In memoriam Theo Deisel – Abschied von einem Künstler der Are-Gilde
In memoriam Theo Deisel
Abschied von einem Künstler der Are-Gilde
Professor Dr. Bernhard Kreutzberg
Nach einem Maler-Studienaufenthalt auf der Kanareninsel Gomora verstarb am 26. Juni 1992 Oberstudienrat i. R. Theo Deisel, Gründungsund Ehrenmitglied der ältesten Künstlervereinigung in Rheinland-Pfalz, der Are-Gilde. Ein Künstlerleben ging zu Ende, das sich seit Jahrzehnten mit Zielsetzung und Aufgaben der heimischen Are-Gilde identifizierte.
Theo Deisel wurde am 20. Dezember 1909 zu Offenbach in Baden geboren. Er nahm nach dem Abitur sein Studium an der Akademie für Bildende Künste in den Bereichen Bildhauerei, Malerei und Graphik in Stuttgart bei den Professoren Kolig, Spiegel, Graf, von Eckener und Habich auf. Durch seine herausragenden Fähigkeiten wurde er Meisterschüler an der Akademie, besuchte Kurse bei Hölzel, lernte berühmte Maler kennen aus der Badischen Sezession, kannte Johannes Itten und Ida Kerkovius.
Nach dem Kriege kam Theo Deisel an das Gymnasium Ahrweiler als Studienrat für Bildende Kunst und Sport, wirkte später bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1975 am Are-Gymnasium. Er war ein allseits beliebter Lehrer, der sich durch sein Wissen und einen frischen, unkonventionellen Lehrstil Achtung und Zuneigung seiner Schüler erwarb.
Geachtet und beliebt war Theo Deisel auch als langjähriger Vorsitzender des TV 06 Bad Neuenahr; der Verein ernannte ihn zum Ehrenmitglied.
Bekannt wurde der Künstler Theo Deisel über den Kreis Ahrweiler hinaus durch seine einmaligen, treffenden Illustrationen zu Texten und Gedichten, die im Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler erschienen.
In einer vielbeachteten Retrospektive im Foyer des Peter-Joerres-Gymnasiums zeigte der Künstler gemeinsam mit seiner Gattin, der Bildhauerin Erna Deisel-Jennes. eine Zusammenfassung seines Lebenswerkes.
Der Künstler Theo Deisel ließ sich nicht auf einen bestimmten Stil, nicht auf „Ismen“ festlegen. In der steten Suche nach Harmonie, nach einer Verbindung von Welt und Künstlerpersönlichkeit verwirklichte er seine Grundhaltung. Sie beinhaltete Toleranz für einen größeren Möglichkeitsbereich künstlerischer Ausdrucksmittel und Gestaltungsformen.
Dabei genügte ihm eine zu enge Bindung an das Objekt als Kriterium nicht. In Gesprächen über Sinn und Tiefe der intensiven künstlerischen Arbeit zitierte er Max Beckmann: „Es ist mein Wille, den optischen Eindruck von der Welt der Gegenstände durch eine transzendente Arithmetik meines Inneren zu verändern“. Die ihm ganz adäquate und sicher vollendete Form einer Aussage aber fand Theo Deisel in der Vielfalt seiner Illustrationen. Seine Schwarz-Weiß-Arbeiten, die er mit Pinsel und Tusche in so großer Zahl viele Jahre hindurch für das Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler schuf, sind kleine Meisterwerke der Illustration. In den expressiven Zeichnungen kommt Leben zum Ausdruck, eine zupackende Spontanität, die Kunst des Weglassens, der Vereinfachung, Vermeiden verderblicher Fülle und ein Gespür für Bodenbeständigkeit. In ihrer Sensibilität sind sie Arbeiten von Seewald oder Noide vergleichbar, zeigen oft fernöstliche Anklänge bei fast kalligraphischen Charakterzügen. Mit sicherem Gespür wählte sich der Künstler aus den Texten jene Stellen und Passagen aus, die Höhepunkte darstellten. Nie ordnete sich seine Illustration dem Text unter; vielmehr stellte sie eine wunderbare Ergänzung dazu dar, die indessen ein hohes Maß an Selbständigkeit aufwies. Die Bilder entfalteten trotz der Einbettung in den erzählenden Text ein Eigenleben, blieben jedes für sich selbstwertig, bildeten gleichsam eine Erweiterung des dargestellten Stoffes. So wird der alte Schäfer aus der Erzählung „Schäfer-klas“ von Johannes Fr. Luxem zu einem Bild für sich, geht über die Textversion gleichsam hinaus in ihrem Eigenwert. Fast ist man versucht, zu sagen, der Künstler habe sich in der Darstellung des Schäfers, wie er dasitzt und sinnend die Welt betrachtet, über sie nachdenkt, sein „alter ego“ geschaffen, er habe sich selbst gemeint und gemalt.
Auch in seiner beruflichen Tätigkeit als Kunsterzieher am Are-Gymnasium verwirklichte Theo Deisel seine Ideen über Kunst und der Hinführung zu Kunst und Kunsttheorien.
Unvergessen seine unorthodoxe, lebendige Art des Unterrichtes, seine Zuwendung zu den Schülern, sein Engagement in der Aufgabe, junge Menschen in die ästhetischen Gesetze bei der Kunstbetrachtung zu leiten, ohne ihnen die Chancen ihrer Selbständigkeit im Empfinden und im Denken, in der Analyse vieler großer Kunstwerke dieser Welt von der Antike bis zur Moderne zu nehmen.
So war er als Lehrer eine starke Persönlichkeit mit der Fähigkeit, junge Menschen zur Selbständigkeit zu führen. Bewußtseinsbildung zu betreiben und ihre Augen zu öffnen für die Schönheit der Kunst und der Welt.
