„Holegäns“
Eine unterhaltsame Plaude über den Vogelzug
VON PETER HERBER
Noch bevor das trompetende Rufen „kruh krürr“ der herannahenden Kraniche zu vernehmen ist, zeichnet sich fern am Horizont ihre charakteristische Zugordnung ab. Sie gleicht einem Keile, bei dem ein Schenkel meist länger gezogen ist. Wer hält dann nicht selbst im hastenden Getriebe unserer Tage, stille für kurze Zeit, aufschauend nach dem rudernden Heer in den Lüften. Es kündet vom kommenden Nahen des Winters oder bringt im Gefolge den Frühling. Besonders Menschen mit naturverbundenen Berufen wie Förster, Bauern, Winzer und Fischer verfolgen teilnehmend diese jahreszeitlich bedingte Erscheinung in der Vogelwelt. Ziehende Kraniche sind der Inbegriff für eine Unzahl von Vogelarten, die seit urdenklichen Zeiten, längst ehe eines Menschen Fuß die Erde überschritt, im Wechsel der Jahreszeiten aus unerklärlichen Gründen ihr Brutgebiet verlassen, in wärmere Erdzonen mit reicher Atzung den nordischen Winter überstehen, um dann aber wieder todsicher heimzufinden zur Stätte der Kinderstube. In unserem Heimatgebiet merken wir sonst bedauerlicherweise wenig vom Zug der Vögel; es sei denn, daß sie im September bis Oktober eines guten Morgens nicht mehr da sind oder aber im März=April sich genau so wieder einstellen. Heimlicher Abzug und lautlose Rückkehr von Kuckuck, Schwalbe, Rotschwanz und anderen Arten spielen dann im ländlichen Brauchtum eine nicht unbedeutende Rolle. „Maria Geburt ziehen die Schwalben furt.“ „Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling“. Selbst in Liedern und größeren Werken der Dichtung findet dieses erhabene Schauspiel vom Vogelzug seinen Niederschlag: Die Kraniche des Ibykus; Zogen einst fünf wilde Schwäne. Warum nennt der Volksmund ziehende Kraniche „Holegäns“? Eine Erklärung dafür mag wohl der Sprachforscher geben. Holen, althochdeutsch holon, altenglisch gehollian, altnordisch hale bedeutet ziehen. „Holegäns“ sind somit Gänse, die ziehen, Zuggänse. Hole aus dem Indogermanischen calo und dem Griechischen caleo führt auf: rufen. Demnach können Holegäns auch Ruf= oder Schreigänse sein. Wenn schon diese beiden Deutungen: Zuggänse, Rufgänse für die durchwandernden Kraniche zutreffen, mag doch eine dritte nicht absolut zu verwerfen sein: Ein unbedingt notwendiges Requisit der Kücheneinrichtung unserer Altvorderen war die Hai, Häl oder Hol. Ähnlich einer klobigen Schrotsäge mit groben Zähnen und primitiver Schiebevorrichtung war die Hol über dem offenen Kaminfeuer im „Haus“ angebracht. Ein Vergleich der ungeschlachtenen Holzzähne mit der Keilform ziehender Kraniche dürfte auch nicht ganz abwegig sein. So alt wie das Wissen um den Vogel selbst ist auch der Begriff: Vogelzug. Aber gerade in unseren Tagen zeitigten exakteste Forschungsmethoden derartig verblüffende Erkenntnisse in den fesselnden Problemen seines Woher und Wohin, des Wie und Warum, daß ohne Übertreibung von einem Wunder des Vogelzuges gesprochen werden darf. Die Forschungsergebnisse füllen bereits ganze Büchereien; und noch immer größer wird der Kreis der begeisterten Vogelkundler, alle Geheimnisse des Vogelzuges zu entschleiern. Somit wird es dem Leser verständlich sein, daß im Rahmen eines Beitrages zum Heimatkalender auch nur gedrängt auf das Notwendigste eingegangen werden kann.
Eine bis noch vor nicht allzu langer Zeit vertretene absonderliche Meinung, wonach Vögel wie Lurche im Schlamm der Teiche, Schwalben etwa wie Fledermäuse in hohlen Bäumen und Erdlöchern den Winter überschlafen, andere Kleinsänger als blinde Passagiere sich auf dem Rücken und im Gefieder der Großzugvögel (Storch, Kranich) in wärmere Länder tragen lassen, fußt sicherlich auf dem Werk „Geschichte der Tiere“ des griechischen Philosophen Aristoteles (gest. 322 v. Chr.).
