Knabentage unterm Sommerhimmel

VON JOSEF RULAND

Bis heute bedaure ich zutiefst den Verlust an einmaliger, nie wiederbringbarer Jugendzeit, den wir Neuenahrer Schulkinder des dritten und vierten Schuljahres in den schönen Sommermonaten nachmittags in der Schule erlitten. Als ob der Vormittag nicht genügt hätte, hieß es mindestens zweimal wöchentlich nachmittags in die Schule zu wandern. Im Winter konnte das ganz gemütlich sein, sofern nicht irgendeiner etwas ausgefressen hatte, aber im Sommer, wenn eine fast unbekannte, weiche Luft durchs Alirtal wehte, wenn die Klänge des Kurorchesters in den Nachmittagen bis zur Schule drangen, dann konnte es unerträglich werden. Im letzten Jahre hatten wir in dieser Zeit Schönschreiben, woran man ersehen mag, daß wir in einer Zeit groß wurden, die noch nichts um Graphologie und Psychologie gab, dafür aber viel von einer lesbaren Handschrift hielt. Herr Kratz, bei dem wir lange Zeit Schönschreiben hatten, hielt besonders viel davon, Ly 7 hieß das eine Zauberwort, Heintze & Blankertz S das andere. Herrn Kratz war es gleich, welche Marke wir wählten, wenn wir nur schön gleichmäßig und zart schrieben. „Du Franz, gleich gibts Krieg“, hieß es im anderen Falle, und da in diesem Kriege ohnehin mit ungleichen Waffen gekämpft wurde, — denn was hatten wir anders entgegenzusetzen als die Tränen des Wehrlosen —, zogen wir lieber vor zu folgen. Tief beugten wir unsere Köpfe über die Hefte, stets gewärtig, von Herrn Kratz, der unruhig durch die Reihen ging, angefahren zu werden. Nur widerwillig gehorchten die spitzen Federn den festen Knabenhänden, um dann, besonders bei aufwärtsführenden Strichen, sich plötzlich zu spreizen und herrliche kleine Tintenspritzer rings um ihre Spitze zu verteilen. Erschrocken hielten wir das Löschblatt über die Stelle, denn wenn Herr Kratz das sah, dann schlugs ein — und es schlug meistens ein.

Erst wenn diese Stunden zu Ende waren, konnten wir unbeschwert in den Sommertag hinauslaufen, der uns das Ahrtal in den schönsten Farben zeigte. Meist war es der Fluß, der uns anzog und lockte, der im Sommer oft als kleines Rinnsal dahinzog, um nach einem starken Regenguß bedrohlich anzuschwellen. Leidenschaftlich betätigten wir uns als Fischer und Angler, wobei unsere Jagdwaffen sehr gefährlich aussehen konnten. Z. B. wurde auf einen starken und biegsamen Stock eine mit geraden Zinken versehene Küchengabel aufgesetzt, mit der wir atn Ufer, tief ins Gras geduckt, die Fische so lange mit den Augen verfolgten, bis ein gezielter Stoß möglich war. Andere Kameraden hatten an eine Weidengerte oben eine Schlinge aus weißem, dünnem Draht angebracht, die sie ruhig, ganz ruhig durch das Wasser führten, bis der Leib des nichts-ahnenden Fisches in der Schlinge stand. Dann erfolgte ein knapper Ruck, und im jähen Schnellen der Gerte fiel der Fisch an Land, wo er sogleich mit fachmännischem Schlag getötet wurde.

