„Histörche“ aus dem BroMtal

Friedhelm Schnitker

Es war vor vielen Jahren in einem Ort im oberen Brohltal. Ritte, der Wirt der alten Dorfschänke, hatte ein Schreiben vom „Amt“ erhalten, in dem die Behörde ihn aufforderte, sich zur Musterung einzufinden.

Am Abend schlurfte der Dorfmedikus genüßlich seinen Schoppen Wein, als Ritte ihn anging: „Saht ens, Dokte, west ie kä pölweche, dat men Bröh tröw mäht?“

Ritte hatte gehört, daß der „Soldatedokte“ der Harnuntersuchuung große Bedeutung beimesse.

Der Doktor, ein rundlicher, pfiffiger Mann mit Petruskranz und langer Erfahrung im Heilen und Trinken, räusperte sich: „Hoelt e pah Flasche Appeldrank und bäht üch dren.“

Ritte nahm des Doktors Rezept zu wörtlich, holte den großen hölzernen Badezuber, schüttete fünf Flaschen Apfelwein, von denen er vorher noch voller Bedauern je einen Schluck nahm, hinein und stieg ins Bad.

Als am anderen Morgen alles seine natürliche Beschaffenheit und Klarheit hatte, wurde Ritte unruhig; seine Frau Billa sauste zum Arzt. „Hehr, ie möht kumme, da Ritte es blank.“

Der Arzt verwies auf seinen abendlichen Besuch. Der Dämmerschoppen artete in eine Sprechstunde aus.

„Dau Ohes, net en de Büt, em bauch bahde soelstde dat don.“.

Dann folgte die genaue ärztliche Verordnung, die nach Vernichtung klang und wohl nur von einer Ochsennatur ertragen werden konnte.

„Ritte, hühr nau jenau, wat ech de son. Dau dähs Wasse en de Butt, en Stang Eis dren, dann jähst de selws eren on drengs zwin Flasche Appeldrank.“

Pitte tat wie geheißen, Billa jammerte ,,Dau jähs kabot“, aber ihr Mann hielt schlotternd und schlurfend und zuletzt schluchzend durch. Am anderen Morgen präsentierte sich Pitte stolz dem Soldatedokte mit einem Glas „flockesch-fussesch Bröh“; der Arzt stutzte, schaute Pitte an und fauchte „Mann Gottes, von Ihnen? Sie leben noch?“ Statt einer Antwort salutierte Pitte eiligst, sauste hinaus, der anwesende Gendarm hinterher; ein Beisitzer schrie etwas wie Fahnenflucht, doch dann hörte man Pitte in einer lauten Auseinandersetzung mit dem „Schendarm“ verzweifelt klagen ,Boe es de Abtrett, bo es se?“

Zur Musterung zurück fragte der Arzt besorgt: „Sagen Sie mal, Mann, haben Sie sowas öfter?“

Pitte, aus verständlichen Gründen herzerweichende Grimassen schneidend, stammelte „Henne on führ, emme.“

„Der Mann ist krank“, diagnostizierte der Soldatendoktor. Am Abend mußte Billa ihren Mann in der Kneipe vertreten. Der Dorfmedikus aber lächelte in sich hinein, seine lustigen Augen funkelten im goldenen Wein und nur Billa hörte, wie er vorsieh hin murmelte: „De Appeldrank wohr joht jenoch füe de ohes.“

Es war ein heißer Sommertag, die Fenster der Dorfschule unter der breitkronigen Linde waren weit geöffnet und manchmal blieben die Leute auf der vorbeiführenden Dorfstraße stehen, wenn sie des Lehrers lautstarken Rechenunterricht mithören wollten. Plötzlich ertönte lautes Geschrei, das in Gewimmer überging, sich wieder zum Fortissimo steigerte. Der Lehrer, in seinem fruchtbaren Bemühen zur geistigen Förderung der Dorfjugend gestört und entsprechend erzürnt, öffnete die Tür und fragte mitleidsvoll den sich auf den Stufen krümmenden Lockenkopf

„Jüppche, bat haste de dann? Bo däht et die dann wieh? Bes de jeschturwelt?“

Jüppchen schluchzte: „Enäh, ech, ech — ech han kähne zum Spille, ja kähne.“

Der Lehrer stutzte, winkte Jüppchen in den Flur und sagte: „Ech han en johde Spillkamerat füe dech, komm es häe“.

Jüppchen folgte dem Herrn Lehrer weiter in den dunklen Flur, als es plötzlich zweimal, dreimal durch die Luft sauste und brauste und „dat Jüppche“ vor Schreck stumm wurde. Des Lehrers versprochener Spielkamerad — ein kurzer, kerniger Haselstecken hatte ihn an rückwärtiger Stelle gekonnt gezielt getroffen.

War Karl bisher nur mit einem gutmütigen, altersgrauen Ochsen zur Bestellung seiner Felder hinausgezogen, so wollte er nun den technischen Fortschritt nutzen. Er hatte die vorgeschriebene Zahl Fahrstunden und wohl noch einige mehr hinter sich gebracht und wollte und sollte nun die Fahrprüfung ablegen.

Karl hatte den halbstündigen Weg zum Ort seiner Prüfung zu Fuß zurückgelegt, unterwegs zwei Wirtschaften angesteuert, „en Wachecker on e Sie“ verzehrt und war endlich am Ziel.