Erst die Einführung der Vogelberingung seit etwa 50 Jahren brachte einen so gewaltigen Fortschritt, daß sie als Grundlage der modernen Vogelzugforschung angesehen werden kann. Der Ring als Reisepaß! Fleißigste Kleinarbeit hat schon zu ungeahnten Erkenntnissen geführt. Verfasser hat über ein Jahrzehnt für die Vogelwarte Helgoland in mehreren Eifeldörfern unseres mittleren Heimatkreises Kleinvögel beringt und dadurch einen Einblick in diesen überaus interessanten Konvplex der Vogelzugforschung bekommen. Träger der Beringung sind die staatlichen Vogelwarten. Durch den unglücklichen Kriegsausgang mußten die beiden deutschen Vogelwarten Helgoland und Rossitten auf der Kurischen Nehrung nach Wilhelmshaven bzw. nach Schloß Möggingen bei Radolfzell am Bodensee verlegt werden. Seit 1948 kam eine dritte auf Hiddensee, einem Inselchen vor Rügen, hinzu. Insgesamt betätigten sich augenblicklich in Europa 25 Beringungszentralen. Die Vogelwarten versenden an ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter — vor dem Kriege waren es etwa 1 000 in Deutschland — Ringe aus einer besonders haltbaren Aluminiumlegierung. Sie sind, angepaßt der zu beringenden Art, in 12 Gruppen gegliedert mit einem Gewicht von 0,03 bis 0,04 Prozent des jeweiligen Vogelgewichtes. Mit Hilfe einer Spezialzange wird der Ring leicht um ein Bein des Vogels so angebracht, daß er sich in keiner Hinsicht dem Träger hinderlich oder gar schädlich erzeigt. Ein von mir beringtes Rauchschwalbenpärchen trug sieben Jahre lang unbehelligt den Beinring. Auf diesem sind der Name der Vogelwarte und eine laufende Nummer eingraviert. Nach erfolgter Beringung wird die Nummer mit Orts= und Datumsangabe in einer Liste sorgfältig vermerkt. Diese erhält die Vogelwarte am Ende des Beringungsjahres zurück. Vor dem letzten Kriege betrug die Zahl der beringten Vögel bei beiden Warten 180—200 000. USA und Kanada gaben 1940 5,5 Millionen beringter Vögel an. Durch Fund oder absichtlichen Wiederfang lebender Tiere erfolgt in der Regel eine Rückmeldung an die auf dem Ring vermerkte Zentrale. Es ist leicht verständlich, daß bei dem verhältnismäßig niedrigen Hundertsatz der markierten Vögel eine, besonders aus abgelegenen und dünn besiedelten Landstrichen, noch geringere Zahl von Fundmeldungen erfolgt. Es wurde sogar beobachtet, daß Negermädchen Storchringe als Amulett trugen. Meist bleibt der Satz der Fundmeldungen bei Kleinvögeln weiter unter ein Prozent. Dagegen ergeben jagdbare und auffallende oder größere Vögel viel zahlreichere Wiederfunde: Schnepfen , Schwarzstorch 24, Bleßhühner und Enten 30, Habichte in einem Fall 45, in einem anderen fast 70 Prozent.
Es kann zunächst die gebräuchliche Einteilung in Stand=, Strich= und Zugvögel in ihrer heutigen Form nicht mehr aufrecht erhalten bleiben. Wirkliche Standvögel, die aus ihrem Wohnbereich niemals hinauskommen, gibt es tatsächlich nur wenige. Der Haussperling ist zu ihnen zu zählen. Den meisten für Standvögel gehaltene Arten konnten recht erhebliche, teils gelegentliche, teils regelmäßige Wanderungen nachgewiesen werden. Das sind die Strichvögel, die ihr Brutgebiet ohne vorherrschende Richtung verlassen, um dem Gebirgswinter in mildere Lagen auszuweichen, z. B. Bergfinken und Stare. Dagegen tauchen dort, wo der Tisch noch reichlich gedeckt ist, die Zigeunervögel auf; ebenso durch Stürme und Nebel verschlagene Irrgäste. Wieder andere sind Invasionsvögel. Letztere führen wahrscheinlich die Wanderungen zur Ausbreitung ihres Brutraumes aus. Zu ihnen zählen Seidenschwanz, Tannenhäher, Kreuzschnäbel, Zeisige und Rosenstar. Vögel, die sich der menschlichen Siedlung besonders nahe angeschlossen haben, neigen zu Überwinterungsversuchen: Buchfink, Amsel, Ringeltaube und Star. Ja, Amsel, Fink, Star und Haubenlerche können Stand=, Strich= und Zugvögel zugleich sein.
