Im Spätjahr
Im Spätjahr
Emst-Edmund Keil
Spät war’s im Jahr, als er, genesen von Fiebern und Frösten, die ihn durch und durch geschüttelt, obwohl die Heizung auf Höchststufe gestellt war und alle Körper in Wohn- und Schlafzimmer, Küche, Bad und Diele die Innenluft erwärmten, aufstand, entschlossen, und hinausging vor das Haus und zum Fluß.
Die Baumriesen, die seinen Park bewachten oder das, was er dafür hielt und aus zwei durch eine schmale Straße geteilten Rasenflächen bestand, die beidseitig von hohen und alten Kastanien eingesäumt wurden, waren leergefegt bis auf einzelne große Blätter, die wie abgeschlagene Hände eines Riesen zu Boden fielen unter den feinen Schneiden eines messerscharfen Windes, der seine traurige Ernte hielt, bis nur noch gespenstige, kohlenschwarze Baumskelette in den malvenfarbigen Himmel starrten, durch dessen regungslose Bewölkung jetzt, in der Mittagszeit, eine milde Sonne sickerte wie von fern. wohin sie ausgewandert war südwärts, nachdem man die letzten Kastanien aus der Glut geholt und die letzten Kartoffelfeuer abgebrannt hatte.
Still war es, als er nun zwischen den Baumstämmen hindurch den Weg einschlug zum Fluß, als schlüge nur noch sein eben genesenes Herz vor diesem gewaltigen Stilleben, dieser „nature morte“, wie die Franzosen dies nennen. Doch als sich wieder ein Wind erhob mit der blitzenden Mörderklinge in unsichtbarer Faust, hörte er, wie es ringsumher raschelte in den am Boden modernden, knochensteifen Gliedern der Riesen. Und er wußte, es war die Geisterstunde an diesem Sonntag, der den Toten gewidmet war. Und war nicht alles tot um ihn herum, unbeweglich und starr und kalt, daß er sich beeilte, ins Freie zu gelangen und an den Fluß, von dem er hoffte, er würde, wenn nichts sonst auf der Welt, immerfort fließen und nicht aufhören zu fließen. Weil er eine Quelle hatte in den Bergen der Eifel und eine Mündung im Rheintal und ein Gefälle bestand zwischen beiden, so daß auch der härteste Winter ihn nicht anhalten konnte.
Die Hoffnung erfüllte sich, doch erst, als er kurz davor stand und seinen Augen trauen konnte, denn der Wasserstand war so niedrig, daß er auf den Grund sah und die Steine überall wie weiße Knochen aus dem flachen Flußbett hervortraten und er die seichte Strömung sah, aber kaum vernahm. So still zog sich das Wasser wie eine leichtgewellte Haut über den dunklen, sandigen Grund flußab zwischen den Robinien, deren Stämme, aufgerissen wie rissige Lippen, mit nackten Ästen über dem leise ziehenden Gewässer wachten wie stumme, aber hilflose Diener. Selbst die Enten standen wie versteinert im flachen Wasser der Uferböschung, als hätte ein Zauber sie angerührt, ein Todeszauber, der die Uferränder mit dünnem, unterm hellenden Mittagslichtgeheimnisvoll schimmerndem Eisfiligran überzogen hatte. Auch hier schwieg die Natur, wo doch immer alles in Fluß und Bewegung gewesen war, auch hier, als hätten sich die Toten, deren man heute an ihren Gräbern gedachte, in Bäume und Steine verwandelt. Und erwäre wohl umgekehrtmit wenig Hoffnung auf Veränderung, zurückgekehrt in die trügerische Geborgenheit seiner von Heizkörpern künstlich erwärmten Höhle, hätten nicht weiter unterhalb, vor der Brücke, welche die Stadtteile verbindet, weiße Möwen mit heiseren Schreien, aus denen unstillbarer Hunger nach Leben brach, das totgeglaubte Stilleben Lügen gestraft. Diese warfen sich, fast spielerisch leicht, flügelschlagend in die winterliche Luft, die sich jetzt hellte mit der Heiterkeit einer südlichen Sonne, als tränken sie alle aus ihr ein ewiges Leben.
Oder waren es nicht vielmehr die Seelen der Verstorbenen, die heute, wo man ihrer gedachte und für sie betete, aus Bäumen und Steinen aufflatterten in die Höhe, um auf Engelsschwingen die Rückreise anzutreten in die ewige Heimat, aus der sie einst als Ungeborene auf der Erde, dieser winzigen Schwester der Sonne, eingekehrt waren als Gäste? So war der Tod kein Ende, sondern ein Anfang, und alles war Leben, das einkehrte und wiederkehrte, dachte er bei sich, als er, tiefberuhigt und erwärmt im Innersten, seinen Heimweg antrat.