Familienforschung ist wieder „in“ – Ein Kohlenbrenner namens Michel
Familienforschung ist wieder „in
Ein Kohlenbrenner namens Michel
Manfred Reinnarth
Nie zuvor hat es einen solchen Ansturm auf die Archive mit familiengeschichtlichen Unterlagen gegeben, wie gerade in jüngster Zeit. Immer mehr Menschen forschen nach ihren Ursprüngen. Warum? Haben es vielleicht doch nun einige satt, zu einer Gesellschaft zu gehören, die sich immer weiter auseinanderlebt, wo Orte zersiedelt werden, Zugezogene Traditionsfeste unterbinden lassen, weil sie sich in ihrer Ruhe gestört fühlen oder Großeltern in der Familie ihren Lebensabend nicht mehr verbringen können? Wie auch immer. Das Interesse an der Herkunft, dem Gewesenen, dem, was in uns steckt, ist da. Auch mich hat es gepackt.
Der Einstieg
Das war 1986. Ein Jahr vor dem Abitur hatte ich mit der Schülerzeitung zu tun, und die wurde bei einem Mann gedruckt, der dies als Hobby im eigenen Keller tat. Ganz merkwürdig reagierte mein Vater auf den Namen dieses Mannes. Irgendwie hatte er ihn schon einmal gehört. Da war doch was. Es dauerte ein Weilchen, und da fiel ihm ein Familientreffen an der Mosel ein, und daß der Drucker mit einer Tochter von einem Bruder seines Vaters verheiratet ist. Und plötzlich fielen meinem Vater auch noch ganz andere Verwandte ein. Beinahe allein Godesberg, denn dort war sein Vater geboren. Daß er nicht alle Vettern und Cousinen zusammenbrachte, lag nicht nur daran, daß sein Vater 1922 eine Ahrweiler Winzerstochter geheiratet hatte und an die Ahr gezogen war. Mein Vater ist über 20 Jahre nach seinem ältesten Bruder zur Welt gekommen, da war die Mutter schon 46 Jahre alt. Das war 1943, und nach dem Krieg hatte jeder für sich zu sorgen. Das Haus seiner Großeltern in Plittersdorf am Rhein war ausgebombt.
Familienpapiere
Solche Erzählungen machten mich natürlich neugierig, und wie begeistert war ich erst, als mein Vater die Kopie eines alten Stammbuches aus der Schublade hervorkramte. Im Dritten Reich hatte mein Großvater das benötigt, weil er bei der Reichspost im Telegrafenbau angestellt war. Darin waren mehrere Generationen eingetragen, im Anhang standen gar noch die Namen meiner Ur-Ur-Ur-Großeltern. Nun war plötzlich sogar mein Vater interessiert. Aus Schalkenbach kam die Familie? Über Niederbachem warsie nach Plittersdorf gezogen? Das wußte er bis da auch nicht. So genau hatte er sich die Unterlagen nie angeschaut.
Anfragen und Archivbesuche
Ab diesem Zeitpunkt ließ ich nicht mehr locker. Als erstes wurde ein Brief an den Pastor von Königsfeld aufgesetzt. Denn der war als Pfarrherr für Schalkenbach zuständig, und irgendwann mußten meine Ur-Ur-Urgroßeltern ja geheiratet und meinen Ur-Urgroßvater haben taufen lassen. Die Antwort von Pater Winfried von Essen erzeugte unterschiedliche Emotionen:
Ich war total begeistert, für meinen Vater brach eine Welt zusammen: Die Familie schrieb sich damals, um 1800 gar nicht Reinnarth. Noch schlimmer. Den Leuten war es ganz egal, wie der Name auf dem Papier auftauchte. Der Schafhirt Johann Reinnarth aus Schalkenbach steht mehrheitlich als Jo’an Reinard im Kirchenbuch. Seine zehn Kinder sind allesamt anders geschrieben: Rheinarth, Reinhard, Reinarts und wie es dem Pastor gerade eingefallen war. Das mußte ich mir natürlich im Original ansehen. Im Bistumsarchiv Trier, wo die meisten alten Kirchenbücher aus unserer Gegend aufbewahrt werden, kam zunächst die Ernüchterung. Lateinkenntnisse wären hilf reich, und mit der Schrift gab es auch Probleme. Also versuchte ich bei meinen ersten Besuchen im Archiv, die Buchstaben so gut wie irgend möglich abzumalen und suchte danach Leute auf, die sich auskannten.
