Fünfzigtausend Bohnen in Staffel
Fünfzigtausend Bohnen in Staffel
Franz Koll
Die Spitzen der Wingertspfähle, die nach dem Krieg gegen guten Tauschrotwein von Staffel nach Rech geliefert worden waren, hatte Papa zurückbehalten – als Bohnenstangen, die er an der Nordseite des Brennes aufgestellt hatte für den Fall eines größeren Vorhabens, denn es handelte sich um gut hundertfünfzig Stück.
Als dann in den Bodenrest des Sacks mit den Suppennüdelchen, die ich in einem liegengebliebenen Militärwagen gefunden hatte und von denen wir seither gezehrt hatten, der Schimmel geraten war, schien es für Papa an der Zeit, sich um ein neues Grundnahrungsmittel zu kümmern, das Vorrat bot auf lange Sicht.
Auf dem „Eigen“ hatte Onkel Alois, der andeutungsweise von Papas Plänen wußte, deshalb neben den Futterrüben nach der Sonnenseite hin einen Streifen für die Bohnen der Bonner Zugezogenen freigelassen. Die Stangen hatten wir frühzeitig gesteckt, in drei langen Reihen zu je fünfzig, auf Lücke zueinander versetzt. Bereits ohne Bohnen sah es ungemein geordnet und von höherer Absicht getragen aus.
Mit dem Legen hatte Papa noch gewartet. Auch nach den Eisheiligen seien leichte Nachtfröste für Staffel nichts Ungewöhnliches. Anfang Juni hatte er es endlich gewagt. InAhrweilerhatteer einen Beutel Saatbohnen aufgetrieben, denen er bezüglich ihres Aufgehens bis zum Beweis des Gegenteils mißtraute. Wir harkten den Boden zwischen den Stangen und entfernten hochgeschossene Frühjahrsunkräuter. Dann zeigte mir Papa den eigentlichen Vorgang des Setzens. Mit zwei Fingern zog er in der Erde einen engen Kreis um die erste Stange, legte neun Bohnen in gleichem Abstand in die kleine, runde Furche und schob sie mit der Handkante wieder zu. Ich tat es ihm nach, und gegen Abend blickte Papa voller Zufriedenheit die Reihen frisch gelegter Stangenbohnen entlang.
Sie keimten ausnahmslos, rankten, blühten und setzten üppig an. Jeden Sonntag nach der Messe ging Papa hin und brachte frohe Kunde nach Hause über das prächtige Gedeihen der Bohnen. Mit Mama spielte er alle möglichen Zubereitungsarten von Stangenbohnen durch, die allerdings von vornherein dadurch eingeschränkt waren, daß Papa die Bohnen ausreifen lassen wollte. Nur einmal, für eine einzige Mahlzeit, brachte er grüne zum Probieren mit. Mama kochte Suppe daraus, mit wenig Kartoffelwürfeln und einem Schuß Sahne aus Tante Marias blaugrauem Steintopf. Ich langte gehörig zu und brachte es schließlich auf sechs Teller, was Mama vor der Familie und im Dort, wohin es ebenfalls als bemerkenswertes Ereignis gedrungen war, mit meinem derzeit strengen Wachstum notdürftig zu rechtfertigen versuchte.
Im September waren die Tage immer noch sonnig trocken, wie schon den ganzen Sommer über. Den Rüben nebenan hätte ein Regen hin und wieder gut getan. Aber selbst das nach jeder Messe aus aller Munde zum Himmel gesandte Gebet um gedeihliche Witterung – „Du führest die Wolken und gießest den Regen aus. Du gibst ihn dem einen Ort, und dem ändern versagst du ihn.“ – hatte wenig bewirkt. Die Nächte hingegen waren schon vorherbstlich kühl. Papa hätte die Bohnen aber gerne rappeldürr gehabt. Jeder weitere Sonnentag würde sie dem höchsten Reifegrad noch ein wenig näherbringen. Mama hatte längst zum Pflücken geraten. Frühmorgens am 20. September trug der Wassereimer neben dem Viehkessel, Papa bemerkte es mit Entsetzen beim Pinkelgang zum Mist, eine dünne Eisschicht. Wir rannten das Dorf hinaus zum „Eigen“. Die ersten Schoten, die wir in die Hand nahmen, fühlten sich seltsam weich, eine gar matschig an. Papa wurde blaß; kein Schimpfen, kein Fluchen; nur stumme Enttäuschung. Die Sonne stieg höher. Nun wäre es ein weiterer Tag der Reifung gewesen. Aber wenige Frostgrade in der Nacht hatten alles zunichte gemacht. Trotzdem pflückten wir die Bohnen. Zu Hause pellten wir sie sogar und prüften jede einzelne. So bekamen wir noch eine Schüssel voll halbwegs genießbarer zusammen, für zwei-, höchstens dreimal Suppe im Winter. Um das Unglück, das er durch sein gewagtes Zaudern in einer lebenswichtigen Angelegenheit über die Familie gebracht hatte, in seiner ganzen Tragweite zu ermessen, gab Papa, die Hand im Hosenbund auf dem nervösen Magen, uns Kindern auf, den Verlust zu berechnen: Hundertfünfzig Stangen mal neun Ranken, mal durchschnittlich fünf Schoten, mal in etwa acht Bohnen – mindestens.
Stangenbohnen