Ikarus auf dem Dorfe
Johannes Friedrich Luxem
Auf dem Schneidertisch
Warum eigentlich die Schneider – so war es wenigstens in vergangenen Zeiten – ein beson-deres.Geschick hatten im Sinnieren, im Tüfteln und Experimentieren an skurrilem Krimskrams – niemand weiß es genau. Vielleicht kommt es vom langen Sitzen mit gekreuzten Beinen auf harter Tischplatte, vielleicht erweckte das unaufhörliche Führen feiner Nadeln durch weiche Stoffränder in ihnen die Sehnsucht, sich mit ganz anderen Dingen zu befassen, verborgene Talente zu pflegen. Träume umzusetzen in die Wirklichkeit.
Wie es auch sei: unsere Geschichte erzählt von einem Dorfschneider in der Ahreifel, der -es war kurz vor dem Ersten Weltkrieg – von der Idee besessen war. sich mit einem von ihm selbst konstruierten Apparat in die Lüfte zu erheben, über Vulkanberge und Flußtal zu schweben, es den Vögeln gleich zu tun und so der Enge seiner Schneiderkammer zu entfliehen. In einem Wandschränkchen hatte er alles, was über Fliegen, Ballone. Flugapparate samt kühnen Pionieren der Lüfte geschrieben wurde, sorgfältig gesammelt. Hundertmal las er die Berichte, war vertraut mit Namen und Taten von Montgolfier, Charles, Pilatre de Rozier. Blanchard, Giffard und Otto Lilienthal. Begierig las er Berichte über die Erfolge der Gebrüder Wright und Bleriots. In langen Nächten zeichnete er Pläne, rechnete, baute an kunstvollen Modellen, die später neben vielen ausgestopften Vögeln an der Werkstattdecke hingen.
„Da Schneiderhennes spinnt“, sagten die Nachbarn, wechselten beim Wasserholen am Dorfbrunnen bedeutungsvolle Blicke, bedauerten Tant Agatha, die dem Hagestolz den Haushalt führte. „Watt wird aus mir. wenn da Käel eines Dages fortflücht“, jammerte die Tante. „Nett emol beim Milidär könne se en brauche“, schimpfte Patt Weilern, „awer ende Luft wellen John, et ös en Sund on en Schand!“ –
Doch der Schneider besaß, erfüllt von seiner großen Idee, die wunderbare Fähigkeit, seine Ohren gegenüber solchem Lamento, Kritik. Klatsch und Tratsch hermetisch zu verschließen; er fütterte seine Ziegen hinterm Stall, grübelte über die Verbesserung der Statik seines Flugapparates nach, schmauchte sein Krummpfeifchen mit Krülltabak, schwieg sich aus. –
Ja, nicht ohne Talent und Ehrgeiz war der Schneiderhennes, einst wegen seiner hohen Intelligenz Vorzugsschüler in der Dorfschule. Vom Pfarrer wußte er, daß es Schneider in der Welt oft zu etwas brachten, wie etwa der Schneidergeselle Johann Butzbach, der im Kloster zu Maria Laach lebte und nach seinem Tode 1526 sage und schreibe ein gelehrtes Werk von vierzehn Bänden der Nachwelt hinterließ.
Alles, was mit Wind und Sturm, dem gestirnten Firmament zu tun hatte, erregte das Interesse des schmächtigen Schneiders. In seiner Stube hing eine Aufnahme des Halley’schen Kometen vom Mai 1910; das dicke Buch von den Wundern des Himmels, zwei Physikbücher gehörten zu seiner Dauerlektüre. Er wußte von Baiionen und Aeroplanen, von Springfellows Gleitexperimenten, doch ihm genügte ein Schwebeflug von sechzig Metern und wenigen Sekunden nicht; höher wollte er hinaus von der Kuppe der steilen Lay hinterm Dorf, wo die Aufwinde so günstig wehten.
Er dachte an das Hinausgetragenwerden über den Abgrund, die Wirkung des entgegenströmenden Windes auf gewölbte Flügelflächen. die Möglichkeiten einer Steuerung, die ihn mitsamt seinem künstlichen Vogel hinführen sollte zu den Wiesen am Flußufer, auf denen er sich eine sanfte Landung erhoffte.
Ja, fliegen wollte er, der Schneider, fort und hoch hinaus wie einst Dädalus und Ikarus mit den vielen Nachfolgern im gefahrvollen Reich des Schwebens. Nur der Sonne würde er nicht zu nahe kommen, sein Klebwachs würde nicht schmelzen, die Federn nicht zerstieben vor dem Sturz ins Bodenlose. –
Schieferlay
Jeder kennt dieses Urgefühl: aus der Fron harterArbeit, aus Eingeschlossensein in Werkstatt, Fabrik, Kontor und Kammer plötzlich befreit zu sein: gelungener Fluchtversuch aus dem Alltagstrott hinaus in eine ersehnte Form der persönlichen Freiheit auf windumtobter Kuppe eines Berges, an ein stilles Gewässer, auf farnbedeckte, gründämmernde Waldlichtung oder die Weite eines Kornfeldes.
