Flutkatastrophe und Wiederaufbau in Schuld: Zwischen Apokalypse und Neuanfang
144 von 320 Haushalten betroffen – Ein Dorf, das die Ahrschleife auf seinem Wappen verewigt hat und dessen Identität immer von der Ahr geprägt wurde
Katharina und Vanessa Kläsgen
13. Juli 2021: Tsunami zerstört Dorfidyll: Das Datum 14. Juli brennt sich für immer in das Gedächtnis der Einwohner*innen und in die Geschichte der Ortsgemeinde Schuld ein. Sintflutartige Regenfälle lassen die Ahr, die um Schuld wie ein Omega fließt, und ihre Nebenflüsse, örtlich vor allem den Armuthsbach, Laufenbach und Dreisbach, zu reißenden Wassermassen mit einer brutalen Fließgeschwindigkeit werden, die Autos wie Pappschachteln mitreißen, Gebäude einstürzen lassen und Straßen wegreißen. Zwischen 16 und 21 Uhr steigt der Pegel um ca. 1 Meter pro Stunde auf unfassbare 7,87 Meter an. Das Handynetz, die Stromversorgung und das Internet brechen zusammen. Bürger*innen flüchten vor dem Tsunami auf ihre Dachböden, klettern in die Schaufeln von Teleskopradladern, rennen aus ihren Gebäuden auf Anhöhen oder bringen ihre Autos in Sicherheit. Nachbarn helfen einander, packen sich Taschen mit wichtigen Gegenständen und sprechen sich gegenseitig Mut zu. Die Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehren, Wasserretter*innen der DLRG Andernach und Bürger*innen retten ca. 30 Personen, 9 von ihnen in akuter Lebensgefahr, unter Einsatz ihrer eigenen Leben und durch abenteuerliche Aktionen. Wie durch ein Wunder stirbt in Schuld niemand.
Der zerstörte Ortskern von Schuld
Todesangst, Schock, Ohnmacht und die Ungewissheit über das Schicksal von Familien, Freunden und Bekannten bestimmen die Gefühlslage vieler Schulder*innen in dieser Nacht. Viele verbringen die Nacht gemeinsam im Evakuierungszentrum, dem Pfarrheim der St. Gertrud-Kirche, in höher gelegenen Wohnungen bei Familien und Freunden oder nervös den Pegelstand der Ahr betrachtend in ihren Häusern. Wenige harren noch auf Rettung wartend in ihren überflutenden Gebäuden aus. Schlaf findet kaum jemand. Das Rauschen der Ahr und das Getöse der Helikopter sind zu laut, die Luft von Öl- und Fäkaliengestank durchzogen und die Körper von Adrenalin vollgepumpt. Einsatzkräfte von der Polizei, den Freiwilligen Feuerwehren und der DLRG sind die ganze Nacht mit Evakuierungen, Gefahrenabwehr und dem Ordern von Unterstützung beschäftigt. Die Tatsache, dass um ca. 22 Uhr der Regen stoppt und der Pegel schnell fällt, ist ein Hoffnungsschimmer, mehr aber nicht.
Katastrophengebiet, Aufräumarbeiten und SolidAHRität
Am 15. Juli 2021 zeigt sich das ganze Ausmaß der Naturkatastrophe. Meterhohe Trümmerhaufen bestehend aus Autos, Gastanks, Totholz sowie Gebäudeteilen türmen sich in den Straßen, überdimensionale Krater klaffen in Straßen auf, heruntergekommene Hänge sowie weggerissene Uferböschungen prägen das Ortsbild und zerstörte Brücken sowie weggebrochene Gebäude bilden eine neue surreale Realität.
Viele haben Alles verloren, sind aber froh, am Leben zu sein. Heimat, Erinnerungsstücke, Lebensgeschichten sind einfach weg. Geliebte Erholungsplätze an der Ahr, Dorftreffpunkte, ein Kinderspielplatz, ein Tennisplatz und das Dorfgemeinschaftshaus, die in ehrenamtlichen Arbeitsstunden sanierte „Bubenlayhalle“, für immer verschwunden. Die Bäckerei, die Pizzeria, der Frischemarkt, ein kleiner Tante-Emma-Laden inklusive Metzgerei, eine Kneipe, die Angelteiche, der Campingplatz und einige Handwerksbetriebe teilweise oder ganz zerstört. 144 betroffene Haushalte von 320 Haushalten. Was macht das mit den Schulder*innen? Was macht das mit einem Dorf, das die Ahrschleife auf seinem Wappen verewigt hat und dessen Identität immer von der Ahr geprägt wurde?