Ach wie gerne fielen wir auf die frühe Kulturstufe des Wildbeutertums zurück! Gab es etwas Schöneres als die Befreiung von den Segnungen der Zivilisation? Unter der Idyllenhöhe stand im Sommer gewöhnlich ein tiefer Tümpel vor dem Wehr. Lange hatte ich in der Klasse darum geworben, bis wir eines Mittags — wir hatten kein Schönschreiben — den uns weit erscheinenden Marsch dorthin antraten. Hinaus ging es über die Landgrafenbrücke, am Sportplatz vorbei, die Baracken links liegen lassend, bis wir endlich in das Gebiet der Weidenbüsche und Tümpel vorgedrungen waren, wo wir uns mit wenigen Griffen auszogen, um dann „nackich“, wie wir sagten, behutsam in den Tümpel hineinzugleiten. Der entstehenden Gefahren waren wir uns nicht bewußt. Daß Spaziergänger uns hätten beobachten können, daran hatten wir wohl gedacht, aber da diese lieber den Weg auf der anderen Flußseite zur Idyllenhöhe hinauf benutzten, bestand diese Möglichkeit nicht. Selig plantschten und sprudelten wir in dem lauwarmen Wasser herum, das nicht gerade sauber war, uns aber ein Schwimmbad ersetzte. Wir übten, wer am längsten tauchen könnte, versuchten nach vereinzelten Fischen zu greifen und erfüllten die kleine Bucht unter dem Berge mit Lärm und Geschrei. Plötzlich bogen sich am jenseitigen Ufer die Büsche vorsichtig auseinander, und ein Bauersmann aus Heimersheim, der dort wohl gemäht und Heu gemacht haben mochte, spähte zu uns herunter. Als er sah, in welch paradiesischer Kleidung wir uns da bewegten, rief er: „Waat, ihr Söul“ Wie die Ottern liefen und hechteten wir an Land, griffen unsere Kleider und verzogen uns hinter einen schützenden grünen Vorhang. Dort lachten und kicherten wir noch, aber dennoch war es, als habe dieser barsche Ruf uns mit einem Male aus dem Paradies vertrieben, denn auch wir erkannten plötzlich, daß wir nackt waren. Ich muß jetzt, nach fast vierzig Jahren, gestehen, daß wir uns auf einmal schämten, ein Gefühl in uns Platz griff, welches wir vorher nicht gekannt hatten. Seitdem sind wir nicht mehr ohne Badehose baden gegangen.

Übrigens hatten unsere Väter in diesem Tümpel vor dem Wehr unter der Idyllenhöhe auch schon Schwimm- und Badegelüstcn gehuldigt, zeigt mir doch noch heute eine Photographie in einem verblichenen Album neben meinem Vater mit schwarzem Schnurrbart — von uns „Schnörres“ genannt — andere ehrenwerte Neucnahrer Bürger in einem Badeanzug, der wegen seiner Ringelmuster heute wieder ganz modern wäre, an eben diesem Badeplatz. Die Hochgürtelsche Badeanstalt in Hemmessen, wohin wir in späteren Jahren an heißen Sommer-nachmittagen zogen, stellte, so besehen, doch schon einen sprunghaften Anstieg in der zivilisa-torischen Entwicklung dar. Allerdings mußte man dort Eintritt bezahlen, 10 Pfennige, wenn ich mich nicht täusche, was sicherlich nicht jeder Familie in der damaligen Zeit leicht fiel. Schön war es festzustellen, daß wir gegen Abend — denn ein solch teuer erkaufter Nachmittag wurde ganz ausgekostet — immer in Gruppen nach Hause zogen. Wir Beuler liefen in der Regel über den „Katzenbuckel“ und von dort durch den Kurpark. Meist saß nämlich der Vater eines Freundes als Kontrolleur an der Kasse, und da es ohnehin kurz vor Besuchszeitende war, durften wir durch den Park zu den oberen Kolonnaden hin den Heimweg abkürzen. Auf heimischem Boden bekamen wir wieder mehr Mut, und oft sangen wir lauthals. Unter dem Liedgut war ein Lied, das nicht gerade schön oder melodisch gewesen ist, unserer Seelenlage aber angemessen schien: „Mier senn alles Beuler Junge, Wer jett well, da kannjo komme, Mier han Kurasch, mier han Kurasch, Onn wenn me keine Knöppel han, dann halle mer de Kaasch.“

Ganz Vorlaute pflegten die letzte Zeile sehr derb abzuwandeln, nämlich: „ . .. dann tredde mer se en de A . ..“. Der Leser wird verstehen können, daß dieser Ton durchaus nicht in den Kurgarten paßte, und die feinen Damen und Herren, die dort spazieren gingen, mögen wohl oft den Kopf geschüttelt haben. Wenn wir Kinder uns auch in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg befanden, irgendwie atmete das Neuenahr der zwanziger Jahre in seinem Kurpark, in den Hotels und in den Besuchern, aus Holland vor allem, noch Kaiserzeitatmosphäre, fin de siecle-Stimmung. Kaiserin-Augusta-Park, Augustahöhe, Viktoriaquelle — alles Bezeichnungen, die noch jederzeit an die Hohenzollern und ihre englische Verwandtschaft erinnerten.