Entgegen diesen mannigfaltigen Wanderbewegungen sprechen wir von Zugvögeln und Vogelzug dann, wenn es sich um eine regelmäßige, alljährlich wiederkehrende und jahreszeitlich gebundene Erscheinung handelt. Im Herbst= oder Wegzug verlassen sie ihre Heimat, ein nicht zu eng begrenztes Gebiet, in dem sie geboren wurden, und kehren im Frühjahr im Heim oder Rückzug an die Stätte zurück. Ziel des Wegzuges ist ihr Winterquartier, die Winterherberge, ihre Ruhezeit. Dabei ist das Überwinterungsgebiet verschieden groß und selten fest begrenzt. Die bevorzugten Winterquartiere europäischer Zugvögel sind nicht etwa Afrika, der „Warme Süden“ allein, wie allgemein angenommen wird. Unsere engere Heimat, Holland, Belgien, Südfrankreich, Spanien und Nordwestafrika sind beliebte Gebiete für die Winterherberge von Arten aus Nord= und Osteuropa. So wurde in Ahrweiler im Januar 1960 ein Buchfinkenpärchen mit einem Ring der Vogelstation Moskau gefunden. Stark bevorzugt werden das Niltal, Ostafrika, weniger das Innere dieses Kontinentes. Überaus dicht besiedelt ist Südafrika bis zu den Kapprovinzen. Keine Vogelart zieht auf ganz geraden Wegen vom Brutgebiet zum Winterquartier. Dennoch kann von gewissen Zugstraßen die Rede sein. Beim Storch z. B. ist deutlich eine SW= und SO=Richtung des Zugweges bekannt. Eine allgemein verbindliche Regel dafür kann in keinem Falle aufgestellt werden. Abweichungen vom Idealzugweg treten sehr häufig ein, bedingt durch Vergesellschaftung während der Reise, Aufsuchen von Futter= und Rastplätzen, Zerschlagungen durch Stürme und Nebel und plötzlich auftretende krasse Klimawechsel. Die Beschaffenheit der zu überfliegenden Erdoberfläche, Verlauf der Gebirge, Flüsse und Meeresküsten werden in erstaunlicher Anpassung umgangen oder zum Vorteil ausgenutzt. Sehr verschieden nach Alter und Geschlecht beginnt der Abzug, und selten bleibt der Familienverband erhalten. Auf Helgoland eröffnen die jungen Buchfinken, Feldlerchen. Rohrammern, Hausrotschwänze und Turmfalken den Herbstzug. Ihnen folgen die alten Weibchen, denen sich dann die Hähnchen anschließen. Beim Kuckuck, Rotrückenwürger und der Mönchgrasmücke starten die Alten vor den Jungen. Von Waldschnepfen ist ein früherer Jungen=Zug bekannt. Bei anderen Arten ziehen die Mütter und Jungen zuerst, während die Männchen, die auch das Brutgeschäft besorgten, viel später folgen oder gar am Orte bleiben. Weit verbreitet ist die Gewohnheit, daß im Frühjahr die Männchen längst vor den Weibchen zurückkehren. Das ist biologisch wohl begründet. Die Männchen er= künden das Brutrevier, verteidigen es bis zur Ankunft der Weibchen, „denen ihr Gesang dann ausdrücken soll: Hier ist ein Mann mit Wohnung!“
Überaus mannigfaltig sind die Flugformationen. Kraniche, Wildgänse und Enten ziehen in der bekannten Keilform. Austernfischer erscheinen in langer, breitfrontiger Kette. Diese Flugformen bieten für Langstreckenflüge aerodynamische Vorteile; der Luftwiderstand wird auf ein Drittel herabgesetzt. Darauf ist die ständig zu beobachtende disziplinierte Ablösung des „Spitzenreiters“ zurückzuführen. In dicht geschlossenen Schwärmen wandern Stare und kleinere Singvögel, wobei jede Richtungs=Schwenkung wie einexerziert geschlossen ausgeführt wird. Lockerer sind die Schwärme der Hohl= und Ringeltauben. Oft bilden sich aus mehreren Arten zusammengesetzte Reisegesellschaften. Einzelwanderer sind Kuckuck, Wiedehopf, Eisvogel, Wendehals und viele Raubvögel; Sperber halten dabei Abstand auf Sichtweite. Zahlreiche Vogelarten reisen stumm; so Kuckuck, Wiedehopf, Star und namentlich die Raubvögel. Dagegen bleiben andere durch ständige Lock= und Schreirufe in Stimmfühlung.