Mühsame Forschungsarbeit
Die Schalkenbacher Vergangenheit meiner Familie ließ sich parallel in den standesamtlichen Akten nachvollziehen. Die Bücher des alten Amtes Königsfeld befinden sich heute bei der Verwaltung in Niederzissen. Der Datenschutz verschließt zwar den Einblick in Unterlagen, die nicht älter als 100 Jahre sind, aber alles andere läßt sich in Zeiten geringen Ansturms bei der Behörde mit Wohlwollen des Sachbearbeiters einsehen. Kopien gibt es allerdings nicht, höchstens beglaubigte Urkunden, und die kosteten vor Zeiten schon neun Mark pro Blatt – Tendenz steigend. Also habe ich mir auch dort nur Notizen gemacht und wurden ältesten Beleg schwarz auf weiß geben lassen. Bei der Suche half die Decennaltabelle ungemein. Dieses Zehnjahresregister ist alphabetisch geordnet und ermöglicht damit einen schnellen Zugriff auf die einzelnen standesamtlichen Vorfälle. Mehrere Besuche in Niederzissen waren notwendig, dann war ich meinen entfernten Vorfahren ein gutes Stück näher gekommen. Schafhirten waren sie gewesen. Von den Kindern des Johann Reinard waren mindestens drei Söhne verheiratet. Es sollte aber noch jahrelanger Suche bedürfen, bis ich wußte, daß ich auch mit der Familie Reinhardt in Weibern und der Familie Reinnarth in Mayen verwandt bin. Zunächst war ich aber auf dem Weg zurück in die Vergangenheit. Der Schäfer Johann Reinard war laut Kirchenbuch das älteste von drei Kindern des Schafhirten Joseph Reinard aus Dedenbach.
Ein Zufall erschloß mir die Nachfahren des ältesten dieser drei Kinder. Meine Mutter hatte in Oeverich den Archivar Ottmar Prothmann zum Nachbarn, welcher bei der Erforschung der Familie seines Schwagers auf besagtes drittes Kind, nämlich Mathias Reinartz gestoßen war. Jener war vom Brohltal auf die Grafschaft gezogen, hatte in Ringen standesamtlich 1812 eine Gertrud Kündgen geheiratet und in Bölingen eine Gastwirtschaft eröffnet. Und weil er genausowenig lesen und schreiben konnte wie sein Vater, hieß dieser Familienzweig bald amtlich Reinhards. Amtlich heißt links des Rheins seit etwa 1798 standesamtlich, denn seit der Zeit, als die Eifel im Zuge der französischen Revolution der fränkischen Republik einverleibt worden war, gibt es hierzulande zivilbehördliche Unterlagen. Geburten, Heiraten und Sterbefälle mußte mit dem Namen der Zeugen festgehalten werden.
Nun lebte aber der Vater von Johann, Mathias und deren Schwester Anna Catharina, verheiratete Görges, in Dedenbach erst seit 1777. In diesem Jahr hatte er nämlich in der Königsfelder Pfarrkirche Gertrud Brem geheiratet. Er selbst stammte aus „Villa Adorff p’pe Adenaw“. Dies ist die lateinische Bezeichnung für „Adorferhof im Bereich Adenau“. Mit der bereits mehrfach praktizierten Methode kam ich im Adenauer Kirchenbuch diesmal aber nicht allzuweit. So oft ich das mächtige Buch auch durchforstete, ein Josef Reinard fand sich nicht – zunächst wenigstens. Im Pfarrort Adenau hatts ich gelesen, die Seiten des Filialortes Gilgenbach studiert, weil Adorferhof zu jener Zeit keine eigene Kapelle hatte, sogar alle anderen Filialen war ich schon durchgegangen. Die Seiten mit dem mir unbekannten Namen „Vagi“ hatte ich dabei überschlagen. Aber genau dort, wurde ich dann doch noch fündig. Dies war kein Ortsname, sondern die Bezeichnung für Vagabunden und nicht Seßhafte. Und da stand dann, was ich wissen wollte: Michel Reinard und Anna Zimmer als Eltern des Joseph Reinard, dessen Paten Helena Dreser und Joseph Newinger waren.