Da trugen die Portiers der einzelnen großen Hotels noch ihre stolze Berufskleidung, und vor allem die einheitlich gekleideten Hausdiener der Hotels, die am Bahnhof stets zur Ankunft der Remagener Züge warteten, zeigten sie. Die flachen Schirmmützen, deren Bänder in goldgestickten Buchstaben die Herkunft verrieten — Hotel Anker, Hof von Holland, Hotel Astoria, Hotel Stern —, die stets sauber gewaschenen und gestärkten grünen Schürzen, über dem Gesäß mit einer kleinen Kette gehalten, dazu die kragenlose dunkle Jacke, auf dem Rücken aus schwarzem Futterstoff“ bestehend, zeigten dem Ankömmling stets, daß er in Neuenahr in ein Weltbad kam, das auf sich hielt. Ab und zu versuchten wir Knirpse auch schon einmal mit Koffertragen einen Groschen zu verdienen, aber die Konkurrenz war stärker, geschlossener. Höhepunkte, nach außen hin wenigstens, bot das jährliche Feuerwerk, das meist um Pfingsten herum stattfand, zur Zeit der großen Autokonkurrenzen, der Windhundrennen und was Neuenahr an Exklusivitäten herweisen konnte. Es war einer der wenigen Tage im Jahr, wo wir Kinder nach dem Abendessen noch einmal auf die Straße durften. Vor dem Barocksaal, in der Gegend des heutigen Kasinos, auf dem damaligen Tennisplatz am Walburgis-Stift standen die hölzernen Gerüste, von Feuerwerkern kunstvoll aufgerichtet. Bei Einbruch der Dunkelheit begann das großartige Schauspiel. Mit Donnerschlägen, Feuerregen, Feuerschlangen und bengalischem Licht wurde es eingeleitet, bevor es sich zu den Höhepunkten steigerte, etwa dem Teufelsrad, das sich immer schneller, immer schneller drehte und dessen feuriger Schweif immer größer wurde, bis die letzten Funken regelrecht zur Erde tropften. Wir Kinder, das war eigentlich eine Art Privilegium, warteten auf unsere Nummer: Max und Moritz auf der Schaukel. Wenn die beiden Figuren, mit langen Feuerwerkskörpern regelrecht aus dem Busch‘-schen Buch abgezeichnet, ihr Auf und Nieder auf der Schaukel begannen, dann kannte unsere Freude keine Grenzen. Leider bedeutete diese Figur meist auch den Abschluß, und während die Erwachsenen dann irgendwo noch ein Glas Wein oder Bier zum Ausklang des Tages genossen, hieß unsere Parole: Marsch, nu aber ins Bett. Am anderen Morgen schössen wir schon früh los, um irgendwo vielleicht nur halb abgebrannte Körper zu finden, die dann in heimlichen Ecken angezündet wurden. Mit Feuer hatten wir es stets gerne zu tun. Einmal hatten wir uns oben am Hüpe-Pfädchen, unterhalb der Augustahöhe, ein regelrechtes Lager gemacht, in das wir Tag um Tag hineingingen, dort einen Ofen bauten und mit Erlaubnis des Besitzers in diesen Tagen auch unser Essen kochten. War das eine selige Zeit! Nur mit Badehosen bekleidet, liefen wir dort herum, suchten unter den Bäumen unser Brennholz, kochten Maggi-Suppen und Kartoffeln, brieten und köchelten unablässig, indes andere als Indianertrupps ständig auf Beute unterwegs waren. Ich begreife heute noch nicht, daß unsere Eltern, die überall, wie mir schien, ein strenges Regiment führten, diese Absonderung überhaupt duldeten.

