Immerhin: Es tat sich was – Sportversuche nach dem Krieg
Als wir, die Halbwüchsigen im Nachkriegs-Staf-fel, bei der Messe „Hier liegt vor deiner Majestät“ endlich in der Männerlage singen konnten, als uns Haare an Körperstellen wuchsen, wo bislang keine gewachsen waren, als wir die Mädchen nicht mehr geflissentlich übersahen, sondern aufmerksam wahrnahmen, da war die Zeit des Hickelns, Dilldoppens, Reifenschiagens, Klickerns und Stelzens vorbei.
Nach Sport, der den ganzen Mann forderte, stand uns nun der Sinn. Was dies im einzelnen hätte sein können, vermochten wir uns nur unklar vorzustellen. Die Zugezogenen, Hansi aus Duisburg und der Kölsche Jupp, hatten ein paar Beobachtungen aus der Großstadt angedeutet. Und in Helmuts blauem Olympia-Buch hatten wir auf den Sammelbildchen Sportler in Aktion gesehen. Einen Verein, einen Platz, eine Halle, brauchbare Ausrüstung, jemand, der uns angeleitet hätte – dergleichen gab es indessen nicht. Onkel Alois meinte gar: „Wenn de jeden Daach deng Arbed dees, es dat Sport jenooch. Dann brauchs de nix Extras.“ Recht hatte er. Denn wer sich neben der Schulschicht – aufstehen kurz nach fünf, 7 km mit dem Rad nach Brück, 7 Stationen mit dem Zug zur Schule, Unterricht, Rückfahrt bis in den Nachmittag hinein – häufig genug auch noch um Brennholz, ums Kehren, um den Viehkessel, ums Füttern oder um Feldarbeit zu kümmern hatte, schien im Grunde weidlich ausgelastet.
Dennoch: Unter dem Motto „Selbst ist der Mann“ brachten wir schließlich so etwas wie einen eigenartigen Staffeler Zehnkampf zustande. Die Einzeldisziplinen blieben, nachdem sie sich bewährt hatten, eine Zeitlang bestehen, die Abfolge jedoch wechselte je nach den Umständen. Im Dorf sprach sich herum, wer der Jungen ein guter, wer ein weniger guter Sportler war, ohne daß sich dies in Schwankungen des allgemeinen Ansehens niedergeschlagen hätte.
Laufen um die Wette lag natürlich nahe, schnell und barfuß auf einem frischgemähten Wiesenstreifen „Am Eigen“, ausdauernd und in schweren Nagelschuhen zwischen Mühle und Ortseingang. Die Grasstoppeln erforderten eine besondere Lauftechnik. Bei aller Schnelligkeit mußte, wer seine Sohlen schonen wollte, leicht schlurfen. Die Zeiten der Langläufer ermittelten meist die großen Mädchen. Volle Minuten zeigte ein alter Wecker an. Kleinigkeiten wurden nach aktuellem Sympathiestand geschätzt.
Bei Zuschauern sehr beliebt war der Hoch-Weit-Sprung, plumpsten doch mindestens acht von zehn Wettbewerbern beim Versuch, den Bach mittels einer Bohnenstange zu überspringen, ins Wasser. Entweder setzten sie die Stange auf einen glitschigen Stein oder sie verhungerten, da es nach zu schlappem Anlauf an rechtem Schwung fehlte, zappelnd irgendwo zwischen beiden Ufern. Einige sprangen, damit es sonntagnachmittags besser aussähe, im besten Anzug, was im Falle des Mißlingens den schadenfrohen Beifall der Umstehenden ungemein steigerte.
Beim Ringen blieben wir tunlichst unter uns. Hinter dem grünen Tor kamen wir uns auf der Tenne zwangsläufig sehr nahe, legten im Eifer des Gefechts regelwidrig manch heikle Stelle bloß und wollten unter allen Umständen vermeiden, daß Niederlagen, die beim Zweikampf das Private streifen, nach außen drangen. Es genügte, daß wir übereinander Bescheid wußten. Boxen hingegen geschah auf viel größere Distanz. Selbst die Hände berührten nicht eigentlich, waren vielmehr umhüllt mit je einem karierten Handtuch, das mit Heu ausgestopft und am Handgelenk mit Strohkordel zugebunden war. Da wir mit der Dezimalwaage eigens eine Gewichtsliste erstellt hatten, an die wir uns bei den Kampfpaarungen penibel hielten, gab es zwar blutige Nasen und blaue Augen, ganz selten aber einen Niederschlag. Der Kölsche Jupp hatte, sehr ungewöhnlich zu der Zeit, Übergewicht und daher keinen Gegner.
