Lob der stillen Dinge:
Dorfbrunnen
von Peter Kremer
In unserem Dorfe fließt noch ein einziger Brunnen. Als ich dort Kind war, gab es in jeder Gasse einen, und mancher Bauernhof hatte dazu noch seinen eigenen Brunnen. Doch als dann kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Wasserleitung gebaut wurde, die das Wasser in jede Küche brachte, wurden sie alle bis auf einen verschüttet und zugemauert. Ich weiß es noch genau, welche Sorge ich in jener Zeit hatte, als man diese Brunnen tötete. Mir war, als ob man etwas Lebendiges eingemauert hätte, das nun auf elende Art ersticken müsse. Nachts fuhr ich schweißnaß aus dem Schlafe hoch. Ich hatte geträumt, das Wasser der gemordeten Brunnen fließe unterirdisch zusammen, bilde einen großen See, und dieser See habe das ganze Dorf unterspült; unser Dorf schwimme mit allen Häusern auf dem großen Wasser und müsse jeden Augenblick darin ersticken, daß bloß die Kirchturmspitze herausrage. Die vergewaltigten Brunnen nahmen nicht diese Rache; vielleicht fand ihre Wassserader unterirdisch den Weg zu jenem einen Brunnen, den der Gemeinderat weiter fließen ließ. Der „Kalte Born“ heißt dieser Brunnen, und schon der Name verrät die ganze Köstlichkeit seines Wassers. Wenn der Vater beim .Heumachen in der heißen Mittagsstunde vom Mähen oder im Hochsommer vom sonnenglühenden Kornfelde kam, durstig und ausgedörrt, dann stand ein Trunk vom „Kalten Born“ bereit. Schon wenn wir Kinder das Wasser heimtrugen, spürten wir seine Besonderheit. Wir hatten am Brunnen erst selber aus der hohlen Hand getrunken oder gar den Mund dicht am Ausfluß gehalten, auch dann, wenn wir keinen Durst hatten; dann ließen wir die Kanne vollaufen, und alsbald drang die Frische und Kühle dieses Wassers durch ihre Wand. Wir spürten es, wie die Hände kalt wurden, obgleich es keine wirkliche Kälte war, sondern eher eine erquickende Frische. Wer von diesem Wasser trinkt, dem ist es, als hätte der ganze Körper ein Bad genommen; es fließt durch den verschwitzten und ausgedörrten Leib wie ein stählerner Guß. Auch wenn man es mit ins Heu oder aufs Kornfeld nimmt und dort mit einem Krautbüschel oder einer Garbe zudeckt, behält es seine Kühle und seinen Geschmack bis zum Abend. Es ist, als laufe es im Erd-innern über eiskaltes Gestein oder über Silberadern. Davon hat es den kräftigen Geschmack, die Klarheit seines Strahles und die metallene Kühle.
Kein Wunder, daß auch nach dem Wasserleitungsbau alle Leute im Dorfe stolz waren auf diesen Brunnen, dessen Wasser sie weiterhin tranken, und das insbesondere auch den Bäuerinnen nach wie vor unentbehrlich blieb. Die Erbsen wurden nur in ihm gar; der Stockfiisch war nur richtig zubereitet, wenn er zuvor einige Tage im Wasser vom „Kalten Born“ aufgeweicht worden war; das Bauernbrot schmeckte nur, wenn der Teig mit keinem anderen Wasser angerührt wurde, und wo hätten die Mädchen anderswo waschen können, richtig auswaschen, begleitet von einem langen Schwatz oder dem Liebesdienst des Franz oder Peter beim Heimtragen der Körbe und des so reinen und duftenden Wassers? Ja, ja, der Brunnen hat schon manche gute Ehe vermittelt.