Ganz Beul war in dieses Nomadenleben, so wenigstens dünkte es uns, einbezogen. Überall tauchten wir auf. Einmal führte uns der Beutezug auf die Ecke Hochstraße/Maria-Hilf-Kloster, wo sich damals noch auf dem erhöhten Wiesenrain Obstplantagen und darüber, entlang der neuen Straße nach Königsfeld, noch Weinberge befanden, letzte Zeichen dessen, daß auch Beul einmal ein Winzerdorf gewesen ist. Leider lag die Obstplantage, die sich neben dem auf der Hochstraße stehenden Sanatorium befand, geschützt und gesichert hinter einem hohen Maschendrahtzaun. Dahinter aber lockten wunderbare Äpfel, viel größer als die üblichen kleinen Äpfel, die es überall gab. Zunächst beobachteten wir das Gelände, dann schlichen wir näher und kamen zum Zaun. Der Stärkste blieb unten stehen und bildete mit den Händen eine Art Steigbügel, in den die anderen hineintraten, um dann Masche für Masche den Zaun zu erklimmen. Im Nu waren wir unser drei drüben und gingen in dem Glauben, niemand habe uns beobachtet, in die einzelnen Baumreihen, um uns die schönsten Äpfel zu suchen. Auf einmal hörten wir es oberhalb zwischen den halbhohen Bäumen brechen und stampfen. Ehe wir noch recht begriffen hatten, was auf uns zukam, tönte es von dort: „Maat er, dat er da erous kutt“. Einen Augenblick nur standen wir von Angst versteinert, dann liefen, nein, preschten wir durch die Bäume davon. Es muß ausgesehen haben wie auf einer fürstlichen Treibjagd, bei welcher das Wild in große Netze hineingetrieben wurde und immer wieder in seiner Angst versuchte, die Netze zu überspringen. Uns glückte gottlob der rasche Überstieg, und dann stoben wir in alle Windrichtungen davon. Das Herz klopfte bis zum Halse, und wieder und wieder sah ich mich auf der Flucht um, ob jemand, mich verfolge.

Nach einigen Stunden erst trafen wir uns wieder, Steinborns-Menn, Pfeifers-Günther und wie die Spießgesellen bei diesem Abenteuer hießen. Jetzt noch die Furcht im Nacken, ließen wir uns am erloschenen Feuer nieder und erzählten uns das Erlebnis, das in unserer Rückschau geradezu großartige Züge annahm. Nie sind wir dahinter gekommen, wer uns entdeckte und verjagte. Doch die Ängste bei derlei Unternehmen waren nicht zu vergleichen mit dem Schauder, der uns bei einem anderen Erlebnis erfaßte. Jeder ältere Neuenahrer schmunzelt, wenn er den Namen „Kirchenpfädchen“ hört, die Bezeichnung jener kurzen Verbindung, die von der Ortsmitte Deul zur alten Kirche hinaufführt, unten bei Heils von der Mittelstraße abzweigend, dann an Sahrs, Jeubs vorbei, zwischen und hinter Gärten unmittelbar auf den nördlichen Eingang des Friedhofs führend. Die Beulcr benutzten den kleinen Weg gern zum Besuch des Friedhofs und zum Besuch der sonntäglichen Messe in der „ahl Kirch“, wo gewöhnlich Kaplan Kirschwcng predigte und Bäckermeister Ulrich die Orgel spielte. Welche Szenen, wenn Wintertags das von Rinnen und Löchern durchzogene Pfadch.cn plötzlich verreist war, wenn die Frauen, um nicht im herbstlichen Schmutz zu versinken, die Röcke ängstlich rafften! Jeder wird verstehen, daß dieser Pfad, der oben auf der Schweizerstraße mündete, zum Leben des Ortsteils Beul ebenso hinzugehörte wie etwa der Weg zum Walburgisstift, „dat Kodiejäßche“ oder „dat Jängelche“, welches zwischen den Häusern Bccker und Steinborn hindurch zu den rückwärts liegenden Häusern führte. In diesem Gebiet liefen und hüpften wir mindestens einmal am Tage herum, kürzten den Heimweg durch die Gärten ab, rutschten vor dem Treppenaufgang zur alten Kirche das Geländer hinunter und stellten immer wieder mit Erstaunen bei jedem Blick von der Schweizerstraße auf Neuenahr fest, wie groß doch unser Ort sei, noch „jrüter als Ahrtveiler“. In Beul wohnte damals ein Händler, der Name sei aus guten Gründen verschwiegen, der einen kleinen Gemüsehandel betrieb, ein etwas sonderlicher Mann, dem eines Tages seine verhältnismäßig junge Frau starb. Nicht lange währte es, dalief das Gerücht um, eben der Mann behaupte, seine Frau sei nicht  natürlichen Todes gestorben. Weil wir aber noch zu jung waren, um den Ernst dieser Dinge zu ermessen, hatten wir nicht recht darauf gehört, nur bemerkten wir, daß die Frauen manchmal auf der Ecke stehen blieben und sich gedämpften Tones unterhielten, wobei wir mehrfach den Namen der Familie hörten. Wir genossen statt dessen das beginnende Frühjahr, da die Wasser überall tropften und gluckerten und in den Kanalschächten rauschten. Pa trieb uns in diesen Tagen wieder einmal der Weg durch das Kirchenpfädchen zur Schweizer Straße hoch, und weil wir gerade die Friedhofspforte offen fanden, traten wir ein. Aber schon nach wenigen Schritten stutzten wir, sahen mißtrauisch auf die drei, vier dunkel gekleideten Herren, die nicht weit entfernt vor einem geöffneten Grab standen, und traten näher.