Der Ortsbürgermeister von Schuld, Helmut Lussi, hat auf der Pressekonferenz in Adenau, die nach dem Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Ministerpräsidentin Malu Dreyer in Schuld am 18. Juli 2021 stattfand, emotional von Narben gesprochen, die vielleicht nie verheilen werden. Jeder Heilungsprozess ist, wie die Narben selbst auch, sehr individuell und durch Höhen und Tiefen gekennzeichnet. Einige Schulder*innen blicken optimistisch in die Zukunft, entwickeln gemeinsam Ideen für den Wiederaufbau und sehen in ihm auch eine Chance. Andere Schulder*innen leiden sehr unter der Zerstörung ihrer Heimat, werden von Flashbacks geplagt oder können oft nur schwer etwas Positives sehen. Ups und Downs gehören bei allen im Ahrtal dazu. Und gemeinsam wird es allen gelingen, Schuld schön, aber anders wiederaufzubauen und dabei aufeinander zu achten. Was alle im Dorf eint, ist eine tiefe Dankbarkeit. Eine tiefe Dankbarkeit gegenüber den Einsatzkräften aller Blaulichtfamilien, den ehrenamtlichen Helfer*innen des THWs, den Soldat*innen der Bundeswehr, den Land-, und Forstwirten, Bau- und Lohnunternehmern, den Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisationen, den zehntausenden ehrenamtlichen Helfer*innen aus der Familie, dem Dorf, der Region und ganz Deutschland sowie allen kommunal-, landes- und bundespolitischen Entscheidungsträger*innen, Behördenmitarbeiter*innen und Ingenieur-, Architekt-, Statiker-, und Wissenschaftler*innen, die die Gemeinden und Betroffenen bei den Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten unterstützten und weiterhin unterstützen. Denn ohne ihr tatkräftiges Handeln, sei es beim Schlammschippen, Spenden sammeln, Schutt abtransportieren, Instandsetzen der kritischen Infrastruktur durch provisorische Brücken, Trinkwasseraufbereitungsanlagen sowie neue Strom-, Wasser-, Abwasser- und Telekommunikationsleitungen, Heilen von physischen und psychischen Wunden, Bewilligen von Sofort- oder Aufbauhilfen, Entwickeln von nachhaltigen Wiederaufbaukonzepten und Sanieren von Gebäuden, hätte es in Schuld, und nirgendwo im Ahrtal, Fortschritte gegeben. Die SolidAHRität sowie die Vielfalt der psychosozialen Projekte und innovativen Ideen sind einzigartig. Egal ob die Eimerketten des Helfer- Shuttles, Entkernungskommandos der Dachzeltnomaden, Kaffeetouren des Hoffnungswerks oder Haus der Hoffnung, Events und Hilfsprojekte der Malteser, Diakonie Katastrophenhilfe, des DRKs und der Caritas, Lichterfahrt der Landwirte und Lohnunternehmer, Aufsuchende Hilfe des Helfer-Stabs, Urlaubsangebote aus Fehmarn, Weihnachtsaktionen von Helfer*innen, Instandsetzung der „Schwarz Kaul“, die Beratung in den Infopoints oder die finanziellen Hilfen des Bürgerfonds der VG Adenau. Alle Aktionen transportieren eine Botschaft: „Zusammen schaffen wir alles. Ihr seid nicht allein.“
Eimerketten und Aufräumarbeiten in Schuld
Der Wiederaufbau als Marathon
Planung braucht Zeit und der Wiederaufbau ist ein Marathon mit vielen Herausforderungen, der vor allem Durchhaltevermögen verlangt. Diese Wahrheiten sind für viele Personen in Schuld nur schwer zu ertragen. Es ist verständlich, dass viele Schulder*innen möglichst schnell wieder intakte Straßen, eine funktionierende Lebensmittelnahversorgung vor Ort, die leckeren Backwaren der Landbäckerei Schlösser und köstlichen „Schnibbelchen“ vom Frischemarkt Thiesen werden schmerzlich vermisst, ein neues Dorfgemeinschaftshaus, einen neuen Spielplatz samt Sportanlage und einen Plan für eine hochwasserresiliente, naturnahe Gestaltung des Dorfkerns haben möchten.
Die beleuchtete Domhofbrücke mit Gerüst
Natürlich wollen die Bürger*innen bei der zukünftigen Dorfgestaltung ein Mitspracherecht haben und sind es leid, immer noch Ruinen, zerstörte Straßen und eine große Fläche in Braun und Grau zu sehen (Stand Juli 2022). Die Herausforderungen wie Aushandlungsprozesse, Warten auf wissenschaftliche Analysen, Förderzusagen und Ausschreibungen, Fachkräftemangel etc., mit denen die Gemeinde und Betroffenen zu kämpfen haben, sind immens. Es wurden aber, auch durch das Engagement der Gemeindevertreter*innen, schon Erfolge verbucht: schnelles Aufräumen, unbürokratische Auszahlung von Spenden, Auftragsvergaben für den Neubau von Straßen, Pläne für die Gestaltung des Dorfkerns und der Brücke, Idee eines Neubaugebiets. Eine gute Zusammenarbeit aller wird Schuld in den nächsten Jahren wieder zu einer idyllischen Heimat machen.