Flurnamen als Gegenstand der Forschung
Von Dr. Valentin Palm
Flurnamen haben etwas zu bedeuten und sind deshalb Urkunden des Flurorts, für Kleindörfer oft die einzigen Geschichtsquellen für die Zeit vor 1800. Man muß nur hinter ihren Sinn kommen, und das ist nicht leicht. Ja, daß die Weinbergslagen „Brauneberg“ und „Sackträger“ einmal eine Heide bzw. eine fruchtbare Ackergewann waren, findet der gesunde Menschenverstand; daß „Krummenacker“ eine ge krümmte, „Gänsehals“ eine sehr schmale, „Steinacker“ eine steinreiche Flur bedeutet, läßt sich sogar mit dem Gesicht begrei» fen. Aber die Überzahl der Gewannennamen sagt nicht aus, was sie dem Namen nach auszusprechen scheint, weil sie im Klang- und Schriftbild entstellt ist. An der Entstellung tragen Volksetymologie und Sprachentwicklung schuld. Unter Volksetymologie versteht man das Bemühen bäuerlicher Menschen, Namen mit verschleiertem Sinn zu entschleiern. Man unterlegt dem unverständlichen Namen einen Sinn, der in verdorbener Form gegeben erscheint. So wurde aus Hostet (= Hofstatt oder Bauernhof) Hostert, worunter ein schnell und oberflächlich arbeitender Mensch verstanden wird, aus Forlen (= Föhren oder Kiefern) Forellen, aus Berfink (von bervinca = Immergrün) Bärenfang.
Im gleichen Sinne waren auch noch im 5. und 4. Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts bei Anlegung der ersten preußischen Flurbuchet und Flurkarten manche Vermessungsbeamte tätig. Sie wollten die ihnen verdreht vorkommenden Namen zurecht biegen und verbogen sie völlig. Sie machten aus Basilien: Brasilien, Fohlen: Polen, Ungern: Ungarn. So kamen Ländernamen ins Rheinland, die selbst den Fachmann zunächst vor Rätsel stellen. Eine Lösung ist nur möglich, wenn uns alte Lagerbücher alte Namensformen auffinden lassen. Dann entpuppt sich Brasilien als Basilien (= Heide, auf der basilicum (= Königskerze) häufig war, Polen als Feuchtland, wo der Wasserpfuhl (Puhl) keine Seltenheitserscheinung war, Ungarn als Unter oder Viehrastplatz, der auch als Kühunter, Onter, Ongern, Lager, Rindertanz, Mistplatz, Stäbel, Stiefel und Kuhstiefel vorkommt. So haben uns Beamte und Bauern mit wohlgemeinter Namensverbesserung eine Namensverböserung besorgt und den Namenfreund vor Aufgaben gestellt. Doch kann ein solcher darob nicht böse sein, weil er an der Namensentstellung auch eine lobenswerte menschliche Seite entdeckt. Er stellt mit Freude fest, daß der unverbildete Verstand einfacher Menschen eben ein Geist ist, der in einem Namen keine leere Worthülse haben will, die so sehr einem durch häufigen Gebrauch bis zur Unkenntlichkeit abgegriffenen und wertlos gewordenen Geldstück ähnelt. Er prägt deshalb den unverständlichen Namen nach bestem Können neu und gibt ihm einen Sinn. Er fügt zur Hülle die Fülle, zur Gestalt den Ge= halt, zum Wortleib eine Wortseele, zur Form den Inhalt.
Während die Volksetymologie Flurnamen entstellend erweitert, führt die Sprachentwicklung im Laufe von Jahrhunderten zu Kürzungen: Schöntal ist zersprochen zu Schentel, Krebitzbach zu Krebsbach, Lindenberg zu Lemberg, Buchenraid (d. i. Buchenrodung) zu Bockert, Wingarten zu Wingert, die Bergnamen Steiger zu Stai, Ragel (von ragen) zu Rohl, Katzenzagel (Zagel-Schwanz) zu Katzenzahl. Noch größer und sinnverdunkelnder ist die Kürzung volksfremder und alter muttersprachlicher Namen. Der keltische Name brogilo für rechtlich oder zäunlich abgesondertes Grundstück lautet heute Brühl, Prehl, Brohl oder Bröhl, das mittellateinische vilare (= Kleinsiedlung) Wiler, Wiel, Weiler und Wiehlen; das althochdeutsche bizunan = das Umzäunte lebt in den Namen Bitzen, Bitz, Petz, Bäzz, das ebenso alte haldun (die Halde) in Heide, Held, Hell und Hölle, und Keerschel hieß im Mittelhoch-deutschen Kershell – Kirschenhang. Auch diese Veränderung von einer Vollform zu einer Schrumpfform hat eine menschliche Seite, aber eine weniger lobenswerte: den Hang zur Sprechbequemlichkeit. Doch wollen wir unsere Vorfahren deswegen nicht schelten, eher entschuldigen; denn sie konnten bis etwa 1700 nur in Ausnahmen lesen und schreiben und hatten deswegen nicht wie wir am Schriftbild einen Wegweiser zum Laut= oder Klangbild.