Foto: Kreisbildstelle 
Willibrorduskirche in Bad Neuenahr

Es war keine Beerdigung, das wußten wir. Langsam näherten wir uns über einen Parallelweg und standen kurz danach dicht hinter den Herren, die uns entweder nicht bemerkt hatten oder unsere Anwesenheit als selbstverständlich hinnahmen. Bald wußten wir, was sie wollten, denn mit einem Male starrten wir zwischen den Beinen und Körpern der Dunkelgekleideten in den geöffneten Sarg, in dem wir gerade das schon der Verwesung preisgegebene Haupt der jungen Frau wahrnehmen konnten. Ein erschreckender Anblick! Der Ehemann stand scharf beobachtend wenige Meter davon entfernt und sah nicht zu uns herüber. Die Neugier wollte siegen, aber dann trieb uns die Furcht. Wie auf ein geheimes Zeichen machten wir kehrt und liefen davon. Niemand verfolgte uns diesmal, niemand schrie uns etwas nach, dafür jagte uns das Grauen um so unerbittlicher. Es ist seltsam, daß wir niemals etwas davon erzählten, wo wir uns doch sonst mit unseren Erlebnissen gern brüsteten. Noch jetzt, nach Jahrzehnten, weiß ich nicht, ob dieser Gang zum Friedhof im Gedächtnis der Freunde geblieben ist. Wir haben zwar nicht hierüber gesprochen, aber ich darf es annehmen, denn eine solche Begegnung vergißt man nicht. Jedesmal, wenn ich auf den Neuenahrer Friedhof komme, auf dessen Kreuzen und Grabstellen immer mehr bekannte Namen zu finden sind, dann sehe ich uns kleine Burschen unten von der Schweizerstraße hereinkommen und bis zur Höhe des Chores vordringen, dort wenige, aber erlebnisschwere Minuten verharren und dann zur anderen Seite, zur großen Freitreppe hin wegeilen. Natürlich war das nicht das einzige Mal, daß uns der Tod begegnete, aber hier geschah es eindringlich, ja grauenhaft. Gewöhnlich erfuhren wir vom Tode und Sterben durch die Sprache der Glocken, die uns von der Kirche her eine Beerdigung meldeten, und erfuhren wir ein gleiches noch durch den Trupp Mädchen, der nach der Beerdigung laut den Rosenkranz betend von der alten Kirche nach der neuen zog. Durch all den Verkehr hindurch, durch das mitunter, wie bereits geschildert, fast mondän wirkende Neuenahr der Kurgäste aus aller Welt, bewegte sich dieser Trupp, meist waren es sieben Mädchen, unbeirrt, vorbei am Willibrordis-Denkmal und am Klarissen-Kloster, das gegenüber stand, über die Ahrbrücke durch die Telegrafenstraße zur neuen Kirche. Natürlich blickten die Fremden erstaunt auf, doch ließen sie’s gelten. In den Sommer fiel die Fronleichnamsprozession, die damals in Neuenahr mit großem Gepränge gefeiert wurde. Noch am Nachmittag vorher wurden wir Schüler losgejagt, Laub für die Altäre zu besorgen, vor allem aber Blumen. Davon konnte es nie genug geben, und wir mußten hinaus auf die Wiesen am Hüpe-Pfädchen, Blüten raffen, Mohn, Margeriten, Kamillen, was gerade blühte, um die Körbchen der Streu-Mädchen nur ja füllen zu können. Die Kastanien blühten manchmal zu dieser Zeit, der Rotdorn in der Telegrafenstraße — wahrhaftig, Neuenahr zeigte sich von der besten Seite. Man sah es dem vornehmen Ort dann an, daß einst die Jesuiten von Münstereifel großen Besitz hier gehabt hatten und noch haben, denn man verstand es, mit fast süddeutschem Gepränge die Prozession zu feiern. Kein Wunder, daß ein Gottfried Kinkel, ein Wolfgang Müller im Ahrtal so eine Art Hochburg der Gegenreformation, des Katholizismus