Immer auf der Suche nach Heimat
Der Schriftsteller Egon H. Rakette wird 75
Clemens Josephus Neumann
Noch ist es zu früh, aber seine Freunde und seine zahlreichen Leser wünschen ihm schon heute, daß er seinen 75. Geburtstag, der am 10. Mai 1984 fällig ist, gesund, guten Mutes und weiterhin schöpferisch tätig auf der Rheinhöhe in Oberwinter begehen möge. Denn dort haust er seit Jahrzehnten, zwar nicht wie der sagenhafte Diogenes einsam und allein in der Tonne, sondern mit Weib und Kind in einem stattlichen, hinter einem Tannenbusch verborgenen Heim, von dem aus sein Blick nach Osten geht, dahin, wo seine eigentliche Heimat liegt, nach Schlesien, wo er und die lange Reihe seiner Sippe geboren wurden. Aber wie der griechische Philosoph ist er immer auf der Wanderschaft, immer auf der Suche nach Heimat, nach dem Menschen, dem guten, dem gütigen Menschen im anderen, dem nächsten und dem fernsten, und — in sich selber: Egon H. (sprich Helmut) Rakette, geboren in Ratibor, Beamter, Oberregierungsrat a. D. und Poet dazu.
Wenn man ihn ansieht heute, möchte man Züge des guten alten Mörike, des Sängers »vom Tage«, in seinem Gesicht entdecken, des Pfarrers von Cleversulzbach, der scheinbar gelassen die Mitternacht heraufkommen sieht und der hinter Brillengläsern gemütlich forschend in die Welt und die Herzen der Menschen blickt, nur mit sich selbst und der Welt zufrieden zu sein scheint. Aber dieser Schein trügt. Wie der große Mörike weiß auch Rakette viel von nächtlichen Heimsuchungen in seinem Leben und in der Welt. Wie Mörike ist auch er, er gesteht es selber, von inneren Spannungen bewegt, in fortwährender »Zwiesprache« mit sich selber und mit den mehr oder weniger lieben Nächsten, denen er Bruder zu sein wünscht, obwohl er weiß, daß »es leicht ist, gut sein zu wollen, schwer aber Dich und mich zu lieben«, eine Erfahrung, die in manchen Stunden melancholisch stimmen mag, über die sich aber die liebe Seele mit einem Schuß guten Humors immer wieder Ruhe und Gelassenheit zu verschaffen vermag. Und das ist ihm in die Wiege mitgegeben, dieses Ost-Westliche, schlesisch »getuppelte« Gemenge, in dem Slavisches und Deutsches, Österreichisches und Preußisches, Katholisches und Evangelisches sich kreuzt wie gemeinhin in den Menschen jener Grenzlandschaft. Kumpelhaft friedfertige Menschen, die aber auch recht bissig — » Pierrunjä« — reagieren können, wenn sie in einem wunden Punkt getroffen werden, wenn die Spannung unerträglich wird und sich entladen will, ein Antrieb, dem gerade auch schlesische Dichter ausgesetzt zu sein pflegen, der sich aber schöpferisch sublimiert, mögen sie nun Gryphius oder Christian Reuter, Angelus Silesius oder Eichendorff, Gerhart oder Carl Hauptmann, Stehr oder Scholtis, Rakette oder Bienek heißen.
Bei dem Manne aus Ratibor hat diese Spannung schon früh gezündet. Mit dem liebenswerten kleinen Oder-Roman »Anka«, mit dem der angehende Student in literarischen Kreisen in Breslau Aufsehen machte. Es folgte, wiederum heimatbezogen, 1939 der Bauernroman »Drei Söhne« und ein Jahr später der Durchbruch mit dem breit angelegten Sippenroman »Der Planwagen«, dem Epos eines flämischen Siedlergeschlechtes, das vor Jahrhunderten »naer Ostland« geritten war, das in Generationen unter mancherlei Drangsalen aber auch in glücklichen Tagen sein Schicksal zu bestehen hatte, ein Werk, das familiengeschichtlichen Hintergrund hat.