Ein kurzer Blick in das Wesen der Volksetymologie und der Sprachentwicklung lehrt uns deutlich, daß man bei der Deutung der Flurnamen nur selten von der heutigen Form ausgehen kann. Man muß vor jedem Deutungsversuch nach alten Formen der Hochsprache, der Mundart und einige Male auch der keltischen und lateinischen Sprache suchen. Darauf versteht sich jedoch nur ein Sprachgelehrter. Sehen wir uns einmal seine Arbeitsweise an einem Namen an, den wir ihm vorlegen. Wir stutzen bei dem Flurnamen „Wind-berg“, weil wir wissen, daß wir nur selten einen Namen nehmen dürfen, wie er aus= zusagen scheint. Wir prüfen daher die Flurwirklichkeit. Wir untersuchen, ob die Gewanne Windberg besonders stark dem Winde ausgesetzt ist, stellen aber gerade das Gegenteil fest: der Windberg liegt als ein nach Osten gerichteter Hang im Lee (= Leefeld oder Windschatten) der vorherrschenden westlichen Winde vorzüglich geschützt. Wir sehen ein, daß das Bestimmungswort Wind nicht mit Luftbewegung sich deckt und suchen einen Sprachforscher auf, dem wir unsere vollzogene Realprobe und die Frage nach dem Sinn des Bestimmungswortes in Windberg vorlegen. Wir hören die Antwort des Gelehrten: „Windberg ist zu Windheck, In der Winn und Auf der Winn zu stellen. Wind ist eine volketymologische Umdeutung von Winn, einer Mundartform von mittelhochdeutsch wünne, althochdeutsch wunja = Viehweide wie das Wort Wonne. Wir sprechen vom Wonnemonat Mai, weil er seit je die beste Weide liefert. Windberg bedeutet also Weidberg. Wir staunen, sind zufrieden und danken.
Nach einiger Zeit aber wird unsere Zufriedenheit brüchig, weil einige weitere Fragen uns bedrängen: War der Windberg eine offene oder umzäunte Weide? Welches Weidevieh wurde auf getrieben? War Windberg eine natürliche Weide wie die Heide oder eine angelegte wie die heutigen Kunstwiesen? Der wieder aufgesuchte Gelehrte aber enttäuscht uns, weil er nicht auch Agrarhistoriker ist, mit den Worten: „Ich kann nur wiederholen, daß es sich beim Windberg um eine Viehweide handelt, also um eine Grasfläche zur Selbstversorgung des Weideviehs. Wollen Sie mehr erfahren, so wenden Sie sich an einen Flurforscher.“ Das Glück führt uns bald zu einem Kenner der geschichtlichen Flurverhältnisse im Rheinland zwischen 800 und 1800, der uns mit einem Vortrag aufwartet, der weit über unsere Fragen hinausgeht. Die Winn war eine ungehegte Naturwiese mit Holzpflanzen, die der Viehzunge nicht genehm waren, wie Wacholder, Stechpalme oder Hülse. Stech- und Besenginster, Schwarz- und Weißdorn, Beerenstauden, Heckenrosen und vor allem Heidekraut, nach dem die meisten Naturweiden Heide hießen. Doch benannte man im Rheinland die Weideflächen neben Heide und Winn auch mit Driesch, Esch, Pesch, Schiffelheide, Schiffelland, Wildland oder Zenderei. Für Arbeitspferde, Zugochsen und Jungvieh gab es Zaunweiden unter den Namen Pferdswiese, Ochsenweide, Fohlengarten, Kälberwiese, Pferg, Anspann, Pferdsanspann, Kälberanspann, die meist auch Nachtweiden waren.
