„Ich bin eine Ahrländerin“ – Back to the roots: Eine Amerikanerin auf Spurensuche in der Heimat ihrer Vorfahren
Sicher wäre Mrs. Doris Diffly Emmerson aus Birmingham. Alabama, einer Mittelstadt im tiefsten Süden der Vereinigten Staaten von Amerika, nie zu einer „Ahrländerin“ geworden. wie sie nach Abschluß ihrer Spurensuche in der Region zwischen Rhein und Ahr stolz verkündete. Ausschlaggebend für dieses Erfolgserlebnis im Seniorenalter waren nämlich eigentlich zwei ganz profane Dinge: einmal der ihr von ihrem Ehemann Raymond zu Weihnachten geschenkte Heimcomputer und zweitens eine Anzeige in der Lokalzeitung, dem ..Birmingham News Journal“. Don wurde eine Software angepriesen. ..Back to the roots“, hieß es werbewirksam und verlockend. „Begeben Sie sich auf Spurensuche nach Ihren Vorfahren! Erforschen Sie die Herkunft Ihrer Familie! Wo sind ihre Wurzeln?“
Start in die Vergangenheit
Das Computerprogramm, einmal in den Rechner geladen, machte den Start in die Vergangenheit einfach. Auch für Mrs. Doris Emmerson. die vorher noch nie mit einem Computer zu tun hatte. Der graphische Rahmen für die Ahnentafel war in jenem Software-Programm bereits vorgegeben. Man brauchte nur noch die erforderlichen Eintragungen vorzunehmen. Nur noch? Leicht gesagt, doch an Geduld und Zeit dann doch recht aufwendig getan. So begann für Mrs. Doris Emmerson aus dem fernen Alabama ein spannendes Abenteuer, das sie schließlich in Begleitung ihres Sohnes Ray erwartungsvoll über den Atlantik nach „merry old Germany“ jenen ließ und sie letztendlich zu der stolz verkündeten Erkenntnis führte:
„I’m an Ahrländerin – ich bin eine Ahrländerin!“
Forschungsreise ins Unbekannte
Das Endergebnis dieser zweiwöchigen Forschungsreise ins Unbekannte können wir hier bereits vorwegnehmen, ohne damit den weiteren Verlauf unserer Geschichte zu schmälern. Sie ist nämlich noch für einige weitere Überraschungen und Verblüffungen gut. Zunächst aber zum Resultat jener vergangenheitsträchtigen Spurensuche an Rhein und Ahr.
Da hatte also anno 1882 der 25 Jahre junge Schmiedegeselle Peter Joseph Gies aus dem Ahrtaler Winzerort Rech eine 22 Jahre junge Maid aus Sinzig kennen und lieben gelernt:
Maria Magdalena Ott. Tochter des dort ansässigen und wohlangesehenen Handwerkmeisters Friedrich Michael Ott und seiner Ehefrau Josephine Theodore, geborene Heisterborg. Die jungen Leute, der Peter Joseph und seine Maria Magdalena. hatten Träume, große Träume. Die kleine Ortschaft Rech und das Städtchen Sinzig schienen ihnen zu eng. Die Weite lockte und verlockte und so schickten auch sie sich an – wie so viele andere in den Jahren vorher und nachher – den „großen Sprung über den Atlantik“ zu wagen, in die verheißungsvolle „Neue Welt Amerika“. Dort waren junge, kräftige Männer gefragt, die, wie der Peter Joseph aus Rech nicht nur ihre großen Träume von ferner Weite und herausfordernden Abenteuer hatten, sondern auch ihre Hände zu rühren wußten, und dies in seiner Person auch noch besonders zupackend mit dem Schmiedehammer und handwerklichem Geschick. So hatten es jedenfalls die Werber versprochen, die allenthalben beredt von der verheißungsvollen Zukunft in „God’s own country“ mit seinem dort so reichlich vorhandenen Dollarsegen zu künden wußten.