Egon H. Rakette
Der Krieg sieht den jungen Verwaltungsbeamten als Berichter an der Front und die Nachkriegszeit schon 1949 als Beamten, wohl eher wider Willen, im Bundesrat in Bonn. Von hier aus hat er mit der Begründung der »Schlesischen Künstlersiedlung« in Wangen im Allgäu und als Mitbegründer und Leiter des »Wange-ner Gesprächskreises«, eines Forums freimütiger Begegnung zwischen Einheimischen und Vertriebenen, ein rühmenswertes Beispiel humaner Tat gegeben. Diese Aktivitäten haben den ihm nicht nur östlich nahestehenden, sondern auch in Oberwinter benachbarten Schreiber dieser Zeilen veranlaßt, ihn aufzusuchen und ihm Zusammenarbeit vorzuschlagen. Frucht dieser Begegnung war die Begründung des West-Ost-Kulturwerkes auf Schloß Burg a. d. Wupper, der Gedenkstätte des Deutschen Ostens, vor dreißig Jahren. Diese Vereinigung hat sich die Förderung humaner Gesinnung und Verständigung auf landsmannschaftlicher und zwischenvölkischer Ebene zum Ziele gesetzt. Rakette war lange Jahre ihr Vorsitzender und hat in dieser Eigenschaft zahlreiche Veranstaltungen geleitet und Schriften herausgegeben. Währenddes ruhte sein sonstiges schriftstellerisches Schaffen. Aber Mitte der 60er Jahre erschien dann, in einem schlesischen Heimatverlag, überraschend ein neuer Roman, »Schymanowitz oder Die ganze Seligkeit«, eine liebevoll und plastisch gezeichnete Geschichte einer oberschlesischen Kätnerfamilie, der »Kokotts«, Rakette hat es stets und gern mit den sogenannten »kleinen Leuten«, ein Werk, das viele für sein bestes halten und das dem Verfasser dieses Artikels weitaus anschaulicher und überzeugender das Menschen- und Landschaftsbild Oberschlesiens zu kennzeichnen scheint als die viel zitierten und gerühmten Romane seines Landsmannes Bienek. Es folgten rasch aufeinander und stark beachtet »Die Bürgerfabrik«, ein gesellschaftskritischer, satirisch gefärbter Roman, der in der Gegend von Bonn spielt, und »Bauhausfest mit Truxa«, das gleichfalls, der Verfasser war Bauhausschüler in Dessau, biographische Züge trägt. Erzählbände, Lyrikbändchen, Anthologien, monographische Darstellungen verließen daneben und hintereinander seinen Schreibtisch, ohne daß ihnen ein nachhaltiges Echo beschieden war. Wie denn überhaupt die Würdigung seines Schaffens in der führenden Literaturkritik, von Ausnahmen abgesehen, zu wünschen läßt. Um so mehr spendeten breite Kreise Betroffener, Vertriebenenkreise und ihre Institutionen vor allem, Beifall, was nicht zuletzt aus vielen Auszeichnungen des Autors abzulesen ist. So erhielt er schon früh den »Auslandsdeutschen Literaturpreis«, den »Eichendorff-Preis« des »Wangener-Kreises«, die Ehrengabe des ostdeutschen »Andreas-Gryphius-Preises« und die Goldene Eichendorff-Plakette des Kulturwerkes der vertriebenen Deutschen. Ein Höhepunkt der Würdigung war auch die Verleihung der Goldmedaille Pro Humanitate des West-Ost-Kulturwerkes zu seinem 70. Geburtstag. Zu der Feierstunde, die das Kulturwerk und der regionale Vertriebenenverband zu seinen Ehren in Mainz veranstaltete, schickten auch Landes- und Bundesregierung Glückwünsche. In der Laudatio versicherte der Verfasser dieses Artikels, unter Anspielung auf ein Wort von Max Tau, eines Landsmannes und Freundes von Rakette, dem Jubilar: »Du hast Deine Talente redlich und fleißig verwaltet. Du hast sie nach Kräften der Humanität dienstbar gemacht. Du hast das Deine getan und Du wirst, das hoffen Deine Freunde, gewiß noch sehr viel mehr tun.« Dieser Wunsch, diese Würdigung mag auch aus erneutem Anlaß bekräftigt werden.