„Im Vogelsang“, ein verbreiteter Flurname

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„Im Vogelsang“ ein verbreiteter Flurname

VON DR. V. PALM

Was Namendeuter mit viel Phantasie und ohne Tuchfühlung mit Kennern der deutschen Flurgeschichte bisher in wissenschaftlichen Blättern zum Flurnamen „ lm Vogelsang“ geäußert haben, weist einen beträchtlichen Umfang an Widersprüchen auf. Nicht weniger als sieben verschiedene Deutungen wurden vorgetragen. „Im Vogelsang“ wurde gesehen als Kennzeichen erwachenden Naturgefühls um die Wende des 12. Jahrhunderts, als Lieblingswort der Minnesänger, in Ostelbien als Name für Ödgebiete, um Siedler aus Mittel- und Westdeutschland anzulocken. In Städten soll Vogelsang Name gewesen sein für befreite Häuser und für Gefängnisse, in Dorfgemarkungen für abgelegene Orte, wo sich verliebte Jugend ein Stelldichein gab.

Gegenüber solchen Phantasieprodukten wirkt Professor Bachs Erklärung im z. Band seiner Ortsnamen, Seite 235 „Ort, wo Vögel singen“ erfreulich nüchtern und glaubhaft. Bach nimmt den Namen nicht im übertragenen Sinne, sondern zu recht sachbezogen. Nur ist die im Namen gemeinte Sache, der Ort mit Vogelsang, doch näher zu kennzeichnen, da es schließlich in jeder Gemarkung ungezählte Orte gibt, wo Vögel singen, und nicht ohne weiteres ersichtlich ist, warum nur einer „Im Vogelsang“ genannt wurde.

Nach persönlicher Auffassung ist der Stellenname nur auf eine Wacholderheide zu beziehen, wo der Fang der Krammetsvögel – Krammet aus Kranewit-Spitzholz oder Wacholder – nachweislich bei Vogelsang ausgeübt wurde.

In der im 9. Jahrhundert angehenden Ritterzeit zählte der Vogelfang zum „Kleinen Weidwerk“, woran selbst die Fürsten ihre sportliche Freude hatten. Vom Sachsenherzog Heinrich, dem „Vogler“, singt die erste Strophe eines Liedes: 

Herr Heinrich sitzt am Vogelherd 
recht froh und wohlgemut.
Aus tausend Perlen blinkt und blitzt 
der Morgensonne Glut.

Der hohe Vogelsteller revidierte nicht die im Walde gestellten Fallen „Bodengericht“ und „Dohnenstieg“ für Schnepfen, Bekassinen, Waldhühner und andere Laufvögel. Er saß am Vogelherd, auf einfallende Zugvögel wartend. Deshalb war er nicht wenig aufgebracht, als lauter Hörnerschall der Boten, die ihm 919 von Fritzlar her in das Harzer Vorland die Kunde von seiner Wahl zum deutschen König bringen sollten, weil ihm „der ganze Vogelfang verdorben“ war. Heinrichs Vogelherd aber konnte nur auf einer Wacholderheide errichtet worden sein. Das war in der Art der Nahrungssuche beerenliebender Vögel begründet und ist zudem für das Rheinland im Jahr 1746 aktenkundig. Damals gehörte im ganzen Reiche der Fang von Krammetsvögel nicht mehr zur adeligen Freizeitgestaltung und war schon längst kein fürstliches „Jagdplaisir“ mehr, wie 827 Jahre zuvor im Harz, vielmehr auf dem östlichen Hunsrück eine Einnahmequelle der kurpfälzischen Staatskasse. 1746 ließ der Truchsessereikeller in Simmern, der Amtsstadt, 45 namentlich genannte „Wacholder- oder Vogelheiden“ für drei Jahre „zum Fang von Krammetsvögeln“ für insgesamt 92 Gulden meistbietend an Förster, Lehrer und Bauern versteigern.