Sehr umstritten war lange Zeit die Frage um die Zughöhe. Man nahm an, daß der Flug in großen Höhen den Vögeln eine bessere Orientierung ermögliche oder ihnen durch günstigere Luftströmungen Reisevorteile brächte. Zweifellos wird mit zunehmender Höhe der Radius des Blickfeldes beträchtlich erweitert. Dennoch ist bis heute nicht bekannt, ob das Vogelauge imstande ist, aus Riesenhöhen den über der Erde lagernden Dunstschleier zu durchdringen. Die vermuteten Flughöhen schwankten zwischen 3000 bis 12000 Meter. Wahrhaftig phantastische Höhen. Neuerdings haben die Vogelkundler (Ornithologen) vom Flugzeug aus die Gelegenheit, genaueste Messungen vorzunehmen. Übereinstimmend steht fest: Der Vogelzug voll= zieht sich hauptsächlich in einigen hundert Metern Höhe; tausend Meter werden häufig überschritten, die Grenze scheint bei dreitausend Metern zu liegen. Bezüglich der Zuggeschwindigkeit gibt folgende Tabelle die Stundenleistung an:
40 km Sperber und Neuntöter,
50 km Kranich, Ringeltaube, Herings= und Mantelmöve,
52 km Krähen,
55 km Finken und Zeisige,
60 km Wanderfalke,
61 km Dohle und Kreuzschnabel,
69—85 km Sumpf= und Strandvögel,
75 km Star,
69—91 km Gänse,
92—97 km Enten,
100 km Schwalben,
150 km Mauersegler.
Nun ist es nicht so, daß sich aus der Stundengeschwindigkeit eine entsprechende Tagesleistung ergäbe. Der Flug ins Winterquartier wird von oft mehrtägigen Rast= und Futterpausen unterbrochen. Es ist nicht etwa ein unaufhaltsames Dahinstürmen; vielmehr kann er mit einem gemächlichen Bummeln verglichen werden. Dagegen vollzieht sich der Rückflug zum Rüsten für das Brutgeschäft rascher; mit ungestümer Hast streben die Vögel dem Brutgebiet zu. Die normale, täglich zurückgelegte Strecke kann bei Singvögeln mit etwa 60 km angegeben werden und dürfte bei den Schnepfenvögeln mit 500 km das Höchstmaß erreichen. Weitziehende Vögel haben eine durchschnittliche Tagesleistung von 150 bis 200 km, während weniger weit wandernde Arten meist unter 100 km bleiben. Daraus erklärt sich auch die verhältnismäßig lange Reise; abgesehen von einigen Ausnahmen ist sie kein Nonstop=Flug. Der Storch benötigt bis nach Südafrika 3—4 Monate, das gleiche gilt für den Rötrückenwürger. Schwalben wandern von September bis Anfang November. Zum Teil müssen gewaltige Strecken zurückgelegt werden. Beim Storch beträgt sie rund 10 000 km; den Rekord hält eine amerikanische Küstenseeschwalbe. Sie wandert von der Mitternachtssonne der Arktis bis zur Mitternachtssonne der Antarktis; in einer weltumspannenden Reise von 17 000 km benötigt sie dazu etwa zehn Wochen mit einer durchschnittlichen Tagesleistung von 250 km; und das zweimal im Jahre. Fürwahr, eine unglaubliche Leistung. Da tauchen doch unwillkürlich die Fragen auf: Wie kann der zarte Vogelorganismus solche Leistungen vollbringen, wie ungeheuer groß müssen die Kraftquellen und Energiereserven im Vogelkörper sein, solche Strapazen durchzustehen. Auch hier wieder geht die Natur ihren bestimmten Weg. Durch ein rasches Fettwerden in den Monaten vor Beginn der Wanderung werden genügend Reserven im Vogelkörper gespeichert. Bei den Zuganstrengungen werden zunächst die Glykogen= (Stärke=) und Fettvorräte der Leber aufgebraucht; danach schwinden die Fettpakete der Muskeln. Durch die Rast= und Nahrungspausen an futterreichen Plätzen erfolgt eine ständige Auffrischung. Dazu stellt sich der gesamte Organismus auf Verminderung des Stoffwechsels um. Noch ein Drittes darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben; der Zugschlaf. So sonderbar es klingt, handelt es sich dabei um ein vielfach bezweifeltes, in jüngster Zeit bei Schwalben und Seglern einwandfrei festgestelltes, höchst erstaunliches Verhalten beim Zug. Diese Arten unterbrechen bei anhaltend schlechtem Wetter auf Tage ihren Herbstzug, sammeln sich an trockenen, warmen Stellen, um in einem Zustand der Lethargie bei einem Minimum von Nährstoffverbrauch die Lebensgefährdung zu überstehen. Dabei bilden sie traubige Klumpen von 100—200 Tieren.
