Geschichten um und mit „Hochwürden“
Der Histörchen zweiter Teil
Friedhelm Schnitker
„Ohse Hehr“ als „Flaschenschwenker“
Es waren die Tage vor dem beliebtesten weltlichen Fest in unserem Dorf, der Kirmes, und auch „ohse Hehr“ wußte dem Patronatsfest seinerGemeinde mit viel Latein und noch mehr Weihrauch einen entsprechend würdig-feierlichen kirchlichen Rahmen zu geben.
Schiffschaukel, Kettenkarussell, Schieß- und Losbude waren aufgebaut; die Fachwerkhäuser, wo es dessen bedurfte, gestrichen; die Kirmeskuchen gebacken; die Straßen gekehrt. Allmählich stellte sich nach dem emsigen Schaffen die Ruhe der Erschöpfung ein und stille Vorfreude erfüllte die Herzen der Menschen. Nur bei Hochwürden hatte sich lange keine ungetrübte Festtagsfreude einstellen wollen. Ihn zwickte stärker denn je sein Rheuma. Immer wieder hatte Trinchen, seine Haushälterin, ihn bekniet, endlich den Arzt aufzusuchen, doch vergebens. „De Hehr wiehd et at richte“, war seine beharrliche Antwort. Doch es riß, kniff, zwickte immer gewaltiger in seinem Körper und dann hatte man doch gehört-nun ja, sollte man doch vielleicht, schaden könnte es ja wohl nicht. Also gut, Trinchen wurde zum „Hexe-Katt“ gesandt mit der behutsamen Bitte um Überlassung einer Dose Paste gegen Hexenschuß, Rheuma und ähnliche „Malesse“.
Trinchen hatte überzeugend die Bitte ihres „Hehrn“ vorgetragen, sich einige grimme Erläuterungen über „Hünn, Katze, Höhne. Wurm on Fleddemösche“ als wichtige Heilsubstanzen der Wunderpaste anhören müssen. Dann war sie mit der „grauslich-gräulichen“ Kostbarkeit unter der Schürze vom Fachwerkhäuschen der „Hexe-Katt“ über die Straße hin heim ins Pfarrhaus gehuscht.
Nun war der große Festsonntag da. Hochwürden zelebrierte gemeinsam mit großer Meßdienerschar und jubilierendem Kirchenchor das hohe Amt und trug anschließend in feierlicher Sakramentsprozession das Allerheiligste durch die Straßen unseres Dorfes.
Und das ganze Dorf freute sich, nach der vormittäglichen kirchlichen Prozession, auf den nachmittäglichen Festzug der Junggesellen mit Fähndelschwenker und „Knöppelches“-Musik. Da tönten auch schon die ersten Klänge durch die festlich mit Fahnen und Grün geschmückten Straßen.
Vor dem Pfarrhaus hallten Kommandos, der Kommandant befahl seiner Truppe Halt und Stillgestanden, dann öffnete sich die pfarrhäusliche schwere hölzerne Eingangstür und Hochwürden trat hervor, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und verschränkte, sehr nach vorne gebeugt, seine Hände vor der Brust. Der Kommandant winkte dem Tambourcorps, der Fähndelschwenker richtete seine Fahne und schon hallte die kopfsteingepflasterte Dorfgasse vom „Rä – tä – tä – tä / tä – te- te -tä / tä – te – tä – te – te – tä – te- tä“ wider. Jupp ließ die Fahne um seine Füße kreisen, schwang sie um seine Hüften, schwenkte sie über dem Kopf, riß sie nach oben und wirbelte sie in die Höhe, um sie sicher wieder aufzufangen.
Doch hier und da und dort suchten die Blicke den gebeugt und wie ein steinernes Denkmal seiner selbst auf der Treppe stehenden „Hehr“ und manches „Wien hätt deer sich jeschött!“ wurde halblaut in die lautstarke Musik hineingemurmelt.
Dann war die Zeremonie vorbei, die Musik verklungen, der Kommandant entbot den Abschiedsgruß, da, ja da kam Leben in die gebeugte Gestalt unseres „Hehrn“. Mit wallendem weitem Umhang eilte er die Treppe hinab, verharrte vor dem Kommandanten, grüßte die Fahne, zog aus eben jenem weiten Umhang eine Flasche Wein hervor, schwenkte sie über seinem Kopf und ahmte mit seiner tiefen Stimme das „Rä – tä – tä – tä“ der „Knöppelches“-Musik nach. Er reichte den Rebensaft dem verdutzten Kommandanten.
Schon mehr aufgerichtet und weniger gebeugt ließ Hochwürden eine weitere Flasche nun um seine Hüften kreisen und die dritte Flasche ließ er, nach einigen kreisenden Schwüngen in seinen Händen, gar durch die Luft sausen und fing sie gekonnt wieder auf.
