Erziehungsauftrag der Schule — eine Herausforderung für alle ?
Dieter Valnion
Die nachfolgenden Ausführungen über den Erziehungsauftrag der Schule in unseren Tagen wurden von Oberstudiendirektor Dieter Valnion anläßlich seiner Einführung als Schulleiter des Staatlichen Are-Gymnasiums Bad Neuenahr am 27. März 1981 vorgetragen.
Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zu einer Frage, von der ich glaube, daß ihre Beantwortung oder Nichtbeantwortung, unsere Gesellschaft in ihrer Substanz entscheidender beeinflussen wird, als alle zukünftigen technologischen und biologischen Neuerungen. Es ist die Frage nach den Werten, welche wir als Lehrer in der Schule vermitteln.
Schaut man in unsere Gesellschaft hinein, so kann man leicht erkennen, daß offenbar ein großer Teil dieser Gesellschaft — wenn auch oft auf unterschiedliche Weise — Unbehagen in Sachen »Moral« empfindet. Es läßt sich nicht mehr ohne weiteres ausmachen, was gut und was böse ist. Der Verlust an traditionellen Werten als Richtschnur ist überall spürbar. Moralisches versteht sich nicht mehr von selbst. Was allenthalben in der Gesellschaft gilt, gilt auch für die Schule. Werterziehung als Auftrag der Schule ist zwar unumstritten, aber zu welchen Werten erzogen werden soll, darüber herrscht keine Einigkeit. Was immer auch wir als Lehrer tun, wir müssen damit rechnen, uns heftiger Kritik auszusetzen. Viele Lehrer können davon ein Lied singen, daß sie zu konservativ, zu liberal, zu progressiv oder zu wenig kindgemäß erziehen; mit anderen Worten: nicht die richtigen Werte vermitteln. So ähnlich lauten die Vorwürfe. Geholfen wurde uns meist nicht. Hatte tatsächlich jemand den Mut, nicht nur Kritisches, sondern Konstruktives als »Hilfe« anzubieten, um Mut zur Erziehung zu machen, so setzte er sich selbst allen möglichen Verdächtigungen aus. Dies ist zwar nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil: In einer demokratischen Gesellschaft sollte allen Wertproklamationen mit einem gesunden Mißtrauen begegnet werden; zumal Ideologiefetischisten sich gerne hinter hehren Zielen bedeckt halten. So bliebe nur die geistige Auseinandersetzung, mit deren Hilfe ein Konsens gesucht werden muß. Für die Erziehungspraxis im Alltag des Lehrers ist das aber nicht genug. Wir brauchen zwar solche Auseinandersetzungen, wir müssen uns auch daran beteiligen, aber ihr notwendiger Weise akademischer Charakter und die oft verbundene Folgelosigkeit helfen uns in der Schule, wo wir ständig handeln müssen, nur selten weiter. Was wir brauchten, wäre eine Didaktik der Werterziehung, und die gibt es bis heute in überzeugender Form nicht. Die Reformen im schulischen Bereich bescherten uns in den letzten Jahren Lehrplanentwürfe, Lehrpläne, Handreichungen, Unterrichtsmaterialien. Mit ihnen wurden »Werte« festgeschrieben, doch leider oft nur mit plakativem Charakter. Ein Beispiel: In der Sportstunde wird Fußball gespielt, und im Unterrichtsentwurf ist zu lesen »Beitrag zur Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung«, Das kann es durchaus sein — unbestritten. Nur wenn mehr oder weniger jedem beliebigen Inhalt ein so globaler Wert zuerkannt wird, mithin ganz Unterschiedliches verstanden wird, haben Wertbegriffe ihren Sinn verloren. Wenn alles zur Emanzipation beiträgt, dann ist Emanzipation nur noch inhaltsleere Worthülse. Dann ist es möglich, daß auf einer weniger abstrakten Ebene höchst unterschiedliche Werthierarchien zur Wirkung kommen, denen allein gemeinsam ist, daß sie bedenkenlos modischen Zielsetzungen untergeordnet werden.