Wie orientieren sich die Zugvögel? Die Arbeiten zur genauen Klärung dieses Problems stecken noch in den Kinderschuhen. Großangelegte Experimente mit Massenverpachtungen über mehr als 1000 km Entfernung vom Geburtsort ließen erkennen, daß die Kraft und der jeweilige Stand der Sonne und der Sterne den Zug einigermaßen richtungsmäßig beeinflussen. Andere Forscher vermuten in der Nasenhöhle, in den Fächergebilden der Augen oder im Labyrinth des Ohres einen Spürsinn, der auf Licht und Windrichtung reagiere. Hinzu kommt die Annahme eines gefühlmäßig betonten oder gar angeborenen Strebens zur Einhaltung bestimmter Richtungen, fußend auf einem Kompaßsinn. Dann sollen die physikalischen Formen der Erdoberfläche — Gebirgszüge, Flußläufe usw. — wegweisend sein. Die Untersuchungen der Einwirkung elektrischer oder erdmagnetischer Kräfte, geführt durch Einkäfigungen von Zugvögeln in Eisen= oder Kupferbauer ergaben keinerlei Anhaltspunkte. Für den aufmerksamen Bewohner des unteren Ahrgebietes mag demgegenüber doch etwas auffallend erscheinen. Durchziehende Kraniche geraten beim Überfliegen des Raumes Ahrweiler—Sinzig meistens in eine verworrene Unordnung. Es bedarf oft längerer Zeit, bis die Zugform wieder hergestellt ist. Besonders zur Nachtzeit kann von dem aufgeregten Schreien der dann niedrig=fliegenden Tiere auf eine Unsicherheit geschlossen werden. Es mag nicht ganz ausgeschlossen sein, daß die Bruchlinie der Erdschichten mit den Mineralquellen an der unteren Ahr und den damit anzunehmenden Strahlungsfeldern die Vögel irritiert. Andere Heimatforscher betrachten den Eisengehalt der Landskrone als störendes magnetisches Feld. Die Erforschung des Orientierungsvermögens auf dem Zug bedarf noch langer, einträchtiger Zusammenarbeit von Vogelkundlern, Physikern, Anatomen und Physiologen, um auch darin zu einer endgültigen Klärung zu kommen. Mancherlei Gefahren sind die wandernden Vögel in besonderem Maße ausgesetzt. Wesentliche Verluste entstehen durch Unbilden des Wetters. Gewitter, Eisschauer, Orkane, Sandstürme, unerwartet auftretende Hitzewellen und Kältestürze werden zum Verhängnis. Oft besteht keine Ausweichmöglichkeit mehr, dann hält der Tod reiche Ernte. Noch ist uns jene Katastrophe von 1931 im Gedächtnis, da ziehende Rauchschwalben im österreichischen Ostalpenraum von plötzlichem Schlechtwetter überrascht wurden. Zu Tausenden kamen die Tierchen um. Allein 89 000 Tierchen, die entkräftet aufgelesen wurden, ließ der Wiener Tierschutzverein mit Flugzeugen nach Italien bringen. Durch diese wohl einmalige Tat aus Mitleid mit der gefährdeten Kreatur konnten die meisten Tiere gerettet werden.
