Gelsdorf in einem Reisebericht von 1785
Ottmar Prothmann
Die Reiseliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts ist eine von der Wissenschaft bisher kaum beachtete Literaturform. Aus diesem Grund beschäftigt man sich seit einigen Jahren bei der Forschungsstelle für die Literatur der Spätaufklärung an der Universität Bremen schwerpunktmäßig mit der Reiseliteratur der Aufklärung. Arbeitsziel ist ein umfassendes Handbuch, das allein für den deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert über 8 000 Titel enthalten wird.
Auch für die Lokalgeschichte bieten solche Reisebeschreibungen eine Fülle von interessanten Nachrichten, vornehmlich für diejenigen Orte unseres Kreises, die von solchen Bildungs- und Vergnügungsreisenden aufgesucht wurden. Das sind vor allem die Ortschaften entlang des Rheins und später auch entlang der Ahr, während abgelegenere Gegenden ohne besondere Sehenswürdigkeiten kaum eine Erwähnung finden. Das trifft im allgemeinen auch für die Dörfer der Grafschaft zu, obschon die von vielen Reisenden begangene Fernstraße Sinzig – Aachen mitten durch dieses Gebiet führte. Doch in einem 1785 in Nürnberg erschienenen Buche mit dem Titel »Mahlerische Reise am Nieder-Rhein. Merkwürdigkeiten der Natur und Kunst aus den Gegenden des Niederrheins« (Heft II) macht ein nicht genannter Rheinreisender (wahrscheinlich P. J. Eichhoff) einen Abstecher über eben die genannte Fernstraße bis nach Flamersheim und berichtet, was er auf diesem Weg gesehen und erlebt hat.
Er reist im Mai des Jahres 1784, von Süden kommend, am Rhein entlang über Sinzig, wo er vor allem die Pfarrkirche und die noch heute vorhandene Mumie (der hl. Vogt) besichtigt und ausführlich beschreibt, weiter über Bodendorf und am Köhlerhof vorbei nach Kirchdaun. Hier muß er übernachten, weil sein Begleiter wegen der »bösen Füße« nicht mehr fortkommen kann. Am Sonntag, dem 16. Mai zieht man weiter über die Heerstraße auf die Höhen der Grafschaft, erreicht nach zwei Stunden Eckendorf und eine Stunde später Kleinaltendorf, wo man das schönste Korn dieser Gegend sieht, das 1 1/2 Ellen (etwa 80 cm) hoch ist und schon Ähren trägt. Weiter führt der Weg sodann über Rheinbach nach Flamersheim. Dort verweilt der Verfasser des Reiseberichtes einen Tag und kehrt am darauffolgenden Tag zurück bis Gelsdorf. Hier wollen wir einsetzen und den Originalbericht folgen lassen, der aufschlußreiche Einzelheiten über das Innere des Schlosses in Gelsdorf und über das dortige Töpferhandwerk vermittelt. Um die Originalität des Textes zu bewahren, habe ich bis auf die Verbesserung offensichtlicher Druckfehler keine Veränderung der Rechtschreibung vorgenommen, die Zeichensetzung jedoch zum besseren Verständnis bereinigt. In eckigen Klammern habe ich einige erklärende Anmerkungen hinzugefügt: »Ich kam von Reimbach, welches eine Stunde von Flammersheim liegt, nach klein Aaldorf [Kleinaltendorf], auch eine Stunde von Reim-‚bach, und dann nach Gelsdorf, eine Stunde von klein Aaldorf. Der Herr Richter Custodis in Gelsdorf hatte mich den vorigen Tag [17. Mai 1784] zu Flammersheim nach Gelsdorf zu kommen ersucht. Gelsdorf ist eine Herrschaft mit einem prächtigen Schlosse, welches der Herr geheime Rath von Gruben in Bonn von dem Herrn von Halberg in Wien um 100 000 Reichsthaler gekauft hat. Herr Custodis ist daselbst geboren und seinem seligen Vater im Amte gefolgt. Er wohnt in einem zu dem Schlosse gehörigen Gebäude, woselbst er sehr artige Zimmer hat. Das Schloß ist nach italiänischer Art im Jahr 1716 [richtig 1766] erbaut worden. Die Aufschrift über der Thüre ist: »A l’Hotel sans Gene« [Palais Sorgenfrei] und recht gut gewählt. Die Gemälde und Kupferstiche in diesem reizenden und wohl meublierten Landhause sind werth angeführt zu werden. Im Speisesaal sind vier gros-se vier Fuß lange und zwey Fuß hohe Kupferstiche, welche die Thaten Alexander des Grossen vorstellen, nach Gemälden des le Brün, von Gunst gestochen. Der erste Kupferstich stellt die Schlacht bey Arbela vor. Alexander erscheint hier außerordentlich geschäftig, der zweyte den Sieg über den König Porus, wo der edle Stolz des Königs Porus und die Edelmuth Alexanders trefflich ausgedruckt sind, der dritte den Einzug in Babylon. Alexander auf einem Tri-umpfwagen mit der Miene der Hoheit und dem stolzen Bewustseyn einer halben besiegten Welt ist meisterhaft. Im vierten Kupferstich, die Schlacht beym Granikus, ist Alexander voll Wuth und nicht der liebreiche Held, der er beym Anblick des Porus ist.