Dorfbrunnen in Aremberg
In meiner Jugendzeit war ein Dächlein über den „Kalten Born“ gespannt. Er hatte zwei Ausflußrohren und einen so großen Steintrog als Sammelbecken, daß man oft drei und vier Hinterteile gleichzeitig beim Wäscheschwenken sehen konnte, und ebensoviele Gäule konnten bequem ihren Pferdedurst stillen. Alle Pferde des Dorfes fanden von selbst den
Weg zu dieser Tränke. Es war wahrhaftig ein herrlicher Brunnen, und sein Wasser war so unvergleichlich wohlschmeckend, daß uns Dorfjungen ohne weiteres die Geschichte glaubhaft war, die uns die Alten manchmal berichteten. Sie wußten von einem ihrer Schulkameraden zu erzählen, der hatte den Krieg siebzig mitgekämpft, und da hätten die Soldaten einmal in einem französischen Schloß nach einem kampfheißen Augusttag edelste französische Weine getrunken; aber er hätte sie alle gerne hergegeben für einen einzigen Schluck Wasser aus dem „Kalten Born“. Das hätte er damals heimgeschrieben, und bald danach sei er vor Paris gefallen. Ach Gott, wir konnten es damals nicht ahnen, als die Alten uns Jungen dieses Geschichtlein beim rieselnden Wasserstrahl erzählten, daß wir später einmal die Sehnsucht nach einem Schluck aus dem Heimatbrunnen viel schmerzlicher und brennender erdulden müßten, ja, daß manchem von uns dieser Durst nie wieder gestillt werden könnte. Denn da wir dreißig und vierzig Jahre danach als Männer durch die Welt irrten, in Afrika verschmachteten, in Texas ausdörrten, Jahr um Jahr, als unsere Leiber und Seelen nach kühlem Wasser wie nach der Freiheit schrien, da hörten wir Tag und Nacht unseren Dorfbrunnen sein Lied murmeln, sein friedliches, ewiges Lied. Es war uns Sehnsucht und Trost. Es brachte uns Unruhe und Ruhe zugleich. Es klang hell wie der Tag und dunkel wie die Nacht. Es war Schrei und Gebet. Und dennoch konnte vielen von uns dieser Durst und das Heimweh nicht wieder gestillt werden, weil sie hinsterben mußten in jenen brunnenlosen Ländern. Vielleicht hätte sie ein einziger Trunk aus dem „Kalten Born“ des Heimatdorfes am Leben erhalten.
Ja, so war das mit unserem Brunnen; ich weiß, daß er heute noch fließt und — Gott gebe es — nach Jahrhunderten noch fließen wird. Viele Brunnen fließen im Heimatland, im Land der rieselnden Wasser. Wohl jedes Dorf hat seinen Born, und auch in mancher Stadt ist er noch zu sehen und zu hören und verleiht ihr ein Stückchen urtümlicher Dörflichkeit und Stille. Um jede überfließende Brunnenschale weht etwas von der Frische des ersten Schöpfungsmorgens. Oft sind es ganz schlichte Brunnen, fast Quellen nur, deren Rinnsal ein Stückchen in Holz oder Stein gefaßt ist und leise plätschernd rieselt. Ein andermal sind sie kunstvoll eingefaßt in Meilensteine oder schöne Obelisken und Säulen, stehen unter breitkronigen Lindenbäumen oder Kastanien und ergießen ihren Wasserstrahl in steinerne Becken. Seit Jahrhunderten rieseln sie, vielleicht sogar seit Jahrtausenden, solange hier Menschen wohnen. Ja, manche Dörfer und Städte tragen ihren Namen von diesem Born, also floß er schon, als der erste Siedler hier eine Heimat schuf. Hirtengesichter und Jägerbärte neigten sich über den silbernen Spiegel. Der alte Dorfbunnen gehört zu den ewigen Dingen, zu den unwandelbaren Wesen der Menschheit. Nie hört sein Strömen und Fließen auf. Immer spendet er, wie Gott, der auch ein strömender Brunnen ist, den niemand ausschöpfen kann. Seit lausenden von Jahren tränkt er Menschen und Tiere, und noch immer hat er Überfluß. Wenn er erzählen könnte! Doch vielleicht