Die Problematik bliebe: Der einzelne Lehrer würde weiterhin die Werte vermitteln, die er für richtig hält, ohne daß von einem Konsens die Rede sein könnte. Bei genauerem Nachdenken lassen sich Rahmenbedingungen finden, die für eine schulische Werterziehung gelten sollten:
1. Schule muß verbindliche Werte vermitteln.
2. Schule muß die Verantwortung des einzelnen deutlich herausstellen.
Allgemeinplätze, können Sie jetzt sagen, die doch schon immer Bestandteil erzieherischen Wirkens waren. Ja und Nein. Als Forderungen sind sie so ähnlich schon immer gestellt worden. Aber in der täglichen Schulpraxis sind sie — meiner Meinung nach — kaum erkennbar.
Was ist damit gemeint?
Schüler müssen erfahren, daß die in der Schule vermittelten Werte nicht nur Proklamationen sind, sondern der Anspruch erhoben wird, diese Werte auch »zu leben«. Anders ausgedrückt:
Die Verletzung von Normen muß — auch für den Schüler — mit Sanktionen verbunden sein. Schule und Gesellschaft dürfen nicht hinnehmen, daß sich jene Mentalität ausbreitet, die beachtliche Verletzungen des Verhaltenskodex zu bloßen Kavaliersdelikten degradiert, d. h. der einzelne muß für sein Tun verantwortlich sein bzw. zur Rechenschaft gezogen werden.
Dabei ist es sehr wohl Aufgabe des Lehrers, das Verhalten des Schülers pädagogisch zu sehen, d. h. Alter, Herkunft, Einsicht, Kenntnisstand usw. zu berücksichtigen, mit anderen Worten: angemessen zu reagieren. Es geht aber nicht an, daß pädagogisches Handeln allein darin besteht, daß für jedes Vergehen eine Erklärung — was verständlich wäre — sondern auch noch eine Entschuldigung gesucht wird, oder noch schlimmer: hingenommen wird. Dabei zeigt sich, daß manches Verhalten schon so selbstverständlich ist, daß es nicht als unmoralisch, sondern gleichsam als clever gilt und damit noch positiver bewertet wird. Beispiele gibt es hierfür genug. Eines möge hier stellvertretend aufgeführt sein:
»Ein Mädchen der 12. Klasse eines Gymnasiums erzählt ihren Mitschülern, die Eltern hätten das blühende Geschäft wieder dem Großvater übertragen und sich von ihm zu einem so niedrigen Gehalt anstellen lassen, daß sie den Antrag auf BAFöG hätten »erfolgreich« stellen können.« So und ähnliche Beispiele ließen sich fortführen, die Lehrer in ihrem Verhalten mit eingeschlossen — ich erinnere nur an die Buß-und Bettag-Abrechnung von Mehrarbeitsstunden. Dies scheint mir typisch zu sein, für eine heute häufig anzutreffende Einstellung. Wird sie toleriert, dann breitet sie sich immer weiter aus. Wer heute nicht »trickst«, ist nicht nur ökonomisch von Nachteil, sondern muß sich auch noch bestätigen lassen, daß er wohl etwas weltfremd sei. Die hier zum Ausdruck kommende Mentalität, bei der man fast kein Unrechtsbewußtsein mehr hat, scheint mir das größte Hindernis für eine Werterziehung in der Schule zu sein. Die als verbindlich anerkannten Werte gelten für das eigene Verhalten nicht.
Die anderen — gemeint sind der Staat, die Gesellschaft, die Behörden — zwingen mich dazu, so wird argumentiert, mich so zu verhalten, weil ich sonst nicht zu dem komme, worauf ich wohl einen Anspruch habe. Dabei gilt es, die Form zu wahren — man fälscht ja keine Schecks, stiehlt nicht in Kaufhäusern — aber empört sich darüber — und dennoch man korrigiert das Glück, das ja nicht unmoralisch sein kann. Dahinter steckt eine Denkweise, die fast ausschließlich auf das Eigeninteresse — den Eigennutz — bedacht ist. Schaut man in die Öffentlichkeit hinein, wie z. B. wirtschaftliche Interessen »vermarktet« werden, so wird dabei ganz deutlich, daß ein egozentrisches Anspruchsdenken ohne die Bereitschaft zur eigenen Verantwortung gefördert wird. Beispiele ließen sich genug anführen. Dabei wird sichtbar, daß eine Erziehung in der Schule, die sich an Werten orientiert, um so schwieriger wird, je weniger man sich im öffentlichen und privaten Leben an die Normen und Werte hält, die Grundlage unseres Zusammenlebens sind. Dennoch muß es Aufgabe der Schule sein, stärker als heute auf die Verbindlichkeit von Normen zu achten. Dies schließt ein, daß wir stärker als bisher die Verantwortlichkeit des einzelnen Schülers für sein Tun hervorheben.