Eine weitere Gefahr, die Licht= und Hochspannungsleitungen, fordert besonders an nebeligen Zugtagen zahlreiche Opfer von den mitunter tieffliegenden Singvögeln. Selbst im anziehenden Lichtermeer der zu überfliegenden Großstädte bricht mancher sein Genick. Wesentliche Verluste treten ein durch das Anfliegen der nächtlich hellstrahlenden Leuchttürme. Vom Licht geblendet, verfliegen sich die Vögel oft und zerschmettern. Eine erstaunliche Verringerung der Verluste ist dadurch eingetreten, daß neuerdings die Turmköpfe selbst angestrahlt werden, wodurch der Vogel die Gefahr erkennt.
Der schlimmste Feind aber ist, wie immer in der Tierwelt, der erbarmungslose Mensch. Schießer und Fänger liegen auf der Lauer mit Pfeil und Flinte, mit Netzen und Fallen, mit Lockvögeln, gefesselt auf grausamste Art, mit Schallplatten, die ständig Vogelstimmen wiedergeben, um die durch die Fluganstrengungen oft sehr geschwächten Tiere leicht zu erbeuten. Gering erscheinen die Verluste, die durch den Abschuß der ewig fleischhungrigen Neger entstehen, gemessen an den Opfern eines aus Geldgier und billigem Gaumenkitzel betriebenen Vogelmordes in den Mittelmeerländern, besonders in Italien und Spanien. Der Vogelmord ist und bleibt in diesen Ländern eine Kulturschande. Es sei ein Wort B. Grzimeks, des weltbekannten Leiters des Frankfurter Zoos, angeführt: „Wir lieben Italiens Sonne, sein Volk, seine große Kultur. Wir fahren als Gäste nach dem Süden, wir kaufen seine Waren. Und als gute Freunde möchten wir sagen: Wir Europäer, nicht nur wir Deutschen, haben die Singvögel gern. Wir brauchen sie außerdem als Schädlingsvertilger. Wir möchten nicht, daß sie jedes Jahr zu Millionen umgebracht werden!“ Es bliebe noch die Frage nach den Ursachen des Vogelzuges. Doch sind die Antworten der Ornithologen Hypothesen, Meinungen. Aus ihrer Vielzahl haben sich einige übereinstimmende herausgeschält, die als annehmbar betrachtet werden können. Im Mittelpunkt aller Annahmen stehen die periodischen Klimaschwankungen der Eiszeit mit ihren Zwischeneiszeiten. Steinbacher faßt alle Theorien folgend zusammen:
1. Die Urheimat der Zugvögel ist das heutige Brutgebiet. Die Eiszeit zwang die Vögel, nach Süden auszuweichen. Jeden Sommer kehrten sie zum Brüten so weit wie möglich nach Norden zurück und wurden Zugvögel.
2. Urheimat ist das heutige Brutgebiet. Durch die Eiszeit nach Süden vertrieben, werden die Vögel hier auf engem Raum zusammengedrängt zu Standvögeln. Das Verlangen nach Rückkehr in die Heimat bleibt aber im Erbgut erhalten. Nach der Eiszeit entwickelte sich deshalb sofort der Zug.
3. Urheimat ist das heutige Überwinterungsgebiet oder eine andere wärmere Gegend. Zu starke Vermehrung in diesen Gebieten zwang den Bevölkerungsüberschuß, sich in den wieder eisfrei gewordenen Landstrichen auszubreiten.
Instinkt, Erbanlagen veranlassen den Vogel, den großen Zug frühzeitig anzutreten. So zieht der Mauersegler schon in den ersten Augusttagen nach Süden, wenn sein Tisch reichlich gedeckt ist und die heiße Augustsonne noch nicht den Winter ahnen läßt. Anatomie und Biologie lehren uns, daß bei Beginn der Wanderzeit Drüsen Hormone ausscheiden, die den Wandertrieb wecken. Entfernen wir diese Drüsen einer Schwalbe und setzen sie einem Spatzen ein, so bleibt die Schwalbe hier und geht ein, der Spatz aber wird vom Wandertrieb nach Süden geführt. Die Erkenntnisse über den Vogelflug vertiefen im denkenden Menschen die Liebe zum Geschöpf und die Ehrfurcht vor dem Schöpfer:
„Kein Tierlein ist auf Erden
Dir, lieber Gott, zu klein,
Du ließest alle werden,
und alle sind sie Dein.“