Hunderttausend pro Jahr
Die große Welle der deutschen Auswanderung in die Vereinigten Staaten hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Bis zum Beginn des l. Weltkrieges 1914 waren es an die fünfeinhalb Millionen Deutsche, die ihr Glück in der „Neuen Welt“ versuchten. Allein in den fünf Jahrzehnten von 1846 bis 1893 verließen jährlich an die 100 000 ihre Heimat. Absolute Höhepunkte waren dabei insbesondere die Jahre 1850 und 1880. in denen es nach der US-Einwanderungsstatistik sogar jeweils rund 200 000 Deutsche über den Atlantik zog. Die sogenannte dritte und letzte der großen Auswanderungswellen begann 1880 und dauerte bis 1893. Sie führte ca. l,8 Millionen nach Übersee. In den Jahren danach sanken die Auswanderungszahlen kontinuierlich und lagen fortan bis 1914 nur noch bei rund 50000 pro Jahr.
Von der Ahr nach Alabama Das Ahrtaler Auswandererpaar Peter Joseph Gies aus Rech und seine alsbald geehelichte Maria Magdalena, geborene Ott aus Sinzig, hatte Glück. Ihr Weg führte es von der ersten Station, der Stadt New York, weit nach Südwesten bis in den Staat Alabama, wo sie sich in der Hauptstadt Montgomery niederließen und einen auskömmlichen Wohlstand fanden. Peter Joseph schwang dort alsbald nicht mehr den Schmiedehammer, sondern nutzte seine handwerklichen Fähigkeiten als viel gefragter selbständiger Werkzeugmacher. Im Jahre 1897 wurde ihnen eine Tochter geboren, Heien Josephine Gies, die später einen Peter Franklin Diffly heiratete. Und deren Tochter wiederum, das ist die 1923 geborene Doris May Diffly. Und sie, die spätere Doris Emmerson, heute wohnhart in der Alabama-Stadt Birmingham, das ist auch die Hauptperson unserer Geschichte. Da haben wir sie also: die amerikanische Ahr-länderin Doris, die – inzwischen 76jährig – auszog, um an Rhein und Ahr nach ihren Wurzeln zu suchen – und fündig wurde, in Rech und in Sinzig, den Heimatorten ihrer Großeltern, wie auch in Mendig, wo ihre Urgroßeltern mütterlicherseits vor fast 200 Jahren zu Hause waren.
Man vermag sicherlich die Verblüffung des Autors nachzuvollziehen. Da steht plötzlich eine ihm völlig unbekannte ältere Dame mit einem jungen Mann vor der Haustür in der Remagener Rheinpromenade.
„Hello, are You Mr. Grohs, Mr. Karlheinz Grohs? Exuse me, I have a question? What’s Your mothers birthname? Ott, really Ott, Outiti, from Sinzig? O.K. Then You are my cousin! l’m Doris Emmerson from Birmingham, Alabama, and this is my son Ray. And Sir, l’ll tell You. My grandmother’s birthname was Ott, Outiti, how I spellt, and she was born in the place named Sinzig.“
Auch diesmal ein Abenteuer
Es war diesmal ein Abenteuer in umgekehrter Richtung. Da machen sich zwei aus Amerika auf den Weg, zwei die zwar der deutschen Sprache nicht mächtig sind, aber voller Zuversicht und Gottvertrauen. Irgendwie würde es schon gehen. Genauso wie der Peter Joseph und die Maria Magdalena damals, die ebenfalls die Sprache in der „Neuen Welt ihrer Träume und Hoffnung“ nicht beherrschten und trotzdem vorankamen. Die Großmutter, so hat Doris dem Autor später berichtet, hat das Englische übrigens ihr Leben lang nicht richtig gelernt. Und sie erzählte von der alten deutschsprachigen Bibel, die noch heute von der Familie sorgsam gehütet wird. In ihr finden sich zahlreiche handschriftliche Anmerkungen der Großmutter, fein säuberlich geschrieben in für Amerikaner ohnedies unentzifferbarer deutscher Schreibschrift.