kann er es, bloß verstehen wir gehetzten Menschen seine Sprache nicht mehr. Dichter und Liebesleute können in sternhellen Nächten, wenn sie auf dem Beckenrand sitzen, das Lied des Brunnenmundes deuten, und wenn sie im Scherz oder Übermut den Wassermund mit der Hand eine Weile zuhalten, erschrecken sie vor der dunklen Stille, die sie plötzlich umhüllt, und sie ahnen es, daß aus dem Brunnenlied die Weltsehnsucht spricht. Auch die Kinder tun dies bisweilen in der Mittagsstunde, wenn sie mit nackten Füßen im Kump herumspringen; doch dann merkt man die Stille nicht, weil alle anderen Dinge laut reden. Tausend Schicksale kann er erzählen: von Feuer und Tod, von Krieg und Seuche, von Liebe und Untreue, von Mord und Versöhnung, von Abschied und Verzweiflung, von jedwedem Menschenleid und aller Menschennot. Die römischen Kohorten tranken vor zweitausend Jahren sein kühles Wasser; Hunnen und Normannen, Schweden, Zigeuner und Kosaken tränkten ihre Rosse in seinem Becken. Sie sind verweht, wie der Wasserstrahl manchmal versprüht, wenn ein Wind ihn packt; aber das Dorf ist geblieben, und die Menschenkette ist nicht abgerissen, wie des Brunnens Fluß nie aufgehört hat zu rinnen und zu laben. Der Brunnen läuft und rauscht und füllt Eimer und Krüge und Kinderhände; unaufhörlich füllt er sein steinernes Becken. Hat er nicht seit den ersten Tagen des Dorfes jedes Gesicht in seinem Spiegel geschaut? Er kennt sie alle, die Dorfleute, von Anbeginn her; ein jeder hat aus ihm getrunken, an ihm sich gelabt; einem jeden hat er klare Augen geschenkt und ein erfrischtes Herz. Und eines jeden Glück und Leid hat er miterlebt. Den frühesten Mäher hört er das Morgenlied pfeifen; der letzte Wagen läßt seinen Schatten auf ihn fallen, wenn schon der Mond in seinem Strahl und Plätschern spielt. Zu allem Geschehen rieselt er seine Melodie. Wie klingt das Brunnenlied anders, wenn er frisch und munter in den Morgen singt, wenn er schläfrig in die Mittagsstille murmelt, wenn er silbern die Nacht belebt! Und wie anders klingt es jedesmal, wenn ein Hochzeitszug an ihm vorüberjubelt, wenn ein Bauer im letzten Dorfgeleit an ihm vorbei zum Gottesacker getragen wird. An allem nimmt der alte Brunnen Anteil. Er verknüpft die Geschlechterreihen, er verknüpft das Leben mit der Ewigkeit. Darum fand ich es so schön und sinnig, als ich eines Tages einen Dorfbrunnen sah, der von allen Kriegen die Namen der Toten trug, jene unvergessen machte, die aus der Dorfgemeinschaft das Opfer ihres Lebens bringen mußten und kein Grab auf dem heimischen Gottesacker fanden, die ihr Blut verrinnen ließen gleich dem Born, der aus der Ewigkeit quillt und wieder in die Ewigkeit mündet.
Denn hier sind diese verlorenen Toten gleich dem immer rieselnden Quell mitten unter den Lebenden. Da spielen die Kinder um sie herum, da scherzen und lachen die Mädchen, da schäkern die Burschen, da plaudern die Alten, da trinken und wiehern die Pferde, da hält der Schäfer mit seiner Herde, da stärkt sich der fremde Wanderer und ruht eine Weile, da fließt die reine Kraft der Heimat aus dem Schoß der Mutter Erde, und in den Nächten sind hier die Geister der Ahnen versammelt, die Manen des Dorfes, und ihre Sprache tönt aus dem murmelnden Brunnen wie uralter Opfergesang, wie nie verklingendes Leben:
„Bin nur ein Tropfen aus deinem Strahl,
Silbern fließender Bronnen,
Glänze auf im Licht einmal.
Bin dann schon verronnen.
Doch dein Fluß wird nicht vergehn;
Volk besteht, kann nie verwehn,
Rauschender, rieselnder Brunnen.“