Wenn im Verlaufe einer lebhaften, oft kontroversen Diskussion im Kreis der Are-Gilde ein Problempunkt erreicht war, bei dem die Meinungen völlig unvereinbar aufeinanderprallten, kam der Augenblick, in dem sich der Senior der Gruppe, Theo Deisel, erhob, und wartete, bis Stille eintrat. Er stand an seinem Platz, hoch aufgerichtet, begann erst zögernd, wie in einer Art Absence, das strittige Thema aufzugreifen, um dann seine Auffassung – mitunter apodiktisch -darzubieten.
„Schäferklas.“ Zeichnung von Theo Deisel
So wichtig war ihm das Thema, war ihm die Darstellung seiner Ideen, seiner Meinungen, seiner Erfahrungen, daß er den Gedankenfluß einfach nicht im Sitzen aussprechen konnte, nein, stehend erfolgte die Darbietung des „großen alten Mannes“ der Gilde.
Man sagt, daß Künstler immer dann in Schwierigkeiten geraten, wenn es gelte, einem ändern stumm zuzuhören, seine Auffassungen über ein Problem des Darstellungsstiles, der künstlerischen Mittel, der geltenden Normen und Gesetzmäßigkeiten zu hören. In diesem Fall wurde eine solche Behauptung ad absurdum geführt:
Alles schwieg und hörte Theo Deisel zu, der in einer Mischung aus hoher Sachkompetenz und emotionaler Zuwendung zum Problem seine Auffassung darlegte.
So kam es, daß von Grund auf eigenwillige Individualisten mit einer höchst persönlichen Meinung über künstlerische Arbeit plötzlich zu einer schweigenden Gemeinschaft Zuhörender wurden, daß sie, die sonst so Widerspruchfreu-digen, den Worten des erfahrenen Mannes in seiner Abgeklärtheit lauschten.
Dabei sprach Theo Deisel nicht etwa nur über Fragen der Kunst. Er begab sich in Bereiche der Psychologie, der Existentialphilosophie und -dann wurde erzunehmend ruhiger, gesammelt, fast andächtig – in die Sphäre der Religion.
Eine solch eindrucksvolle Art und Weise der Beteiligung eines „weisen alten Mannes“ machte die Zuhörer oft betroffen, besaß nachschwingende Prägewirksamkeit, weckt noch heute Erinnerungen.
Wie viele Kunstschaffende, denen ihre Arbeit Berufung und Erfüllung bedeutet, hatte Theo Deisel ein enges Verhältnis zur klassischen Kunst, zu Wiege und Ursprung all dessen, was sich im Laufe der Menschheitsgeschichte in den vielen Jahrhunderten oft sprunghaft entwickelte. So sprach er über die Kunst der Griechen, erwähnte die Metope vom Tempel in Selinunt -Hera vor Zeus -, lobte die strenge Gliederung des Reliefs durch eine kühne Vertikale. Er sprach über den Fries des Pergamonaltares mit der bewegten, dramatischen Darstellung von Giganten und Göttern oder beschrieb die Plastiken der Agora von Athen aus dem Archäologischen Nationalmuseum zu Neapel. Ihn begeisterte das wunderbare Ebenmaß der Bilddarstellungen auf den attischen Amphoren gleicherweise wie Statuetten und Gefäße von Ausgrabungen der Hallstattzeit, die ihn in ihrer archaischen Schlichtheit tief berührten.
Das Narrenschiff. Gemälde von Theo Deisel.
Er kannte die großen Künstler aller Epochen, stellte gerne kunsthistorische Vergleiche an, stellte gerne Vermeer van Delft, die Maler der Gotik oder in der Moderne Ferdinand Hodler in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Hodlers ausdrucksstarker linearer Stil mitwuchtigen Formen beeindruckte ihn; der Spannungsbogen vom Symbolismus bei „Die Nacht“ bis hin zu den expressiven Gebirgsbildern von Silvaplana.
Deisel führte, wenn er darüber sprach, Grundsätzliches aus zur Kunst, zum Menschen schlechthin, zur Fragilität seiner Existenz und seiner Stellung in der modernen Welt. Er betonte die humane Funktion des Kunstwerkes, stellte die Bedeutsamkeit einer geistigen Selbstbehauptung des Künstlers in den Mittelpunkt der Betrachtungen.
Bei aller Zuwendung zu den realen Gegebenheiten der Welt kann man aus vielen Skizzen und Bildern Theo Deisels etwas Unergründliches herauslesen, etwas schwer Erklärbares, das eine unbestimmte Form von Traurigkeit besitzt und ausstrahlt, ein Skeptizismus, der aus seinem Intellekt kam. Aus der Fülle der Bilder sei sein bei der Are-Gilde zum 50jährigen Jubiläum ausgestelltes Gemälde „Das Narrenschiff“ angeführt, das, besetzt mit geheimnisvollen, nur angedeuteten Figuren auf Strand gelaufen, gestrandet ist. Rätselhaft, verschlüsselt der tiefere Sinn des Bildes: die Fahrt ist zu Ende, Ratlosigkeit breitet sich aus, wie Statuen verharren die Menschen im Boot, werden von einem bedrohlichen Wesen am Strand erwartet, Unwissenheit über das, was auf sie zukommt.
Ein letztes Mal bestieg auch Theo Deisel ein Schiff, das ihn auf die Insel Gomora brachte. Niemand ahnte, daß dies seine letzte Fahrt und sein letzter Landgang sein würde: eine Fahrt ohne Wiederkehr.
Was uns bleibt sind seine Bilder, Skizzen, Zeichnungen, die Erinnerung an eine starke Künstlerpersönlichkeit und an seine Worte, die in uns weiterklingen.