Noch Jahre sollten vergehen, bis ich einen Schritt weiter war. Denn aus diesem Eintrag ließ sich keine Herkunft mehr entnehmen. Ich begann damit, sämtliche Personen im Computer zu speichern und zu sortieren, mit denen meine Familie irgendwann auch nur einmal im Entferntesten zu tun gehabt hatte. Dabei legte ich ein extra Buch für alle Personen an, deren Familienname so ähnlich klang wie meiner. Tausende Gleichnamige, Hunderttausende Andersnamige kamen zusammen. Weil standesamtliche Unterlagen längst erschöpft waren und auch die mir bekannten Kirchenbücher nichts mehr hergaben, suchte ich nach anderen Zeugnissen der Vergangenheit. Etwa im Landeshauptarchiv in Koblenz, in der Trierer Stadtbibliothek, im Bonner Stadtarchiv …. Immer mehr Daten häuften sich an, jedoch wenig Neues über meine Familie, gar nichts über meinen ältesten bekannten Vorfahren.
Forscherglück
Erst ein neuerlicher Zufall brachte mich weiter. Ich war meinen weitläufigen Verwandten in Mayen nachgegangen. Dabei entdeckte ich, daß in diesem Ort bereits eine Familie Reinard gelebt hatte, die aus Monreal stammte. Schließlich stieß ich auf zwei interessante Reinartz:
Bau eines Kohlenmeilers um 1900.
einen Thomas und einen Arnold. Beide kamen aus Monschau und haben 1672 hierzulande geheiratet; der eine in Monreal, der andere in Virneburg. Weil’nun einer ihrer Nachfahren in Kolverath und Retterath zu Hause war, hatte ich mir im Bistumsarchiv auch einmal dieses Kirchenbuch geben lassen. Und weil ich sowieso nicht richtig weiterkam, las ich mir die Einträge von der ersten Seite an durch. 1734 war das Buch angelegt worden und schon bei einem Namen im Januar 1735 traf mich fast der Schlag:
Michel Renard stand da – die Hochzeit mit Anna Zimmer, die ich so lange gesucht hatte. Sofort notierte ich mir sämtliche Zusammenhänge, Bekanntschaften und auch die Taufen von zwei Kindern. Später fotografierte ich die Seite, was gestattet ist, wenn man keinen Blitz verwendet.
Stoff für einen Krimi
Dieser Hochzeitseintrag war der Anstoß zu weiteren, aufregenden Forschungen. Bald hatte ich das Archiv der Virneburger gefunden. Weil die Burg samt Herrschaft zuletzt den Grafen von Löwenstein Wertheim gehörte, befinden sich die Unterlagen heute an der Tauber. Und ein Besuch in Wertheim brachte genügend Stoff für einen Krimi. Mein Vorfahr hatte sich nämlich um 1730 vor Gericht zu verantworten, weil er angeblich den Kohlenfuhrlohn nicht bezahlt haben soll. Köhler war er also. Aber ein Betrüger? Das Studium der Akte rechtfertigte ihn aus heutiger Sicht. Für den Hüttenmeister Bertram von Neu-wied hatte der Michel Reinardi nämlich gearbeitet, einen Wald gekauft, Kohlen gebrannt, und Fuhrleute angeheuert, die den Brennstoff fürdie Eisenhämmer an den Rhein zum Nettehammer (Miesenheim) und zum „Weißen Turm“ (Weißenthurm) brachten. Aus Zollprotokollen im Landeshauptarchiv geht hervor, wieviele Pferdekarren das Jahr über die Nette entlangrumpelten. Abgerechnet wurde damals mit Kerbhölzern, die, um Geld zu bekommen, dem Hüttenmeister vorzulegen waren. Die Fuhrleute von Boos hatten dem Michel ihre Hölzer nicht anvertraut, wohl aber die Leute aus der Bermeler Gerechtigkeit. Folglich erhielten auch nur diese ihr Geld. Weil die Booser aber vom Hüttenmeister nichts bekamen, zogen sie den Michel Renardi vors Virneburger Gericht. Der hatte nämlich den Wald an den Schultheißen von Calenborn (Kreis Cochem-Zell) weiterverkauft und mit ihm ein Abkommen über weiteres Kohlenbrennen getroffen, weil er die Nase von der Zusammenarbeit mit dem Neuwieder Hüttenmeister voll hatte. In erster Instanz bekam der Kohlenbrenner auch recht, doch die Fuhrleute ließen nicht locker. Die Kohlen wurden inzwischen „mit Arrest belegt,“ und nun sollte ermittelt werden, ob der Kaufvertrag mit dem Schultheißen nur geschlossen worden war, um die Fuhrleute zu betrügen.