oder mindestens des altfränkischen Geistes erblicken wollten. Das war zu unserer Zeit nun ganz und gar nicht so, aber — Fronleichnam wurde gefeiert, das verlangte allein schon die etwas gespannte Nachbarschaft zur Kreisstadt Ahrweiler, der man in diesen Tagen gerne Paroli geboten hätte. In der Sakristei der Rosenkranz-Kirche herrschte an diesem Tag Gedränge, denn alle Meßdiener mußten mit. Weil aber nicht genügend große und kleine Röckel vorhanden waren, außerdem auch wegen des Festranges Rot bevorzugt war, wurden wir Kleinen auf das allsonntäglichc Grün verwiesen, das wir nur mürrisch trugen. Ich vollends hatte es ganz übel erwischt, denn ich hatte ein Röckel an, das fast den Boden berührte, unter dem ich gedrungenes, eher kugelrundes als schlankes Meßdienerlein fast verschwand. Der Anblick muß dann auch kc-misch gewirkt haben, wie ich mit aufsteigenden Tränen der Wut feststellte, denn Kaplan Kirsch-weng konnte, als er mich sah, ein Lächeln nicht verkneifen, und sogar Pastor Lehnen, den sonst diese Dinge nicht berührten, dem sie mitunter gar ärgerlich waren, hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. „Du wirst heute mein Melder“, sagte er, um mir die Freude des Tages nicht zu nehmen, und so hätte ich denn die Ehre, an diesem Fronleichnamstage, als eine Art Meldegänger zugauf und zugab zu eilen, damit die vereinbarten Zeitspannen eingehalten würden. Böllerschüsse verkündeten den Segen an den Altären, etwa am Klarissenkloster, an der Kapelle gegenüber vom Bürgermeisteramt und an der alten Kapelle von Hemmessen, und ich muß sagen, es schmeichelte mir nicht wenig, eine Vorrangstellung zu genießen, derentwillen die anderen Meßdiener mich gewiß beneideten. Man möge nun bitte nicht daraus schließen, wir seien übermäßig fromm gewesen. Das war ganz und gar nicht der Fall, im Gegenteil, hin und wieder zeigten wir Züge der Grausamkeit, die eigentlich nach dem Eindringen der christlichen Lehre aus unseren Gemütern hätten gewichen sein müssen. So jagten wir z. B. unbekümmert streunende Katzen, Spatzen und andere Vögel, und besonders in dem Ahrabschnitt zwischen „Bröckelche“ und „Landjeravebröck“ wurden immer wieder Vogelnester in den Bäumen ausgehoben, deren Plätze wir natürlich genau kannten, bis Rektor Weber uns einmal deswegen eine donnernde Philippika hielt, die er mit gezielten Backpfeifen schloß. Wie brannten unsere Backen! Noch nach Stunden sah man die Zeichnung der Finger auf unserer Haut, obgleich wir in den Pausen mit Wasser kühlten, denn wenn die Eltern das erfuhren, setzte es zu Hause wieder „Aska mit Schuhnägel“. Aber selbst in der Kirche waren wir nicht allzeit die Braven, die wir nach den Vorhaltungen der Erwachsenen zumindest hätten sein müssen. Zum Beispiel huldigten wir damals alle einem Sammeleifer, der sicher noch aus Urtricben her gespeist wurde. Gesammelt wurden Hefte, z. B. „Schwan im Blauband“, die Zeitschrift einer Margarine-Firma, ferner Greiling-Bildchen, die den Greiling-Zigaretten beilagen, oder Erdal-Bilder, womit sich die Firma Erdal einen erhöhten Verbrauch an Schuhwichse versprach. Stundenlang konnten wir ordnen, vergleichen oder „tausche“. Wer mehrere Male das gleiche Bild besaß, versuchte es gegen ein fehlendes umzutauschen. Sogar vor dem Gottesdienst in den Kirchenbänken wurde getauscht. Ob es „Ullrichs-Gottfried“ war