Johannes Brahms im Ahrtal
Eine Erzählung von Walther Ottendorff-Simrock
Brahms an den Geiger Joachim, 22. September 1853: „Herzlieber Freund! Denke Dir, ich streife noch immer in den herrlichen Tälern des Rheins herum. Frau Deichmann hat den glücklichen Ein-fall gehabt, ihre drei Söhne möchten noch eine Tour ins Ahrtal und zum Laacher See machen; den noch besseren hatte sie, mich zu ihrem Führer zu erkiesen. Da haben wir denn schon das Ahrtal, das schönste am ganzen Rhein, bereist . . .“
Es war Anfang September 1853, als der zwanzigjährige Johannes Brahms sich aufmachte, um einigen Leipziger Musikverlegern seine ersten Kompositionen anzubieten. Vorher aber reiste er an den Rhein, wo er das Urteil des Altmeisters der Romantik, Robert Schumann, der damals als Musikdirektor in Düsseldorf wirkte, einholen wollte. Die musikliebende Kölner Familie Deichmann, die in der Mehlemer Aue gegenüber Königswinter einen schönen Landsitz besaß, nahm den jungen Tondichter mit offenen Armen auf. Hier kam er mit manchen Persönlichkeiten des rheinischen Musiklebens in Verbindung. Es waren u. a. der Bonner Musikdirektor und Schumann-Biograph Wilhelm Wasielewski und Franz Wüllner, die Cellisten Breuer und Reiners, die Sängerinnen Sophie Schloß und Elisabeth Hartmann, mit denen er damals Bekanntschaft machte und Freundschaftsbande knüpfte.
Die fast noch knabenhafte Erscheinung des blondhaarigen und blauäugigen Norddeutschen und sein frisches und ungezwungenes Wesen gefielen Gastgebern wie Gästen gleich gut. Seine hohe Stirn und der energische Mund zeugten von Geistesklarheit und Willenskraft. Das war nicht mehr der armselige, scheue Jüngling aus dem Hamburger Gängeviertel, der mit dem Vater zusammen in Matrosenkneipen „Musik machte“, dem Schumann noch vor drei Jahren die eingeschickten Manuskripte uneröffnet zurückgesandt hatte. Inzwischen war Joachim, der berühmte Geiger, sein Freund geworden, und kein geringerer als Liszt hatte ihn Anfang 1853 in Weimar freundlich aufgenommen und seine Klavierschöpfungen gespielt.
Diese Hamburger Frühwerke, zwei Sonaten, ein Scherzo und einige Lieder, trug er nun auch im Haute Deichmann vor und gewann sogleich die Herzen der Zuhörer. Und welche Bereicherung seiner musikalischen Welt sollte ihm selbst am Rhein zuteil werden!
Unter den Schätzen des Mehlemer Hauses befanden sich Schumanns Werke. Sie erschlossen dem staunenden jungen Musiker die Wunder der Schumannschen Symphonien und Kammermusikwerke, Klavierschöpfungen und Lieder. Vor dieser bezaubernd reichen Welt versank das eigentliche Reiseziel: die graue Buchhändlerstadt Leipzig, schwanden aber auch alle inneren Hemmungen und Bedenken, die dem blonden Dithmarschen das Leben sonst so schwer machten. Schumann und kein anderer war berufen, darüber zu urteilen, ob seine eigenen Schöpfungen lebenswert seien, ob er selbst zum Musiker berufen sein würde oder nicht.
Bevor es aber zu dieser schicksalhaften Begegnung mit dem großen Meister der Romantik kommt, erklingt in der Lebenssymphonie des jungen Brahms das reizvolle Intermezzo der Fahrt ins Ahrtal. Wir sehen ihn mit den drei Deichmannsöhnen, deren rheinische Munterkeit dem so viel ernsteren Norddeutschen immer wieder ein Lächeln entlockt, an dem rauschenden Flüßchen entlang talaufwärts pilgern. Das Dörfchen Beul — heute ein Stadtteil von Bad Neuenahr —, über dessen Fachwerkhäusern als ehrwürdige Zeugin der Vergangenheit die neunhundertjährige St. Willibrorduskirche thront, barg bereits die Erinnerung an einen anderen musikalischen Genius in sich: Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der junge Beethoven hier unbeschwerte Sommerwochen mit der befreundeten Bonner Familie von Breuning verbracht und an Eleonores Seite das heimliche Tal durchwandert.