Die Heide ist demnach als Vogelfangstelle für die Zeit extensiver Bodennutzung erwiesen. Wäre nun noch zu sagen, was solche Fangorte mit dem Wacholder und Vogelsang zu tun haben. Dem Vogelfänger war bekannt, daß durchziehende Wacholderdrosseln, die Krammetsvögel im engeren Sinne, andere Drosseln, auch Blut- und Bergfinken mit Vorliebe auf Heiden des Wacholders wegen zur Nahrungssuche einfielen. Deshalb errichtete er hier auf freiem Platze zwischen gehäuft stehenden Stauden des Spritzholzes seinen Vogelherd aus abgeschlagenem, beerenreichem Wacholder, über dem das Schlag-, Schnapp- oder Schnäppnetz fängisch gestellt wurde. In einiger Entfernung davon baute er aus Reisig eine niedrige Vogelhütte, indem er eine zuvor angelegte, etwa 1 m tiefe und weite Grube spitzzeltartig bis auf das Einstieg- und Sichtloch überdachte. Zur Betätigung der gestellten Falle war eine Hanfleine von der Hütte zum Herd verdeckt im Oberboden verlegt, die gerückt wurde, wenn einige Zugvögel „zum Beeren“ auf dem Herde eingefallen waren. Wären nicht noch andere Maßnahmen getroffen worden, wäre die Ansitzjagd auf Krammetsvögel so wenig erfolgversprechend gewesen wie solche auf den Rehbock in der Brunft- oder Blattzeit ohne Buchen- oder Fliederblatt vor der Unterlippe oder dem Blatter in der Hand. Wie heute noch der Bock, so waren ehedem die Vögel zu locken, und das war nicht ganz einfach. Der Vogler rüstete sich mit „Lockvögeln“ aus. Einige derselben wurden mittels eines Pferdehaares an den Wacholder auf dem Herde gefesselt, daß sie am Entfliegen gehindert waren und sich doch zur Aufnahme der schwarzen Beeren hüpfend oder flatternd bewegen und so die freien Artgenossen auf einen gedeckten Tisch aufmerksam machen konnten. Andere, nicht weniger wichtige Lockvögel, wurden in ihrem Käfig belassen, der in oder mit Wacholder „verblendet“, d. h. gegen Sicht geschützt in Herdnähe aufgehängt wurde. Diese Käfigvögel sollten von den freilebenden nicht gesehen, doch gehört werden. Damit nun aber die gefangen sitzenden Vögel die freien mit ihrem Singen herbeiriefen, reizte sie der Vogler auf hergerichteter Birkenrinde oder mit seinen gespitzten Lippen. So erklärt sich die Redensart: „Wer Vögel fangen will, muß süß pfeifen können.“ Und so erklärt sich auch die sachliche Voraussetzung für das Aufkommen des Flurnamens „Im Vogelsang“. Der fachgerecht besetzte Vogelherd auf der Wacholderheide mit flatternden und singenden Lockvögeln neben dem Vogelfänger als Vogelstimmen-Imitator war der einzige Ort in einer Gemarkung, wo im Frühling am häufigsten und im Herbst allein Vogelsang zu hören war.

Ob die erwähnten Namendeuter ihre Phantasie bemüht hätten, wenn sie von der Häufigkeit und dem Vorgang ehemaligen deutschen Vogelfangs gewußt hätten? Gewiß steht bei der Flurnamendeutung dem Sprachforscher das erste Wort zu, das letzte gebührt dem Sachkenner. „Im Vogelsang“ als Name eines städtischen Hauses gilt ebenfalls im konkreten Sinne. Es besagt: „Haus des Vogelfängers“. In Zeiten, da auch in Städten das Analphabetentum groß war und Schaufenster fehlten, hätten Straßenschilder und Hausnummern für Kaufwillige wenig Sinn gehabt. Da zeigte das Bild eines Stiefels auf der Hausfront den Schuster an, eines Kuchens den Bäcker, einer Hand den Handschuher. Dem Leseunkundigen kündete den Vogelhändler ein Käfig mit Vögeln, wie ihn der Vogelfänger zu und von der Fangstelle und zum Vogelhändler trug, wenn er zum Verkauf geeignete Kleinsänger anzubieten hatte, oder wie ihn der Vogelhändler selbst auf den Rücken nahm, wenn er hausieren ging. Da konnte es sich von selbst ergeben, daß das also gekennzeichnete Haus von den Käufern und Vorübergehenden „Im Vogelsang“ genannt wurde. Diesen Namen fügte dann der Hausbesitzer, als die meisten Menschen lesen gelernt hatten, zu denn Vogelkäfigbilde, wie es Gastwirte, Ärzte und Apotheker taten, wenn sie ihrem bisherigen Hausbilde „Zum roten Löwen“, „Im blauen Ochsen“, „Beim schwarzen Bären“ aufmalen ließen.