Die Schönheit der Urheimat
Selbstverständlich hat sich der Autor der ihm so überraschend ins Haus gekommenen „neuen und doch so alten“ Verwandten gastfreundlich angenommen. Er ist mit ihnen auf die weitere Entdeckungsreise gegangen und hat ihnen die Schönheiten der Landschaft wie auch die vergangenheitsträchtigen Sehenswürdigkeiten der „Urheimat“ gezeigt. Man braucht es eigentlich nicht zu betonen:
Doris und Ray waren begeistert. Und sie waren auch voll des Lobes über die entgegenkommende Freundlichkeit der Mitarbeiter in den lokalen Behörden in Ahrweiler und Rech. in Sinzig wie in Mendig, die bei der Spurensuche behilflich waren.
Heimat der Vorfahren: Sinzig, um 1930
Und dann die anderen Verwandten, die man aufspürte und traf: Alfred und Werner, Fritz, Marianne und Trude, and so on, and so on . . . -„What a lot of relatives, what a lot!“ Man saß beisammen und der Fragen waren viele. Wie war das damals, als Granddad Peter Joseph and Grandma Maria Magdalena sich aufmachten? Und da er ein bißchen Bescheid weiß in der kleinen und der großen Historie. der Cousin „Kolhains“ – so klingt es. wenn Amerikaner sich zungenbrechend an Karlheinz versuchen – wußte er der Doris und dem Ray etliches zu berichten über die Geschichte der Auswanderung über den „großen Teich“.
Wenig Brot und Lohn
In erster Linie waren es soziale Nöte, die so viele Menschen dazu trieb, die angestammte Heimat zu verlassen. Mißernten brachten überall in den ländlichen Gebieten, so auch in den bäuerlichen Dörfern der Eifel und Voreifel wie in den Winzerorten des Ahrtals regelrechte Hungerjahre. Dazu kamen eine Bevölkerungsexplosion, die in der Folge für zu viele Menschen zu wenig Erwerbsmöglichkeiten bot. und der nicht weniger folgenreiche Übergang von den agrarischen zu den neuen industriellen Strukturen. Wie groß die Not der Menschen allerorten war. dafür gibt es zahlreiche Belege. In der Eifel beispielsweise sprechen amtliche Berichte wörtlich von „bettelarmen Eingesessenen, die in vielen Dörfern von ihren Äckern nicht einmal mehr das tägliche Brot erwinschaften konnten“. Im Ahnal mit seinen steilen Hängen und den kargen Schieferböden sah es nicht besser aus. So war das Jahr 1845 im Rheinland ein besonders schlechtes Jahr. Wochenlanger Regen führte dazu, daß die Kartoffeln, neben Brot das Hauptnahrungsmittel der Menschen, auf den Äckern verfaulten. Auch im folgenden Jahr 1846 gab es fast keine Kartoffeln und nur wenig Korn. Ein Brot kostete 7 1/2 Groschen, das war beispielsweise der Tageslohn eines Chausseearbeiters.
Das zur Verfügung stehende Ackerland reichte für die in der Landwirtschaft Tätigen längst nicht mehr aus. Aber auch das Handwerk vermochte die zahllosen Arbeitsuchenden nicht aufzunehmen. Für Frauen gab es ohnehin keine Berufsaussichten.
Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Johann Gottfried Kinkel (1815-1882), der aus politischen Gründen selbst über England nach Nordamerika emigrieren mußte, Schilden in seinem 1849 erschienenen Buch „Die Ahr“ eindrucksvoll die Not der Menschen in der Ahrregion. Das rauhe Land habe seine Nahrungsquellen erschöpft, und es sei keineswegs phantastischer oder poetischer Sinn, der die Ahrbewohner in die Ferne treibe. In einem Landstrich, wo auch der getreueste Fleiß den Bewohner nicht vor bitterer Sorge schütze, sei es nicht verwunderlich, wenn die Sehnsucht nach einer glücklicheren Heimat erwache.
Selbst der Pastor zog mit
Kinkel: „Die meisten Auswanderer gingen im Sommer 1842 den Rhein hinab (auf die große Reise), vorzüglich aus dem Kreis Adenau. Doch hat die Lust da und dort auch schon die eigentlichen Weindörfer ergriffen …
Rührend, wie überall, und hier noch mehr, wo die Auswanderer ein unvergeßlich schönes Land verlassen, war dieser Trieb in die Ferne, der in jenem Sommer das ganze Ahrtal ergriffen hatte. Greise und Kinder zogen mit: Häuser und Güter wurden um die Hälfte des Wertes losgeschlagen: ohne Auswanderer war auf der Oberahr keine Ortschaft.