Der jugendliche Johannes Brahms nach einer Zeichnung um 1850
Privatarchiv Dr. Ottendorff-Simrock, Bad Neuenahr
So zieht nun Johannes Brahms auf Beethovens Pfaden dahin. Durch Alt-Ahrweilers trauliche Gassen führt ihn der Weg nach Walporzheim und an dem uralten Weinhaus St. Peter vorüber in die Felsenenge des romantischen Tals. Hier labte sich die trocken gewordene Zunge am rubinroten „Walporzheimer Himmelchen“, und ein wenig später erfreuten sich die Augen an den tausend Herrlichkeiten der Ahrlandschaft. Vor allem waren es die wunderlich geformten Felsen, die Bunte Kuh und der Kaiserstuhl, die den Schritt des Wanderers verhalten lassen. Noch brennt die Septembersonne heiß in das enge Tal und kocht die blauen Burgundertrauben zu süßer Reife. Da tut es gut, in der Rebenlaube der gastlichen Lochmühle auszuruhen, zu träumen und zu sinnen. Wir dürfen glauben, daß in solcher Umgebung romantische Stimmungen das Herz ergriffen. — Da rollt die Postkutsche durch das vielgewundene Tal. Vom hohen Bock herab bläst der Postillon seine Weisen, daß es von den Felswänden widerhallt; fröhliche Studenten singen von Jugendzeit und Liebe, von Heimat und Vaterland.
So wurde die Ahrlandschaft dem jungen Brahms zum Erlebnis. Fünfzehn Jahre später, 1868, finden wir den unterdessen berühmt gewordenen Johannes Brahms wieder im Ahrtal. Diesmal ist er Gast des vor kurzem eingeweihten Heilbades Neuenahr. Die Kur- und Fremdenliste verzeichnet seinen Namen unter den Gästen, die in der Zeit vom 17. bis 23. Juli angekommen sind: „Johannes Brahms, Tonkünstler, Hamburg“, heißt es schlicht. — Doch wir eilen unserer Erzählung voraus. Noch schreiben wir das Jahr 1853. Am 30. September klopft Brahms an die Türe des Hauses von Robert und Klara Schumann in Düsseldorf. Der große, schon von Siechtum und Tod gezeichnete Meister hat ihn mit wahrer Ungeduld erwartet, denn Joachim hatte ihn den „berufenen Nachfolger Beethovens“ genannt. Nun steht ein frischer Jüngling, ein Zwanzigjähriger, vor Schumann. Auf dessen Bitte setzt er sich an das Klavier und beginnt seine C-Dur-Sonate zu spielen. Schon nach wenigen Takten unterbricht ihn Schumann: „Das muß Klara hören!“ Er holt seine Frau herbei: „Hier, liebe Klara, sollst du Musik hören, wie du sie noch nie gehört hast. Jetzt fangen Sie das Stück noch einmal an, junger Mann!“ Noch nie hat der bescheidene Norddeutsche so berufene, aber auch so begeisterte Zuhörer gehabt. Er muß bei Schumanns zu Tisch bleiben, und aus dem einen Tag werden Wochen ungetrübter Freude.
Brief von Johannes Brahms an den Musikverleger P. J. Simrock (Sept. 1860)
Privatarchiv Dr. Ottendorff-Simrock, Bad Neuenahr
Robert Schumann und seine hochbegabte Frau erfaßten intuitiv die Begnadung des Jünglings. Er nennt ihn in einem Brief einen jungen Adler, „der so plötzlich und unvermutet dahergeflogen“ kam. Noch mehr: Er schreibt an Breitkopf und Härtel in Leipzig und setzt sich mit seinem Namen dafür ein, daß das altberühmte Haus die Kompositionen des noch unbekannten Tondichters in Verlag nehme. Noch einmal greift Schumann zur Feder und veröffentlicht in der von ihm begründeten „Zeitschrift für Musik“ den Aufsalz „Neue Bahnen“. Darin kündigt er prophetisch Brahms als den kommenden Meister an. In begeisterten Worten stellt er ihn der musikalischen Öffentlichkeit vor und erweist ihm damit einen großen Dienst Er legt aber gleichzeitig eine schwere Verpflichtung auf die Schulter des Jünglings. Brahms erkennt den Hinweis sogleich, er wird die Worte nie vergessen: „Ich dachte, es würde und müsse einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern wie Minerva gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte der Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst. Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener . . . Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.“—————————–7d4182af03e8 Content-Disposition: form-data; name=“hjb1957.24.htm“; filename=““ Content-Type: application/octet-stream