oder „Lücks-Klaus“, irgendeiner von den „Woedemrn“  war es, der eines Tages einen ganzen Stapel Bildchen aus der Tasche zog, die er uns, vorne in der ersten Bank vor dem Altar sitzend, zeigte. Eifersüchtig prüften wir den Bestand, indes unser Flüstern lauter und lauter wurde und endlich gar zu einem deutlich hörbaren Gemurmel anschwoll. Dabei hatten wir gar nicht Herrn Lehrer Weyer beachtet, der in der Lehrerbank hinter uns Platz genommen hatte. Plötzlich, ehe wir es recht bemerkten, stand er hinter uns und klatsch, klatsch, hätten wir alle die wohlverdiente Ohrfeige weg. Die Bildchen, eben noch schön geordnet, flogen hoch und flatterten in den Mittelgang zwischen die Bänke, wo sie während der ganzen Messe liegen bleiben mußten, wie uns Herr Weyer mit Blicken zu verstehen gab. Ich weiß nicht, ob der eifrige Sammler nachher alle Bilder zurück erhalten hat, denn zwischen „mein“ und „dein“ zu unterscheiden fiel uns nicht immer leicht.

Wenn ich es recht überdenke, so genossen wir alle unsere Knabentage von ganzem Herzen. Wir hatcn es nicht eilig, älter und alt zu werden, wir ahnten die geheimen Zusammenhänge, die zwischen der Jugend und dem goldenen Zeitalter der Menschheit bestehen müssen. Die Sommer erschienen uns, mochte es noch so regnen, wie ein großer blauer Himmel, dessen Enden, das hatten wir in der Schule gelernt, nie ein Mensch gesehen hatte. Vielleicht daß ab und an einmal eine rosa Wolke in bizarren Formen an diesem Himmel einhersegelte. Die Regentage zählten wir gar nicht. Sie waren nicht einmal so langweilig, denn Gott sei Dank ließen die Menschen damals ihre Kinder noch richtig spielen, und das Wort Lärmbelästigung war noch nicht bekannt. Aber so ein richtiger Sommertag an der Ahr, wenn die Kuppen der Oberahrberge aus lasiertem Blau zu sein schienen oder die Landskron hinter einem Schleier zu uns herübergrüßte, der hob uns innerlich hoch, versetzte uns in einen Rausch, daß die Backen glühten und die Augen funkelten. Eine solche Zeit war es, als wir hörten, der Zeppelin komme heute das Rheintal herab, und wenn wir Neuenahrer aufpaßten, dann könnten wir ihn über Remagen sehen. Das muß 1928 oder 1929 gewesen sein. Wir hatten zum Glück Ferien, der freie Nachmittag war also gesichert, wenn nicht gerade häusliche Pflichten, wie etwa Briketts einräumen oder andere zum größten Zorn auffordernde Arbeiten drohten. Wir waren nach dem Essen verschwunden, hinein-getaucht in den östlichen Ortsbereich, wo es noch Felder gab, stille Hecken und wunderbare Spielbereiche. Dann hob plötzlich ein leichtes Summen an, eine Hummel mußte uns umkreisen. Aber es war keine Hummel, nichts war zu sehen. „Dat es de Zeppelin“, rief Diederichs-Heini, und schon jagte er los. Über die Felder hinweg ging es, bis wir eine Stelle fanden, wo wir den Himmel über dem Rhein beobachten konnten. Und siehe da, eine große, matt silberglänzende Zigarre schob sich über den Sommerhimmel, ganz langsam, als verfolge sie ängstlich die Windungen des Rheins. Immer lauter drang das Motorengeräusch zu uns her und ließ sogleich aber wieder nach. Wir liefen, so als entfliehe das große Luftschiff nicht hinter der Landskron, sondern um die nächste Hausecke. Aber unerbittlich verschwand das Schiff in den blauen Sommerhimmel, dahinziehend wie eine Wolke, und wir liefen dahinter her, bis uns der Atem fehlte.