In einem ändern Zimmer ist noch ein hiezu gehöriger fünfter Kupferstich, der Sieg bey Issus, wobey Alexander das Lager des Darius eroberte und dessen Familie in seine Gewalt bekam. Sisygambis, die Mutter des Darius, zu den Füßen Alexanders, Alexander mit seinem, ihm an Gestalt und Alter gleichen Herzensfreunde Hephästion, mit dem edelsten Mitleid im Antlitz, sind eine rührende Scene. Mit der reinsten Lust verweilte mein Auge auf diesen unsterblichen und rührenden Denkmälern der vortrefflichsten Kunst. Doch riefen mich wieder andre von derer Betrachtung ab.
In dem nämlichen Speisesaale ist ober dem Kamin ein versteinerter Fisch, wie es scheint, aus dem Karpfengeschlechte von Baumberg in Westphalen (die Baumberge sind Höhen westlich von Münster mit Schichtstufen der Kreidezeit), mit der Unterschrift: »Baumberga Westphaliae me genuit« (Der Baumberg in Westfalen gebar mich.
In dem zweyten Stockwerk fand ich in einem grossen Saale folgende Gemälde: 1) Die Auferstehung des Heilandes, 2) Johannes in der Wüste, 3) ein Alter mit einem Mädgen und zwey Kindern, 4) Manasses im Gefängnis zu Babel, 5) Hieronymus, sehr schön. In der Hauskapelle war eine Magdalena auf Holz, sehr artig, und in einem Schlafzimmer Herkules und Omfale, wie jender dieser zu Gefallen spinnt. »Crassaque rubusto deducit pollice fila«, sagt Ovid. Man sieht deutlich, wie albern der durch Weibejliebe bethörte Held bey seiner unanständigen Beschäftigung aussieht, wie sehr hingegen die mit den verführerischen Reizen geschmückte Buh-lerin über ihren Sieg triumphirt.
Ferner findet man auf diesem Schlosse viele auserlesene Kupferstiche aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, welche biblische Geschichten vorstellen, die von de Vos erfunden, von Collärt gestochen und von Galle herausgegeben worden. Herr Richter Custodis ist ein Mann von Wissenschaften und Geschmack, und ein Kenner der römischen, der französischen und neuern deutschen Literatur, und, welches wohl zu merken, ein Leser von Klopstock und Horaz. Gewiß ich bin auf seine Freundschaft recht stolz. Um das Schloß sind viele Teiche, Gärten und Alleen. Man hat vom Schloß die reizendste Aussicht von Osten nach den sieben Bergen. Und die Nähe des Waldes und der Gebirge nach Westen macht diese Gegend ungemein anmuthig. Die Herrschaft soll alle Jahr ungefehe 3 000 Reichsthaler einbringen.
Herr Richter Custodis war so gütig, mir die Literatur und Dichterfreunde in den dasigen Gegenden zu nennen. Es sind folgende:
1 Herr Prior Pirsons zu Marinethal, ein Franzose.
2 Pfarrer Kirpaul zu Aarweiler.
3 Pater Maximin Boudler zu Aarweiler.
4 Gerichtsschreiber Roberts des Amts Neuenaar zu Aarweiler.
5 Amtsschreiber Tippel zu Adendorf im Gräflich Leyischen Gebiete.
6 Hofrath Stockhausen zu Beul, Vogt im Amte Neuenaar.
7 Pastor Best zu Erstdorf, Literator, Historiker, besonders in der neuen Geschichte. Man gibt ihm Heterodoxie und Hederichisanismus Schuld. [Man bezichtigt ihn der Abweichung von der kirchlichen Lehre und hält ihn für einen Anhänger der Lehren Hedderichs.] Dieses kleine unvollständige Verzeichniß, worunter Herr Richter Custodis den ersten Platz verdient, beweißt, daß auch in diesen Gegenden die Literatur in Aufnahme sey. — Bonn wird ohnedem der Sitz der Wissenschaften und des guten Geschmackes werden und Düsseldorf in kurzem übertreffen; denn wo hat ein Land einen Fürsten wie Maximilian Franzen [Max Franz Kurfürst und Erzbischof von Köln], den edlen Nacheifrer der großen Josephs [Joseph l. und II., deutsche Kaiser?]
