Goldene Hochzeit
Goldene Hochzeit*)
VON THEODOR SEIDENfADEN,
Motto: Den Großen und das Große groß zu sagen, bedarf es der Größe oder — des Kindermunds.
Edgar Salin: UM STEFAN GEORGE.
Verlag Helmut Küpper, Godesberg.
Zu dem Weisen, der jenseits der Stadt im Wald wohnte und mit ihm Jahr um Jahr Frühling, Sommer, Herbst und Winter als die Gezeiten des Ewigen erlebte, kam ein Mann der Stadt und sagte: „Meine Eltern feiern in drei Tagen goldene Hochzeit. Rate mir, was meine Frau, meine Geschwister und Schwäger, unsere Kinder und ieh ihnen schenken sollen!“ „Bleibe im Geheimnis“, versetzte der Weise. „Dann gibst du das, was krönt.“ „Was ist ein Geheimnis?“ fragte der Mann der Stadt.
„Das Leben“, erwiderte der Weise und fuhr fort, als der Mann ihn ungläubig anblickte, „Geheimnis ist mir, was mich staunen läßt und mir Ehrfurcht weckt.“ „Nenne ein Beispiel“, bat der Mann. „Sieh das Samenkorn“, sagte der Weise. „Wenn du es in den Boden legst, quillt es auf. Es entfaltet sich, bildet Würzelchen, treibt ein Hälmchen. Das geschieht im Herbst. Dann kommt der Winter, deckt Schnee über das junge Grün, das sich aus der Scholle des Ackers erhob, und bald läßt der Frost den Schnee erstarren. Dann liegt die Erde tot — doch nur dem oberflächlichen Blick, der nicht schauen sondern nur sehen kann. Wer im Geheimnis lebt, fühlt, daß die Erde um diese Zeit ganz bei sich selber zu Hause ist. Aus dem „Zeigen“ dessen, was sie kann, aus dem, was die Menschen „Manifestation der Macht“ nennen, rief sie sich mit dem Winter zurück in die Heimkehr zum Unsichtbaren. In ihm — unter der Kruste von Schnee und Eis — geht das Leben weiter. Die Würzelchen trinken die Kräfte der Tiefe. Sie nähren das Verdeckte, sie bereiten den neuen Weltentag vor, und wenn Schnee und Eis im Segen der Sohne schmilzen, reckt das junge Grün sich. Es wächst zum Halm heran, dem Halm springt eine Ähre aus den Blattfalten, und mit ihr wächst der Halm. Im Sommer erreicht er Manneshöhe. Das Grün verwandelt sich still und stet ins Gold des Leuchtens. Die Ähre wird schwer: sie trägt fünfzig, sechzig, oft auch siebzig Körner, und die Körner werden dick: sie reifen bis zum Tag der Ernte. Wenn du an ihm eines der Körner in die Erde steckst, wiederholt sich, was vordem geschah, und es wird sein: heute, morgen, immerdar!“
„Du hast recht“, sprach der Mann der Stadt. „Solchem Geschehen, das kein Mensch zu machen vermöchte, wächst das Staunen, das du Ehrfurcht nennst. Was aber, meinst du, sollen wir tun?“ . „Eines deiner Kinder berichte am Morgen des Feierns, der ja ein Morgen des Be-Sinnens sein soll, was ich dich schauen ließ.“ Da der Mann noch eine Weile stand und sann, gab der Weise ihm ein zweites Geschenk: die Brunnen-Geschichte.
„Betrachte“, sprach er, „den Brunnen, den der alte Meister auf dem Marktplatz deiner Stadt errichtete. Aus der Tiefe der Erde steigt das Wasser durch das Brunnenrohr nach oben. Es verteilt sich auf die Röhren der vier Windrichten. Aus ihnen ergießt es sich in die bronzene Brunnenschale. Wenn sie gefüllt ist, rauscht das Wasser über ihren Rand und springt in das Brunnenbecken, dem der Meister Sinn-Bilder meißelte: den Adler des Geistfluges, den Hengst der Kraft, die Rose der Liebe, den Ring der Treue. Das Becken aber gibt das Wasser ins Innere zurück, und unaufhörlich steigt es durch das Mitte-Rohr in die Röhren der vier Windrichten des Lichtes, fließt in die Schale, stürzt aus ihr ins Becken und von dort wieder ins Dunkel der Tiefe. Das Spiel des Wassers ist wie das Wachstum des Kornes Sinn-Bild ewigen Lebens, und Sinn-Bilder sollen die Stunde des Be-Sinnens, der Feier, beschenken.“ Der Mann dankte dem Weisen und folgte dem, was er gesagt hatte, und es heißt, das Wort habe das Goldene Paar, den Sohn und dessen Frau, die Schwestern und Schwäger und alle Enkel gesegnet: es sei ihnen unvergeßlich geblieben, so daß es heute noch lebe und erzählt werde, wo Männer und Frauen des Schauens mit ihren Kindern und Enkeln goldene Hochzeit feiern. .
*) OttoHein, dem Freunde gemeinsamer Fahrten zu seinem Familienfeste. Entnommen aus dem unveröffentlichten Buche „DER GOLDENE SCHEIN“. Kleine Geschichten für Jedermann.