Zwischen dem Donnersberg in der Pfalz und dem Hohen Venn kommen außer „Im Vogelsang“, noch die sehr ähnlich lautenden Flurnamen vor: Im Vogelsang, Vogelsang und Vogelgesang. Ferner weisen auf die Stelle eines ehemaligen Vogelherdes hin: Vogelhäuschen, Vogelherd, Herd, Hirt, Vogelfang, -graben, -garten, -grube, -hang, -hütt, Finkenzeit und Zimmerfang (Ziemer = Drossel). Die Mundartformen „Vogelfang“ und „Voolehitt“ geben Anlaß, sich bei „Fohleberg“ für Fohlenweide oder Vogelfang zu entscheiden.

Vogelfangnetz

Im Kreise Ahrweiler erinnern an einstmaligen Vogelfang auf Wacholderheiden in 21 Gemarkungen folgende Flurnamen:

Im Vogelfeld in Ahrweiler, Auf dem Vogelfang in Altenahr, Felgendriesch in Barweiler; Finkensiefen in Berg, Im Herdchen in Bröhlingen, Auf dem Vogelfeld in Brück, Herdchen in Calenborn und Lantershofen, Im Härdehen in Dankerath, Herdchenwies in Honerath, Am Vogelfang in Hönningen, Im Vogelsang in Koisdorf, Am Vogelsang in Lohrsdorf, Auf der Schnapp in Luscheid, Krammetsbusch in Mayschoß, Auf dem Vogelsang in Nohn, Im Vogelherdchen in Nürburg, Am Herdehen in Reifferscheid, Ziermergarten in Ringen, Vogeldell in Wiesemscheid und Vogeldriesch in Wirft.

Es ist möglich, daß sich diese stattliche Zahl der Vogelflurnamen noch erhöht, weil von den mehr als 11000 Flurnamen im Kreise Ahrweiler erst 9393 listenmäßig erfaßt sind. Doch ist auch so bereits das jetzt so wald- und weinreiche Ahrland als ehemaliges Heideland gekennzeichnet, wie es alle rheinischen Höhengebiete vor 1800 waren, deren Bewohner unter der einst sprichwörtlichen, heute vergessenen Tatsache litten: viel Heiden gab’s und wenig Brot.

Der Vogelfang in oben geschilderter Weise hat bei uns bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestanden. Im 19. Jahrhundert kam durch Urbarmachung der Wacholdergebiete und durch gesetzliche Verbote der Vogelfang in Wegfall. Doch fingen Förster und Jäger bis zum Jahre 1910 die Krammetsvögel im Herbste mit Vogelschlingen, die aus einer gebogenen Weidenrute, einem Pferdehaar und aus roten Ebereschenbeeren bestanden. Diese Schlingen hingen sie am Waldrande und an Waldwegen in langen Reihen auf. Auf den rheinischen Märkten wurden 6 Krammetsvögel zum gleichen Preise wie 1 Pfund besten Ochsenfleisches verkauft, wie es uns noch der Binger Marktbericht von 1904 bezeugte.

Durch den Namen „Heinrich der Vogler“ (919-936) bis zum Binger Marktbericht aus dem Jahre 1904 ist der Vogelfang für 1000 Jahre bezeugt.