Zu Gelsdorf sind ein paar schöne Blausteinwaarfabriken. Herr Richter Custodis führte mich in die des Herrn Schultheis Johann Peter Knöt-chen. Diese Waare, die in Krügen und allerhand üblichem Hausgeräthe besteht, wird aus weis-ser Kleyerde oder Pfeifenerde gemacht, die man von der Aar bis nach Flammersheim und an’s Vorgebirg findet; die beste giebt es aber zu Röngen (Ringen) im Kurpfälzischen Amt Neuenaar, wovondannen sie sogar nach Amsterdam und Amerika verführt wird. — Herr ließ einen Brunnen graben und fand zwar 18 Fuß Kleyerde, aber gar kein Wasser. Diese Kleyerde wird zerrieben, mit Wasser zu einem Teige gemacht, wovon Stücke abgeschnitten und, so wie zu Tönnestein, aufs Rad gebracht werden. Der Töpfer nimmt aber keine gewisse Porzion der Masse, sondern macht aus einer großen Porzion des Teiges, der auf der Axe des Rades liegt, so lange Geschirre aus freyer Hand, bis der Teig alle ist, welches sehr künstlich ist. Man macht daselbst unter ändern Sorten grosse und kleine Englische Wasserkrüge, worauf die Buchstaben G. R. (d. i. Georgius Rex) stehen, welche nach London geliefert werden und Düsseldorfer Krüge, welche ein halbes Düsseldorfer Maas enthalten. Von dieser Sorte kann ein Mann 150 Stücke in einem Tag verfertigen.
Wenn die Waare gedreht und etwas trocken ist, so ritzt ein blos hiezu bestelltes Mächen die Figuren mit einem hölzernen Instrument mit großer Geschicklichkeit auf die Waare und streicht die Figuren mit einer blauen Farbe aus Sächsischem Blau, Schwefel und Wasser an. Ehe die Waare in den Ofen kommt, wird sie auf platte Füße gestellt, welche nur einmal gebraucht werden können, denn sonst backt die Ware an. Die Füße werden auf folgende Art gemacht: Erst formt man runde Kuchen und dann schneidet man mit dem Messer aus zwey übereinandergelegten drey Stücke nach der Rundung heraus, so daß der runde Kuchen eine Gestalt wie drey Sicheln bekommt, nemlich an drey Ecken, damit man die darauf gestellten Krüge wieder anfassen kann. Dann läßt man sie ein wenig trocknen, sondert sie ab und legt sie unter die Waare. Sie können nur einmal gebraucht werden, denn sonst werden sie zu Glas und kleben an der Waare fest.
Der Ofen ist ungefehr 20 Fuß lang und 7 Fuß hoch und hat 9 Zuglöcher, eben so wie jener zu Tönnestein. Es werden ungefehr fünf Klafter [ca. 22 cbm] Holz ihn zu heitzen erfordern. Herr Knötchen liefert seine Waare nach Amsterdam, London, Hamburg usw.
Zu Gelsdorf ist auch noch eine solche, fast ebenso starke Fabricke, welche dem Jungbecker zugehört. Ferner sind auch solche Fabricken zu Ohndorf [Adendorf] und Erstdorf. Die Herrschaft Gelsdorf ist Jülichsch, aber das Schloß ist Kurkölnisch. — Herr von Gruben hält sich meistens in Bonn auf, in den schönen Jahreszeiten aber einigemal bey sechs Wochen auf seinem Landhause zu Gelsdorf. In seiner Abwesenheit wird es von einer Haushälterin bewohnt und im Stande erhalten.
Bey dem Freundschaftlichen Herrn Richter Custodis blieb ich bis des Nachmittags um 5 Uhr, da ich auf Eckendorf 1/2 Stunden von Gelsdorf, auf Kirchdong 2 Stunden von Eckendorf reißte. Zu Kirchdong waren die Äpfelbäume jetzt in der schönsten Blüthe, da sie am Rhein schon den 16. blühten. Von Kirchdong ist es noch eine Stunde auf die Kurpfälzische Poststazion Remagen. Der Weg dahin geht durch den angenehmsten Wald von der Welt. Ungefehr gegen 8.00 Uhr war der harmonische Gesang der Nachtigallen zu stark, daß ich ganz entzückt wurde .. . «