So erging es dem Schneider jedesmal, wenn er mit einem seiner Flugmodelle hinaufstieg auf die Lay, sich keuchend mit seiner Last niedersetzte und hinabschaute ins Tal. Wenn der Sturm wehte, Westwind von Küsten und Ebenen, begannen sich die Grünkuppeln der Bäume zu bewegen; hin und her wogten sie im Gleichmaß des Winddruckes. Der einsame Träumer aber erkannte in dieser Bewegung die Gewalt des Elementes, dem er sich eines Tages anvertrauen würde. Er benetzte den dünnen Schneiderzeigefinger, streckte ihn in die Höhe, prüfte die Windrichtung. An warmen Sommertagen, wenn sich über dem dunklen Waldmeer Glast und Hitzeschlieren bildeten, warf er Fetzen von Seidenpapier über den Felsrand. In wunderbarem Gleichmaß schwebten die schmalen violetten Streifen, bis sie der Aufwind mitnahm in jene Höhen, denen die Sehnsucht des kleinen Tüftlers galt.
Von diesem Felsen aus ließ der Schneider seine Modelle hinabgleiten. Manche stürzten^ kopflastig in die Tiefe, zerschellten im Verwitterungsschutt oder blieben in den Baumkronen hängen. Ein Modell aber, immer wieder umgebaut, verändert, verbessert, kam nach glücklichem Start ins Gleiten, segelte in sanfter Biegung abwärts, bis es in der Ferne am Ufergelände des Flüßchens niederging. Es wurde zum Muster für seinen Flugapparat, den er mit ungeahnter Zähigkeit und einem nie nachlassenden Eifer in seiner Scheune baute. –
Die Scheune
In der alten Scheune aber nahmen Ideen und Pläne der Konstruktion des Eifler Schneiders Gestalt an; Stück für Stück ging der Flugapparat seiner Vollendung entgegen. Der Dorfschmied Vincenz und der Schreinerfränz glaubten an des Schneiders Ideen. Sie lieferten ihm Hölzer, Latten. Spanten. Keile, Gelenke und Verstrebungen für sein Werk und drückten bei der Rechnung ein Auge zu.
Die Scheune war die Tabuzone des Schneiders. Niemand durfte da hinein außer dem Dorflehrer, Schmied und Schreiner. War sie allein im Haus, schlich sich Tante Agatha durch den Geißenstall in den dörflichen Hangar, näherte sich vorsichtig dem Teufelsspukwerk aus Holzverstrebungen, Drähten, Rädchen und stoffbespannten Flügeln. „Deuwelszeug“, sagte sie voller Ingrimm, „unn do will da möt dem Denge en de Luft John. Net ze jlöwe, op wat für Jedanke da kütt, wo er doch esu ene brave Jong woar un en de Kirch de beste Messedeener!“ In ihrer Kammer hörte sie den Hennes bis spät in die Nacht in der Scheune klopfen, sägen und hämmern. Manchmal, wenn er ein Liedchen sang von der Freiheit der Lüfte, hielt sie sich die Ohren zu oder bekreuzigte sich. „In sein Scheunensanktuarium hat er sich eingeschlossen wie die Raupe im Kokon“, meinte der Pfarrer ironisch und las bei einem Gläschen Ahrburgunder seinen Ausonius.
„Je länger da Hennes an sengem Apparat erömbaut, desto kürzer werden de Ärmel un de Botzebeen an senge Anzösch“, witzelten die Stammtischkartenklöpper, und die Dorfjungen spähten durch die Ritzen des Scheunentores. Maul, Nasen und Ohren standen ihnen offen, wenn es gelang, einen Blick auf das fremde Ungetüm mit spitzem Bug und weit ausladenden Flügeln zu werfen.
Noch mehr Gesprächsstoff sollte das einsame Dorf in den Wäldern erhalten. Eines Tages schlug für den Schneider eine erste Stunde des Triumphes, zugleich fürseine Lieferanten, den Schreiner und den Schmied: ein Automobil ratterte durchs Dorf, verscheuchte Hühner und Geißen. Männer in Staubbrillen fragten nach dem Schneider, fuhren winkend zu seinem Häuschen. Es waren, wie sich herausstellte, Flieger, Aviatiker aus der großen Stadt am Strom. Der Lehrer hatte ihnen geschrieben und nun wollten sie mit distanzierter Neugierde das Werk des Schneiders begutachten. Und es begaben sich in die Scheune drei Aeronauten. Schreiner, Schmied. Lehrer und Pfarrer samt Konstrukteur. Nur die Tant blieb abwartend an der Scheunentür stehen, ging dann in die joot Stuff. den Tisch zu decken. Die Stadtmenschen mit ihrem schwer verstehbarem Gehabe sollten sehen, daß man nicht bei Armen war und daß man wußte, was sich gehört.