Ansicht von Rech, um 1920
Ganze Dörfer wollten ihre Stätte räumen. Das Dorf Hummel nahe beim Aremberg gedachte seine ganze Dorfgerechtigkeit aufzulösen . . . und auszuziehen, der Priester voraus mit Kreuz und Fahne.“
Am Beispiel der Ahrkreis-Gemeinde Wershofen hat der lokale Historiker Rainer Jusien vor einigen Jahren in seinem Heimatbuch „Sechshundert Jahre und mehr … – Geschichte und Geschichten von Wershofen und Ohlenhard“ (erschienen 1995) die Auswanderer aus dem Zeitraum von 1840 bis 1923 mit Namen und persönlichen Daten exakt aufgelistet. Als hauptsächliche Ziele werden von ihm u. a. der Staat Wisconsin im Norden der USA und die Stadt Baltimore im Unionsstaat Maryland genannt.
„Traumhafte“ Versprechungen
Angesichts dieser Verhältnisse florierte das Geschäft der Werber für die Auswanderungen. Vielfach wurden von ihnen jedoch „traumhafte“ Versprechungen gemacht. So verhieß ein Koblenzer Agent jedem von ihm vermittelten Aus-wandcrungswilligen im mittleren Westen der Vereinigten Staaten kostenlos 200 Morgen (50 ha) gutes Ackerland. Nur die Überfahrt müsse selbst bezahlt werden.
Am 5. 11. 1849 wurde für eine Reise mit dem Postschiff Antwerpen – New York von Koblenz aus geworben, ein Dreimaster von 700 Tonnen. Die Überfahrt kostete 45 Gulden für Erwachsene und 35 Gulden für Kinder. Für den 4., den 12., den 19. und den 27. Juni 1850 wurden gleich vier weitere in rascher Folge absegelnde Postschiffe von Le Havre nach New York in Anzeigen angeboten. Überfahnen mit Segelschiften gab es noch bis zum Jahr 1860. Die Atlantiküberquerungen dauerten bei günstigen Winden in der Regel um die 6 Wochen.
Für 34 Thaler über den ..grüßen Teich“
In einer Zeitungsanzeige, die im April 1853 in Koblenz erschien. hielt es: ..Das concessionierre Bureau zum Schütze der Auswanderer von F. W. Geilhausen zu Koblenz befördert Auswanderer von jedem Hafen aus nach Nord- und Südamerika, sowohl mit Segel- wie mit Dampfschiffen.“ In einem anderen Inserat war zu lesen: „Ich befördere immerwährend Auswanderer über jeden Hafen frei mit Einschluß der nach gesetzlicher Vorschrift gekochten Seekost zu 34 Thaler. Die besten Zeugnisse über gute Beforderung sind bei uns einzusehen. Der Hauptagent.“ Wie in Koblenz waren auch in anderen rheinischen Städten zahlreiche dieser professionellen Auswanderungs-Vermittler tätig.
Doris und Rav Emmerson waren an alldem höchst interessiert. Von diesen Umständen. die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Menschen in Massen nach Übersee auswandern ließen, hatten sie noch nie etwas gehört. Ebensowenig war ihnen in Alabama jemals etwas über Menschen und Landschaft in der Region an Rhein und Ahr. der Heimat ihrer Vorfahren, bekannt geworden.
„Wir in Amerika wissen viel zu wenig von Euch“, meinte sie. um dann spontan einen Satz hinzuzufügen, der die Runde schmunzeln ließ und auch viel Applaus auslöste. ..Das ist ab jetzt aber anders. Denn nun bin ich ja eine echte Ahrländerin. isn’t it?“ „It is Doris, really it is!“ Cousin „Kolhains“ hob ihr den Pokal mit dem rubinroten Ahrburgunder entgegen. ..Prosit Doris! Prosit Ray!“ Und er versprach den beiden die Geschichte von der „Ahrländerin“ Doris Diffly Emmerson aus Birmingham, Alabama, zu schreiben. – für das Heimat-Jahrbuch des Kreises Ahrweiler.