Eine solche Zeremonie hatte unser Dorf noch nie zuvor erlebt. Dem Kommandanten hatte es die Sprache verschlagen, die „Knöppelche on Fleute“ ruhten stumm auf Trommeln und in den Händen, dann löste sich die Verblüffung in langanhaltendem, donnerndem Beifall, bevor der Festzug endlich weitermarschierte. „Ohse Hehr“ kehrte lachend zu seinen Kirmesgästen zurück und bei wohlmundendem Wein wandte er sich an Trinchen, augenzwinkernd und eher feststellend als fragend:
„De Zäsa es noch do, de Minka fänk weide Maus, de Höhne läjen Eie, awe et Reuma es fott“, womit er Hund, Katze und Hühnerschar als bestandsgesichert einordnete.
Und daß er beim ausgiebigen Üben für seinen Flaschenschwenk in der Scheune neben manchem Schluck, den er genossen hatte, auch fünf wohlgefüllte Flaschen auf dem Tennenboden zerschmettert hatte, nun ja, das brauchte ja keiner zu erfahren, es sei denn, der Wohlgeruch des edlen Rebensaftes, verströmend an eigentlich lagerungs- und anwendungsfremden Ort, verriete Hochwürden und sein Ubungs-programm doch noch.
„Ohse Hehr“ und die wundersame Beichte des „Willche“
Es war noch die Zeit, als Hochwürden vor jedem sonntäglichen Hochamt mit Weihwasserkessel und Quast in Begleitung eines treuen Meßdieners zum Asperges durch unsere Kirche eilte. Eiligen und doch würdigen Schrittes besprühte er seine Schäfchen und Lämmlein auf der Frauenseite mit gesegnetem Wasser,
verließ das Seitenschiff durch die hintere Eingangstür, umrundete von außen das Halbrund des Kirchturmes, betrat durch die Eingangstür das andere Seitenschiff, ließ reichlich Weihwasser auf die Köpfe der Böckchen und eher Bockigen auf der Männerseite herabregnen und eilte zurück zum Hauptaltar. Dort angekommen zeigte sich sein Gesicht zuweilen leicht gerötet, oft weniger durch unangenehmes, nasses oder kaltes Wetter als durch heiligen Zorn über jene „Schafe“, die das Gotteshaus, das seines Herrn und seines, erst lange nach Meßbeginn betraten – vorher tauschten sie letzte Dorfneuigkeiten aus und rauchten ihre Zigarren zu Ende – und sich in der Nähe des Weihwasserbeckens an die Wände „seines Domes“ lehnten. Hochwürden schalt diese Schar seiner „bockigen Böcklein“ im heiligen Zorn eines treuen, guten Hirten „Weihwasserkesselkompanie“.
Besonders das Verhalten von „Willchen“ miß-fiel ihm, hatte dieserdoch die Angewohnheit, in eine Spalte des Mauerwerks, die er besonders hierfür ausgekratzt hatte, seine ausgelöschte Zigarre zu klemmen, um sie unmittelbar nach dem Gottesdienst wieder anzuzünden.
„Et Willche“ war ein kräftiger, großgewachsener, stämmiger Mann, der aber im Gegensatz zu seiner körperlichen Größe eher zurückhaltend, manchmal sogar einsilbig war. Er führte nie das große Wort im Dorfgasthaus, hörte eher zu, nickte zustimmend oder schüttelte mißbilligend sein Haupt. So waren die Jahre seiner Jugend mit harter Arbeit auf dem elterlichen Hof dahingegangen und nun, nach dem Tode seiner Eltern, lebte er dort zusammen mit seiner Schwester und deren Familie.
Häufig sah man „et Willche“ mit „Schäng“, dem riesigen Ochsen, vorgespannt vor einen großen Leiterwagen oder eine Karre, durch die Straßen auf die Felder in die Flur fahren, und draußen in Gottes freier Natur, damals noch ruhiger als heute, haben manche aus unserem Dorf „et Willche“ vor sich hin reden hören;
einige unter ihnen wollen sogar Zeugen von Zwiegesprächen des einsilbigen „Willchen“ mit dem stummen „Schäng“ gewesen sein.
So gingen die Jahre ins Land, Schwester, schwesterliche Familie und Bruder lebten auf dem Hof in Eintracht, ja wenn da nur nicht das ständige Murren der Schwester über die Nachlässigkeit des Bruders im Umgang mit dem Beicht- und Bußsakrament gewesen wäre. Und so kam es, so berichtete ein weltlicher dörflicher Gewährsmann mir, wie es kommen mußte: Schwester und „ohse Hehr“ verschworen sich zu „heiligunheiliger“ Allianz.