Was schließlich in der Scheune unter den Männern alles geredet, begutachtet, gefachsimpelt wurde – wir wissen es nicht. Fest steht. daß man verwundert war über die Fachkenntnisse des Schneiders und über seinen Gleitapparat. Die Aeronauten, Pastor und Lehrer staunten nicht schlecht und sahen den unscheinbaren Mann mit anderen Augen an.
Als endlich beim Abendbrot in der Stuff der Pfarrer drei Flaschen Rotwein auf den Tisch stellte und der Schmied seinen Selbstgebrannten Korn, den Klaren, aus der Tasche zog. als sich die Zungen der Enthusiasten zu lösen begannen, zweifelte niemand mehrdaran, daß der Aeroplan seinen Erbauer demnächst von der Lay aus hoch in die Lüfte tragen werde. Im Dorf allerdings änderte sich die Meinung nicht so rasch. Man blieb beharrlich bei der Einschätzung der alten Bachpättersch Jritt, daß der Teufel, der Gottseibeiuns seine Hand im Spiel habe. Ganz einfach verhext sei der Schneider, das dachten die meisten. Jritt. das wußte auch Tant Agatha, hatte dreimal besondere Stellen aus dem siebten Buch Mose besprochen, um den Schneider zu heilen, doch der Verstockte arbeitete weiter in der dämmerigen Scheune an der Verwirklichung seines Lebenswerkes. –
Ohne Wiederkehr
Über dem Konstruieren, dem Bauen und kleinen Versuchen, einem intensiven Briefaustausch mit dem Aviatikclub der großen Stadt. über Zweifeln am Werk und Erfolgen verging die Zeit, eine wirre, laute Zeit mit Trommelwirbeln und markigen Kaiserreden, Säbelgerassel, Bündnissen und Drohungen.
Über Europa hingen dunkle Wolken; der Himmel begann sich zu verdüstern, auch der Himmel unseres Schneiders, den er mit seinem Flugapparat erobern wollte.
Die Mobilmachung kam. Einberufungen nahmen zu. nur. daß sich all das im Ahreifeldorf mehr in Stille vollzog, ganz ohne Getrommel. Gerassel und ohne markige Worte: heimlich flössen hier die Tränen. Das Nachtgewächs der Bitternis, die Dürrezeit der Trennung zählten schwerer. Hier wartete die Ernte auf die Hände der Männer und Söhne, doch die blieben fort in den Knochenmühlen der Materialschlachten an Somme, Marne, bei Verdun oder im fernen Galizien.
Still wurde es um den Schneiderhennes und seinen kunstvoll erbauten Apparat und gegen Kriegsende wurde der Schneider sogar noch einberufen.
Da hüllte er um sein Lebenswerk, seinen Wirklichkeit gewordenen Tagtraum in der Scheuer allen Stoff, der in seiner Werkstatt lagerte. Er nähte seinen Aeroplan regelrecht ein, spann ihn zu mit Stoffen und Fäden, ein Kokon in der Erwartung kommender Metamorphose. Sogar Tant Agatha verlor plötzlich alle Herbheit, ihr kantiges Wesen zerfloß in einem tränenreichen Abschied.
Es kam, wie es kommen mußte: der schmächtige Hennes mit all seinen klugen Ideen kehrte nie mehr zurück zum Schneidertisch. Leer blieb die Scheune: in der Etappe fiel der Unglückliche bei einem Fliegerangriff auf die Armeeschneiderei. in der er arbeitete.
Und sein Lebenswerk, sein Flugapparat? Unrühmlich und dunkel war sein Ende: Besatzungstruppen konfiszierten das seltsame Gerät. Es wurde zerlegt, verpackt und abtransportiert, niemand weiß wohin.
So traurig und so unerfüllt endet die Geschichte aus dem Eifeldorf. Doch über dem Vergänglichen schweben Tröstungen. Nicht weit vom Dorf des Schneiders, in einem Nachbarort, bildete sich später eine Gruppe junger, regsamer Männer, die sich der Idee des Fliegens verschrieben. Sie konstruierten und bauten sich ihre einfachen Segelflugzeuge selbst, flogen über Wälder, Flußtal und Schieferlay, freilich, ohne zu ahnen, was sich dort einst ereignete. –
Epilog
Mag auch das Feuer erlöschen, die Asche zerstreut sein in alle Winde, wiederkehren wird der Wind und zurückbringen die Kunde von vergangenem Geschehen, von Dörfern, Scheunen, Arbeit und Armut, von Säen und Holzfällen, vom Häherschrei aus dem Dunkel der Eifelwälder. Kunde von den Menschen, die dieses rauhe Land bewohnten und deren Leben wieder Gestalt annimmt in den Geschichten, die man sich zuweilen noch in den kleinen Dörfern erzählt. . .