Dummerweise „violierte der Calenborner Schultheiß den Arrest“. Er nahm die beschlagnahmten Kohlen weg, weil es Winter wurde und der Schnee alles zerstört hätte. Eine Einigung hätte sich wohl noch erzielen lassen. Das Gericht wollte nur, daß der Michel schwöre, er habe recht. Doch es wäre kein rechter Reinard gewesen, wenn rtirn das nicht zu „blöd“ vorgekommen wäre. „Ich habe recht, was soll ich da schwören“, hat er gesagt und nichts geschworen. „Damit hat er sich nicht wenig verdächtig gemacht“, entschied die Obrigkeit und verurteilte ihn zu 20 Reichstalern Strafe und Gefängnis. Daß der Retterather Vikar selbst den Vertrag aufgesetzt hatte und bezeugte, von einem Betrug nichts zu wissen, hatte niemanden beeindruckt. Der Michel floh und entging der Strafe. In einem Brief des Amtsverwalters von Virneburg nach Wertheim steht darüber: „… wird er seine Strafe wohl schuldig bleiben. Dem Vernehmen nach ist er ins Welschland zurückgegangen.“ Dies ist denn auch bis heute der beinahe einzige Hinweis auf die Herkunft dieses Kohlebrenners, der der Vater des Ur-Urgroßvaters meines Ur-Urgroßvaters war.
Noch viele Jahre lang hat sich Michel Reinard in der Eifel als Kohlenbrenner betätigt. Im Landeshauptarchiv zu Koblenz finden sich in den Akten der Herrschaft Olbrück noch die Abrechnung für die Jahre 1738 bis 1740, die sämtliche Arbeitsentgelte, Namen von Holzfällern und -rückern sowie einige Bezugsscheine für die Begleichung von Lohn in Naturalien wie Butter und Erbsen enthalten. 1743 kam in Herschbach eine weitere Tochter des Kohlenbrenners zur Welt, deren Paten Margarete Nohles und Josephe Lano waren. Letzterer hatte wohl dieselbe Herkunft wie der Michel. Er hieß nämlich eigentlich „la nue“, wohnte in Kempenich und war als Kohlenbrenner Nachfolger von Michel in der Langhardt. Der Michel taucht schließlich noch einmal auf: Im Kirchenbuch von Vischel ist 1754 bei der Taufe eines weiteren Kindes (diesmal wird die Mutter Anna Scop genannt) die Rede vom „peregrini carbonari“, also vom auswärtigen Kohlenbrenner. Dort geht die Suche also weiter. Finden sich noch Unterlagen im Besitz der Herren von Gymnich, die Vischel besaßen? Es gibt noch viel zu tun.
Auf hohe Herrschaften und reiche Leute bin ich bei meinen Vorfahren nicht gestoßen, und ein Familienwappen gibt es auch nicht. Aber nun ist sicher, daß ich von ihnen einiges geerbt habe, das sich nicht mit Händen greifen läßt, und ehrliche Leute waren es auch.