Woher kommt das Verhalten, das ich vorhin bei Erwachsenen und Jugendlichen beklagt habe?
1. Hat die Schule dies bisher versäumt?
2. Oder sind die Wirkungen schulischer Erziehung zu gering?
3. Oder gar lehrt das Leben uns etwas anderes,
als wir in der Schule gelernt haben? Ich meine, daß die Schule in erster Linie bei den ersten beiden Fragen mit Veränderungen beginnen kann, was konkret heißen würde: Sie kann dazu beitragen, daß die Schüler die vermittelten Werte akzeptieren und damit ihr Handeln beeinflussen.
Eine Reihe kaum umstrittener Werte würden so eine Geltung erfahren, die ihnen derzeit nur partiell zukommt. Dabei genügte es nicht, Erziehung allein auf die Begriffe Verantwortung und Verbindlichkeit zu beschränken, sondern es müßten neue Werte — die man früher sicherlich einmal Tugenden genannt hat — für die heutige Schule aufgezeigt werden. Welche Werte könnten das sein? Es sind zunächst einmal alle jene Werte, die unabhängig von politischer und religiöser Auffassung des einzelnen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft sind. Nun was »menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft« heißt, gibt zwangsläufig Anlaß zu unterschiedlichen Wertvorstellungen in der Schule. Denn Wertvorstellungen einer Gesellschaft ändern sich. Was gestern noch erstrebenswert war, z. B. Vaterlandsliebe, ist heute fragwürdig, wenn nicht gar unerwünscht. Das bedeutet aber nicht, daß Werte so etwas wie Modeerscheinungen sind, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, ihnen also etwas Unverbindliches anhaftet. Vielmehr scheint es so zu sein, daß ein Kern menschlicher Grundhaltungen in ständig sich wandelnden geschichtlichen Situationen sich immer neu realisieren muß und so entsprechend der jeweiligen Auffassung vom Menschen neue Gestalten annimmt. Für die Schule würde das bedeuten, diesen Kern menschlicher Grundhaltungen in seiner jeweils neuen Gestalt als Basis für eine Werterziehung zu nehmen. Was auch heißen kann, daß gleiche Wertbegriffe eine neue Bedeutung erfahren. Kurt Reumann zeigt dies am Beispiel der Disziplin. Er schreibt: »Man muß mit ihr nicht immer Drill, nicht einmal zuerst .Gehorsam, Pünktlichkeit, Sauberkeit verbinden; man kann auch an Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit, an Rücksichtnahme, an das Einhalten von Spielregeln und Selbstbeherrschung denken«. Auch eine solche Interpretation schließt nicht von vornherein jedweden Mißbrauch aus. Das kann aber kein Grund sein, diese Werte nicht mehr anzustreben. Dies ließe sich noch auf eine Reihe anderer Werte anwenden. Schließlich läge das Problem nur noch daran, welchen Stellenwert wir den so interpretierten Werten im Erziehungsprozeß der Schule zukommen ließen. Der Vorschlag von Reumann scheint mir ein gangbarer Weg zu sein, wenn der Lehrer damit verbindet, auf die Problematik vieler Werte hinzuweisen und den Schüler selbst auf Grund seiner Erfahrungen solche Problematiken auch einmal artikulieren läßt. Letzten Endes bedeutet dies für den Lehrer, daß er bei der Erziehung die Schüler durch rationale Argumentation von der Richtigkeit der von ihm vertretenen Werte überzeugen muß, d. h. im einzelnen darlegen muß, warum dieser oder jener Wert menschliches Zusammenleben erleichtert, verbessert, ja überhaupt erst ermöglicht. Was auch bedeuten würde, die Konsequenzen darzustellen, die die Nichtbeachtung solcher Werte mit sich bringen. So gesehen, mögen meine Ausführungen — eine Art Plädoyer für die bürgerlichen Tugenden — ein erster Schritt sein auf dem Wege zu mehr gemeinsamem schulischen Handeln.