der Brust, wies mit unverkennbarem Stolz nicht nur die Klassenräume und das eigentliche Schulzentrum aus, sondern zeigte uns das gesamte Gebäude vom Kellergeschoss bis zur riesigen Dachterrasse, die uns vorkam wie ein Stück Autobahn. Und er behauptete, der im Hause waltende GEIST sei von Kapelle bis Turnhalle und von den Schlafsälen für interne Schüler bis zu deren Studierzimmern der baulichen Hülle angepasst. Später bin ich überzeugt worden: Der Mann hatte nicht übertrieben! Ich bin vom ersten bis zum letzten Tag gern zu den Maristen gegangen. Mehr noch: Als Schüler habe ich sie kindlich geliebt und als Erzieher hoch geachtet. Ihre Bildungsarbeit folgte den Grundsätzen des Ordens. So lautet beispielsweise die Regel 162: „… die christliche Erziehung der Jugend unter dem Schutze der Gottesmutter ist der besondere Zweck der Kongregation.“ Für viele dürfte eine solche Ausrichtung heute antiquiert und unverständlich sein. Doch in einer der folgenden Regeln heißt es erfrischend modern: „…man legt besonderes Gewicht auf die Erziehung zu gesunder Freiheit und starkem Verantwortungsbewusstsein, um die Persönlichkeit zu formen.“ Was aber taten die Pädagogen, um der letztgenannten Forderung gerecht zu werden?

Schulzeit in den Jahren 1935 bis 1938

Der Lehrkörper der Remagener Maristenschule bestand, die gesamten vier Jahre gleichbleibend, aus zwei Geistlichen, etwa 14 Schulbrüdern (Fratres) und zwei bis drei Privatlehrern mit Diplom. Das bestimmende Obergewicht der erstgenannten Kleriker ist nicht zu übersehen. Ihnen kam natürlich besondere Bedeutung zu, und die Angehörigen sprachen mit Recht von einer religiös-pädagogischen „Berufung“ nach den in den vorgenannten Ordensregeln festgelegten Inhalten. Dass meine Lehrer so und nicht anders dachten und handelten, habe ich bis auf den heutigen Tag als „Glück“ empfunden. Die zwei bis drei Privatgelehrten waren gleichfalls ordentliche Pädagogen, die Herren Hohl und Bischofs. Letzterer wurde nach seinem Kürzel unter Klassenarbeiten von uns nur „Bi“ genannt. Und ein Herr Freisfeld, dieser Biologie lehrend, war gutmütig, nachsichtig und konnte keiner Fliege, geschweige denn einem Schüler etwas zuleide tun. Vielleicht hatten ihm deshalb bereits frühere Jahrgänge den Bei- oder Rufnamen „Selim“ verpasst.

In der Hauskapelle der Maristenschule fand u. a. täglich für die Internen das Morgengebet statt.

Lehrerschaft und Schüler

Die Maristenschule wurde insgesamt von rund 140 bis 160 Schülern besucht. Eine Besonderheit stellte die Trennung der Schüler nach Internatsangehörigen und sogenannten „Fahrschülern“ dar. Diese Letzteren aus Remagen und Umgebung machten weniger als die Hälfte der Jungenschule aus. Sie verließen die Schule nach Unterrichtsschluss am frühen Nachmittag und pflegten den fröhlich-befreiten Heimweg durch allerlei Unsinn und Schnick-Schnack anzureichern.

Die Internen durften das Haus zwar auch fast täglich verlassen, sie aber wurden von dem beaufsichtigenden Präfekten in Uniform (=Habit) angeführt und deshalb einigermaßen diszi­pliniert. Die meisten waren der Meinung, dass ihr Tagesablauf und eigentlich ihr „ganzes Leben futsch“ sei. Das leuchtend weiße Gebäude hieß für sie nur „der Fliegenfänger“. In Wahrheit bemühten sich Schulleitung, Verwaltung und Lehrerschaft durch vielfältige Ange­bote gerade auch bei den Pensionisten keine Monotonie aufkommen zu lassen und die zwangsläufig unvermeidbare Eintönigkeit des geregelten Tagesablaufs in einem Schulheim, zu dem auch ein Morgengebet in der Hauskapelle gehörte, zu mildern.

Außerhalb der Studiersäle gab es Bastelstuben, einen Turnsaal mit vielen Geräten und zwei Büchereien. Die älteren Schulklassen hatten die Möglichkeit, auch die gut sortierte Lehrer- bibliothek benutzen zu können. Auf dem oberhalb des Apollinarisberges sehr schön inmitten des Tannenwaldes angelegten Sport- und Spielplatz tobte man sich bei gutem Wetter aus. Interne durften dies immer nur unter Aufsicht. Es gab ein schuleigenes Streichorchester und eine von Schülern geleitete hauseigene Theatergruppe. Diese machte 1-2 Mal im Jahr von sich Reden. Für uns Externe war es eine hohe Ehre, hier ab und an Mal vor Publikum mit­spielen zu dürfen. Auf religiöse Erziehung, auf Musik, Kunst und Kultur wurde besonders Wert gelegt. Daneben kam aber auch der Sport in der Maristenschule nicht zu kurz. Der Unterricht in allen üblichen Schulfächern war solide und fundiert. Die Prügelstrafe wurde nicht angewendet.

Und schließlich tat man auch den „Anforderungen“ der Zeit des Nationalsozialismus, die im Januar 1933 angebrochen war, genüge. Früh schon hatte sich innerhalb des Internats eine eigene Formation der Hitlerjugend gegründet, und es entstand hierzu bald ein Spielmannszug. Beide Einrichtungen wurden seitens des Ordens toleriert, – nicht zuletzt wohl auch in der Hoffnung, vom Staat und der Partei ansonsten „in Ruhe gelassen“ zu werden. Schließlich gab es ein Konkordat zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Dritten Reich, welches dies zusagte, und dann doch nicht einhielt.

Abschlussbild der gesamten Schülerschaft vor der Auflösung der Schule 1938/39

Auflösung

Über die Auflösung der Maristenschule im März 1939 waren wir schockiert, wochenlang wie gelähmt. Unsere „Penne“, die unser zweites Zuhause war, wurde einfach geschlossen. Als Grund wurden wohl angebliche sittliche Verfehlungen und Devisenvergehen vorgeschoben, was aber beides für Remagen nicht zutraf. Empörung, ja Wut machten sich breit. Die Schüler wurden in alle Winde zerstreut. Verschworene Klassengemeinschaften zerschlagen. Sofern die Schüler aus der Region stammten, wechselten sie auf die Gymnasien Ahrweiler und Linz, einige wenige gingen nach Andernach und Bonn. Das Inventar der Schule wurde verpackt, verkauft oder an eines der noch bestehenden Stammhäuser verschickt. Wochenlang half ich bei diesen Aktionen.

Gerne wäre ich damals mit den Maristenbrüdern nach Argentinien ausgewandert. Stattdes­sen meldete mich mein Vater an der Ernst-Moritz-Arndt-Oberschule für Jungen in Bonn an.

Meine Schulzeit auf der Maristenschule in Remagen ist aus der Rückschau für mich mehr als eine Episode. Ich betrachte sie – auch vor dem Hintergrund der Schulschließung – als eine prägende Zeit, in der ich viel Positives erfahren und gelernt habe, aber auch als Kind die Willkür und brutale Durchsetzungskraft des NS-Regimes – ohne diese zu verstehen – erlebt habe.