Glückliche Schwalben

VON HUBERTUS SEIDEL

Jüngst stand ich da, wo Deutschland aufhört und jenseits von Stacheldraht, Minengürtel und Todesstreifen Deutschland wieder beginnt. Es war früh am Morgen, die Sonne trug ihre Feuerglut vom östlichen Horizont ins blasse Blau des Sommerhimmels hinauf. An den von Rost rotbraun gefärbten, mit Stacheln gespickten Drähten glänzten in kristallenen Farben kühle Tautropfen, und das Silbergeflecht emsiger Spinnen leuchtete zart wie zerbrechliches Filigran im Todesverhau.

Hier blühte eine Sommerwiese, überschäumend von Farben und Lebenslust; jenseits des Drahtes: das stumme, erdgraue Band des glattgeeggten Bodens, der förmlich danach verlangt, Samen in seinem fruchtbaren Schoß zu kräftigem, strotzendem Leben zu erwecken und zu gesegneter Ernte reifen zu lassen. Aber niemand kommt und streut diesen Samen; darf ihn nicht streuen. Und wehe dir, Pflänzchen, wenn du dir dort doch einen Quadratzentimeter Boden als deinen Lebensraum auserkoren hättest! Hüben und drüben war es still, so still wie überall in der Morgenfrühe draußen in den Feldern. Von jenseits des Verhaues rief lockend ein Kuckuck im Talgehölz.

In dem grenznahen Dorf auf unserer Seite — und drüben sicher auch — waren längst die Schwalben bei ihrer mühseligen Tagesarbeit. Hoch durch die Lüfte steigend, jagten sie nach freßbarem Kleingetier. Manchmal stießen sie herunter, mit den Spitzen ihrer Flügel fast die Wiesenblumen streifend.

Und dann kam das, was mich so nachdenklich stimmte. Mit elegantem Schwung, sich mehr aus Bodennähe lösend, glitten sie behende über Verhau und Draht und Minen hinweg nach drüben, jagten dem armen Insektlein nach, bis sie es erhascht hatten und kehrten zurück zum heimatlichen Schwalbennest, in dem weit-geöffnete hungrige Mäuler auf ihr Frühstück warteten.

Immer und immer wieder vollzog sich dieses Schauspiel vor meinen Augen. Und selbst, als drüben die Grenzer mit ihrem Hund auftauchten und sich etwas später auch auf unserer Seite eine Grenzstreife zeigte, ging, wie selbstverständlich, der Flug von hüben nach drüben weiter. Wohl kaum jemand von den Menschen zu beiden Seiten der Grenze hat das beobachtet, oder es war ihnen schon zu selbstverständlich geworden.

Mir aber war es ein Anlaß zum besinnlichen Nachdenken. Und ich schäme mich nicht einzugestehen, daß mir Tränen über die Wangen rollten: Tränen der Ohnmacht und der Scham. Du, als denkender Mensch, stehst hier; wenn du auch nur einen Schritt weitergehst, bist du „drüben“. Die „Hüter der Staatsgrenze“ würden dich entweder festnehmen oder auf dich schießen oder dich zu umständlichem Verhör abführen. Es gibt für dich keine Möglichkeit, hier auf dieser blühenden Sommerwiese diesen Schritt nach drüben zu tun, ins Nachbardorf zu gehen, aus dessen Schornstein der Rauch aufsteigt und wo die Kinder sich genau wie bei uns zum Schulgang rüsten. Deinem alten Freund kannst du die Hand nicht drücken. Dort, in dem kleinen Haus am Hang, steht er am Fenster, die Hand leicht erhoben, als wolle er sie jeden Moment heben und mir einen frohen Morgengruß herüberwinken. Aber er tut es nicht. Er weiß es genau, wie auch ich, was diese unbedachte Bewegung für ihn bedeuten könnte. Und die Schwalben?

Ach, was kümmern sie sich um dieses menschliche Gehabe! Für sie scheint hier wie dort die gleiche Sonne, weht die gleiche Luft, surren erwartungsfroh die gleichen Insekten; hier wie dort warten hungrige Schnäbel auf Nahrung! Und so werden in diesem Jahre „bundesrepublikanische“ Schwalben, wie seit Jahren schon, mit ostdeutschen Tierlein gefüttert, und mitteldeutschen Jungschwalben werden die bundesdeutschen Mücken genau so gut schmecken wie ihren westlichen Artgenossen. Im Herbst werden sie dann alle gemeinsam den Flug nach dem Süden antreten. In ihrem afrikanischen Winterquartier werden sie gemeinsam auf den Frühling warten, der sie heimwehvoll wieder zu uns führt. Doch wir Menschen werden weiter am Stacheldraht auf- und abgehen müssen; der Draht wird rostiger geworden sein, der Todesstrafen wieder frisch gepflügt werden. Die Grenze bleibt. Nur sie können sie überfliegen, wo und wann es ihnen immer gefällt.

Und wenn ich im nächsten Jahr dann wieder einmal komme . . . Ob mein alter Freund wieder am Fenster stehen wird, den Arm halb erhoben? Schwalben! Grüßt ihn noch einmal und immer wieder von mir!