Eines Sonntags hielt Hochwürden „Pitteche“, einen seiner getreuen Meßdiener und just Sohn der „Willchen“-Schwester, in der Sakristei zurück, und es wurde getuschelt und gemurmelt und verschwörend genickt. Am Abend eben dieses Sonntags bemerkte Hochwürden bei seinem üblichen Rundgang durch das Dorf am Hof des „Willche“ übelriechende Schwaden aufsteigen. Doch statt sich Gedanken um Feuersbrunst und Flammengewaltzu machen. sieht man Hochwürden dem aus dem Dunst auftauchenden „Pitteche“ beifällig zunicken. Um „Pitteches“ Handgelenk kreist, an einem Bindfaden gehalten, eine Konservenblechdose mit Löchern in der Bodenfläche, aus der die Pestilenzdüfte aufsteigen. „Pitteche“ keucht und schwingt, ungestümer als beim sonntäglichen Rauchfaßdienst, das seltsame Behältnis.
Nachdem an diesem Abend „Willche“ sich erneut bittere Vorwürfe seiner Schwester hinsichtlich seiner beharrlichen Weigerung, den Beichtstuhl zwecks Sündenvergebung aufzusuchen, hatte anhören müssen, kehrte am nächsten Tag nach getaner Feldarbeit ein seltsam veränderter „Willche“ heim, druckst beim Abendessen herum und stößt schließlich hervor: „Me könnt et jo es fesöhke!“
Des Schwesters steter Hinweis auf Sündenlast und Ewigkeitspein mit Feuerqualen und Pestilenzgerüchen zeigt Wirkung. „Schreiw die et opp, bat de ze beichte hässl“, lautet der wohlgemeinte schwesterliche Rat. Und so tut Willche am nächsten Samstagnachmittag seinen schweren Gang. Als Beistand, der ja auch der Vergebung seiner Sünden bedürfe, hat er „Pitteche“ zum Mitkommen gebeten. Je näher man dem Gotteshaus kommt, um so schwerer werden „Willchens“ Schritte, während „Pitteche“ hüpft und springt. Die schwere Kirchentür scheint noch schwerer als sonst zu öffnen und langsam schreitet er durch das Halbdunkel der Kirche. Während „Pitteche“ sich abseits kniet, reiht „Willche“ sich in die Reihe der Wartenden ein. Endlich ist die Reihe an ihm und er betritt den Beichtstuhl.
Und dann tönt es, nach anfänglichem Papierknistern, laut und deutlich und für alle Wartenden verständlich durch das Seitenschiff: „Fönf mohl gefuddelt beim Sibbeschröhm: Drei mohl gepuddelt beim Schöhfe opp de Wies!“ „Leiser! Leiser!“ erschallt Hochwürdens um das Beichtgeheimnis äußerst besorgte Stimme. Doch sofort tönt es fort: „Drei mohl de Schäng met de Schmeck jeschlonn!“ Dann leiser, aber doch noch verständlich, Hochwürdens Stimme: „Onn de Verbotz an de Kirchemaue ausjekratz!“
Daß es danach lateinisch klang und mit Amen endete, dafür verbürgte sich das abseits knieende, aber sehr aufmerksam, weniger auf Gottes Wort als auf „Willchens“ und Hochwürdens Stimmen, lauschende „Pitteche“. „Et Willche“ verließ erleichtert den Ort seiner Beichte, wenn auch das Bekenntnis seiner Sünden kein Beichtgeheimnis blieb.
Willchens Schwester hatte mit ihrem steten Drängen dem priesterlichen Mahnen kräftigen Nachdruck verliehen und endlich ihr Ziel erreicht.
Und „Pitteche“ hatte in heiliger Allianz mit Hochwürden in seiner weltlichen Wellblechdose mit eingestreutem Hörn vom Huf des Pferdes aus der Nachbarschaft ebensoviel zur Bereitschaft „Willchens“ zum Beichtgang beigetragen wie „ohse Hehr“ mit Weihrauchfaß und Weihwasserquast.
„Willchens“ Wundern über die Allwissenheit Hochwürdens nahm nie ein Ende; Hochwürden seinerseits zitierte im Zusammenhang mit jener Beichte „Willchens“, um dessen Sündenlast ihm nie auch nur ein Wort über die Lippen kam, gerne die Worte:
„Wat de Mensch däht, dat weiß de Deuwel, awe ‚de Hehr‘ weiß et at lang.“ Wobei mein Gewährsmann mir nie berichten konnte, ob er in der Rede Hochwürdens je die Anführungszeichen gehört habe.