Dort warteten bereits Fahrlehrer, Prüfer und das „Komehdevehch“ (Komödienvieh) auf ihn. Karl schwang sich in den Sitz, der Prüfer auf den Sitz über dem Kotflügel, während der Fahrlehrer sich auf die Anhängerkupplung stellte; los ging die Fahrt.

Munter ging es die Landstraße entlang, als der unbeschrankte Bahnübergang der eingleisigen Brohltaleisenbahnlinie auftauchte. Karl pfiff vor sich hin, murmelte „Dat die, dat leuf joht“ und ratterte über den Übergang hinweg, als plötzlich der Prüfer hochroten Kopfes schrie: „Mann, anhalten, halten Sie an.“

Karl schrie zurück: „Jo, jo“ und stoppte den Traktor.

„Hat ie et e su nühdich?“ war seine erstaunte Frage.

„Was haben Sie vergessen? Sie haben es doch gelernt.“

Karl zuckte mit den Schultern, schaute zum Himmel und schwieg mangels fehlender Erkenntnis.

„Das ist ein Bahnübergang. Sie schauen nach vorne, nach hinten, vergewissern sich, ob ein Zug kommt und fahren vorsichtig hinüber.“

Karl hörte sich den Ausbruch an, den Kopf schief gelegt. Es entstand eine Pause, die lang und länger wurde, bis Karl endlich entrüstet losdonnerte: „Mann, do passiet doch jäh nix. Ech wähs doch, wan de feurije Elias heh febei kütt.“

Jeden Sonntag nachmittag vollzog sich in Pitters alter Dorfschänke das gleiche Ritual. Die Alten des Dorfes trafen sich zum „Sibbe-schröm“, einem Kartenspiel, bei dem es nicht unerheblich auf überzeugendes „Bluffen“, das heißt Vortäuschen besserer Karten ankommt.

Jupp, Karl, Hein, Hans, Tun und Pitte saßen wieder wie allsonntäglich in gemütlicher Runde bei ihren Schoppen Wein und guten Zigarren zum „Sibbeschröm“ zusammen.

Immer wieder hörte man ihr dröhnendes „Zwinschröm“, ein donnerndes „Drei“ — „on noch ahne drop“.

‚An diesem Sonntag nun war Jupp, die Ballewutz, von Beruf Friseur, jetzt auf dem Altenteil, aber unerreicht und gesucht als Schminkmeister bei dörflichen Theaterveranstaltungen und Karnevalssitzungen, gewaltig auf der Verliererstraße, Tun dagegen, den sie in der Runde nur General Strack nannten, weil er in vorgerückter Stunde bei fortgeschrittenem Alkoholkonsum Pitte, dem Wirt zudonnerte: „Lue ens heh, ech stonn strack, domme noch ahnte“, gewann Schräm um Schröm. Der Ballewutz wurde es langsam unheimlich.

„Bih michste dat nue?“ fragte er ein ums andere Mal den ihm gegenüber sitzenden Tun. Dessen Antwort: „Ech wohr beim Tünnemännche“, womit er andeutete, daß er in der benachbarten Pfarrkirche zum hl. Antonius, wenn auch frevelhaft, um Glück im Spiel gefleht hatte.

„Mie hilf de kahl nih, jäh nih“, verzweifelte Jupp.

Endlich gegen Abend löste sich die Runde langsam auf; Tun blickte genüßlich in den schräg aufgehängten Spiegel, ordnete seine gewaltige Mähne darin blickend und kündigte der Ballewutz Jupp für den nächsten Morgen sein Kommen zwecks allgemeiner Verschönerung an.

Jupp, dem es angesichts der deutlichen Geste Tuns gewaltig dämmerte, äußerte Zustimmung: „Jo, jo, kom erahf“.

Am nächsten Morgen war Tun einer der ersten Kunden. Jupp „seifte“ seinen Freund ein; er bediente ihn zuvorkommend wie selten; Jupp jammerte aber besonders über ein morgendliches Mißgeschick; sein schöner großer Spiegel sei heute beim Putzen zerbrochen. Während sie letzte Dorfneuigkeiten austauschten, seifte Jupp ein, rasierte, schnitt die Haare und rieb sie rubbelnd mit „Haarwasser“ schließlich ein. Dann kämmte er sorgfältig, schüttelte das Schutztuch aus und nachdem Tun gezahlt hatte, komplimentierte ihn Jupp hinaus.

„Nau, hock haste awe dussma gedonn“, (dussma—doucement—sanft) lobte Tun abschließend.

Auf der Straße erntete Tun Blicke von allen Seiten; er warf sich stolz in die Brust, fühlte sich wegen seiner verschönerten Kopfzierde noch begehrter bei der Damenwelt, aber als immer mehr Dorfschöne kicherten, spurtete Tun in seine Stammkneipe; sein erster Gang führte ihn zum Spiegel in der Schrömecke und dann donnerte er „Die Ballewutz, däe Komehdemäche“ (Possentreiber), „wenn ech den en de Fingere krehjen“.

Des Zornes Grund: Jupp hatte seinem Spiegelspieler Tun aus Rache die Haare fussig gefärbt. Seitdem trug Tun neben seinem Ehrentitel „General Strack“ den geschichtsträch-tigen Beinamen „Pappa Rossa“.

Zeichnungen: Theo Deisel

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