Staffel: Austragungsort der „Sportversuche“.
Vor allem dem einzigen eleganten Bewegungskünstler unter uns entsprach das barrenähnliche Gestell, dessen vier Füße in den steinigen Boden des Schulhofs eingelassen waren, dicht neben dem Toilettenhäuschen. Irgendwie fühlten wir uns aber nicht wohl unter den Fenstern der Lehrerwohnung und hielten uns mehr und mehr fern. Rudi vernachlässigte dadurch vorübergehend sein Talent zum Geräteturnen.
Der Schäfer schnitt sich im Frühjahr, als die Säfte stiegen, einen neuen Hirtenstab. Den alten, an die zwei Meter langen mit der Eisenspitze und den Schnitzereien überließ er Helmut, seinem Neffen. Wir versuchten uns damit im Speerwurf und kamen uns vor wie die germanischen Ahnen auf der Jagd.
Beim Schwimmen, das noch keiner von uns konnte, stieß unsere Sportbegeisterung an Grenzen. Der Bach schied, obwohl wir ihn hier und da von 25 cm auf gut und gern 40 cm aufgestaut hatten, als ungeeignet aus. Das Freibad aus Militärzeiten, das wir in Denn entdeckten, war verlandet. Einzig ein schlammiger Bombendoppeltrichter „Im Sannen“ ließ ein paar Stöße zu.
In der undurchsichtigen Brühe planschend riefen wir, und niemand prüfte es nach: „Jetz kann ech et.“
Eine Nummer kleiner als in Ahrweiler, wo wir das Radrennen um den Schützenhof miterlebt hatten, probierten wir es auch in Staffel. Zahlreiche Zuschauer feuerten uns an, als wir unsere 80-m-Runden drehten: Start an Schumanns Laden, über Giese, Holzbrückchen, die Straße hinauf, über Schumanns Brücke, Ziel. Um die Gewinnchancen zu mehren, fuhren wir einige Rennen nacheinander, mal 8 Runden, mal 10 oder 12. Es staubte gewaltig, wenn wir uns in die Kurven legten. Das Feld bestand gleichbleibend aus fünf Fahrern, denen die vorhandenen Räder per Los zugeteilt wurden, so daß sich auch Nichtbesitzer – und die meist besonders draufgängerisch – beteiligen konnten. Ich hatte regelmäßig Sorge, ob mein blaues Rad mit den vielen Reifenflicken standhielt und anderntags für den Schulweg noch taugen würde.
Mit dem Plattmann in „Mottele“zu rodeln, unter all den Kindern und Sonntagsschlitterern, entbehrte allmählich des Reizes.Ski mußten her. Ich warfein raus, hatte beim Zusammenbruch in einem liegengebliebenen Planwagen zwei ergattert – kein Paar zwar, da der eine blaue 20 cm länger war als der rote andere, aber immerhin bedeutend besser als die selbstgemachten. Dazu stellten sie zwei spitz zugeschnittene Eschenbretter einen Tag lang in die heiße Viehkesselbrühe und bogen sie, indem sie sie eine Nacht lang in die Speichen eines Wagenrades spannten. Lederschlaufen gaben den Füßen notdürftig Halt. Stöcke wuchsen in jeder Haselnußecke. Den Hang am „Bronker“ bewältigten wir ziemlich verwegen, und an den Rainen taten wir Dreimeterhopser.
Winnetou und Old Shatterhand kannte in Staffel, vom Lehrer vielleicht abgesehen, kein Mensch, einen Western hatte niemand je gesehen. Im Umgang mit Pferden waren wir trotzdem erfahren, seit fast in jedem Stall statt des Ochsen eines derer stand, die beim Rückzug erschöpft zusammengebrochen waren und sich inzwischen erholt hatten. Sogar reiten ließ sich auf ihnen, wenngleich ohne Sattel und Steigbügel. Das führte zu gelegentlichem Absitzen aus vollem Galopp, gerade so, als hätten die Gäule spitz bekommen, daß es sich auf schwerem Geläut bedeutend leichter ohne Reiter siegte. In allen Sätteln gerecht, Allrounder sozusagen heutzutage, war keiner von uns. Im klassisch olympischen Sinn beherrschten wir nicht eine Sportart wirklich. Und Ehrenpreise, die den Charakter hätten gefährden können, waren auch nicht zu gewinnen. In der Enge des Kesselinger Tals erfuhren wir aber etwas vom selbsterzieherischen Wert des Sports. Es hat uns fürs Leben gutgetan.