Während die Zaunweiden nur als Futterflächen dienten, wurden die offenen Weiden auch zum Fruchtbau herangezogen. Für die Eifel und den Hunsrück ist festgestellt, daß zwischen 1700 und 1.900 in Zwischenräumen von 25—50 Jahren die Weide, sofern sie nicht eine Felsenheide oder Naßheide war, ein Jahr mit Korn und ein Jahr mit Hafer, Heidekorn und anderen Sommerfrüchten bestellt wurde. Der „Gemeindevorgänger“ (Zender, Achtervogt, Bürgermeister oder Vorsteher) teilte in jedem zweiten Jahre eine gemeindeeigene Heidefläche nach der Zahl der Familien in gleich große (etwa % ha) Stücke und verloste sie zur Kultivierung, die in reiner Handarbeit vollzogen werden mußte. Auch der Gespannbauer mußte sich als Hackbauer betätigen, während der Gespann- und Besitzlose auf gleichgroßer Fläche Gelegenheit zum Fruchtbau hatte. So haben wir in dieser feldbaulichen Nutzung der Heiden eine agrarkommunistische Betriebsform vor uns, die in germanische und vorchristliche Zeiten zurückreicht und mit Feldgraswirtschaft bezeichnet wird.
Der Hackbau auf der Heide war mühselig, zeitraubend und im Ertrag dürftig. Wenn 1721 ein Morgen im Kreise Bernkastei nur 3,2 Zentner Korn und noch weniger Hafer und damit nur ein schwaches Drittel einer heutigen Normalernte brachte, kann daran mancher notvolle Umstand erkannt werden: kleine Ackerflur und kleine Ernteerträge auf ihr, weil gegenüber heute damals Ackergeräte, Saatgut, Unkrautbekämpfung und Düngung unzureichend waren. Weil bei fehlendem Kartoffelbau und ungenügender Fleischversorgung die Landbewohner vornehmlich von Brot und Mehlsuppen leben mußten, schreckten sie nicht vor dem Hackbau zurück. Dieser vollzog sich im Jahr des Kornbaues in vier namentlich bekannten Mühen: durch Schiff ein, Brennen, Hacken und Winnen.
Das Schiffeln bestand im Niederschlagen der Heidevegetation und Abhauen des Heidekrautes und der Grasnarbe, die zum Trocknen aufgebaut wurden.
Das Brennen der Heide, das zwischen Johannistag und Michelstag vorgenommen wurde, machte das Rheinland zu einem Rauch- und Schwarzland, das die helle Sommerlandschaft übel verdüsterte. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sah der Dichter Kinkel von der Nürburg die verbrannte Eifel: „Hier blick‘ ich ins Land hinab. Furchtbare Schau! Ein Heideland ringsum in weitem Bogen. Die Nähe schwarz, die Ferne duftig blau. Unendlich vor den Blicken hingezogen. Mit Mühe klettert auf versengter Erde zum Felskamm hin die kecke Ziegenherde.“
Mehr schmutzig als schwer war das Hacken der Aschenflächen.
Unter Winnen verstand man das Säen, Einharken der Saat und das Ernten. Der magere Ertrag mühevollen Schaffens hieß: „Winnung“. Von einer Weide, die sich zum Schiffeln und Winnen eignete, sagte man in Akten: „Kann gewonnen werden.“
In „Wildland“ kommt gut zum Ausdruck, daß die winnbaren Heiden Jahrzehnte wild lagen und nur zwei Jahre bebautes Land waren. „Driesch“ (d. i. das Trockene) erinnert insofern an Hackbau, als ein solcher nur auf trockenen, hackbaren Böden, nicht auf felsigem oder nassem betrieben wer= den konnte. „Zenderei“ rührt von Zender (aus Centenarius = Hundertschaftsführer) der in jedem zweiten Jahre die Teilung des Hackbodens leitete. Esch und Fesch bedeuten wie Winn: die Weide.
So redet der Kenner alter Wirtschaftsformen, und zweifellos einiges mehr als der Sprachgelehrte. Der gibt eine kurze Worterklärung, der Historiker eine anschauliche Sacherklärung. Beide Forscher stehen jedoch nicht in Konkurrenz gegeneinander, sondern in Zusammenarbeit zueinander. Sie erstreben das gleiche Ziel von verschiedenem Standort aus, der Sprachgelehrte vom Worte her, der Historiker von der ehemaligen Flurwirklichkeit her. Beide dienen eben mit den Mitteln ihrer Wissenschaft derselben Aufgabe: Aufhellung verdunkelter Flurnamen.