Erinnerungskultur in Sinzig: Verlegung der ersten Stolpersteine
Rudolf Menacher
Es brauchte einen langen Anlauf, aber im Mai 2022 war es dann endlich so weit: In Sinzig wurden die ersten Stolpersteine verlegt. Nach Remagen 2008 und Bad Neuenahr-Ahrweiler 2013 ist Sinzig im Kreis Ahrweiler der dritte Ort mit Stolpersteinen. Ein Stolperstein besteht aus einer ca. 10 x 10 cm großen Messingtafel, die mit einem würfelförmigen Betonstein vergossen ist. Der Stein wird fest in das Pflaster vor bestimmten Wohnhäusern verlegt. Die Inschrift, die in die Messingtafel eingeschlagen ist, soll die Erinnerung an einen Menschen wach halten, der einst hier gewohnt hat und Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde. Sein Name, sein Geburtsjahr, sein Todesjahr und der Todesort sind feste Bestandteile der Inschrift.
Die Bedeutung von Stolpersteinen
Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Sie erinnern an Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Angehörige christlicher Glaubensgemeinschaften, Menschen des Widerstands, Deserteure, Euthanasieopfer, Homosexuelle, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Der Künstler Gunter Demnig entwickelte dieses Kunstprojekt bereits 1992. Aus seiner Idee hat sich ein europäisches dezentrales Mahnmal entwickelt. Über 75.000 Stolpersteine hat Demnig mittlerweile in 27 Ländern Europas verlegt. Es ist ein soziales Kunstprojekt, denn es setzt voraus, dass sich Menschen für die Verlegung der Stolpersteine einsetzen, Sie müssen recherchieren, dafür werben und die Verlegung organisieren. Eine Grundvoraussetzung ist, dass die Gemeinden dem Projekt zustimmen. Damit tat sich die Stadt Sinzig in der Vergangenheit schwer. 2005 startete Hans-Ulrich Reiffen, Oberstudienrat am Rhein-Gymnasium Sinzig, zusammen mit Kolleginnen die erste Initiative zur Verlegung von Stolpersteinen in Sinzig. Aber es fehlte der Initiative an politischer Unterstützung. Die Stadtverwaltung Sinzig konnte sich für das Projekt nicht erwärmen. So wurden die ersten Stolpersteine im Kreis Ahrweiler am 1. Dezember 2008 in Remagen verlegt. Es folgte die Verlegung der ersten zwölf Steine in Bad Neuenahr-Ahrweiler am 19. April 2012. Dort waren weitere Termine erforderlich, bis alle 72 Steine verlegt waren.
Ein weiterer Anlauf, auch in Sinzig Steine verlegen zu lassen, misslang 2014.
Gunter Demnig beim Verlegen von Stolpersteinen in Sinzig
Neue Initiativen
Schließlich gründete sich unter dem Dach des Vereins Bürgerforum Sinzig e. V. eine Arbeitsgruppe Erinnerungskultur, die mit neuem Schwung an die Sache heranging.
Am 10. November 2018 organisierten die Mitglieder der Gruppe einen ersten „Stolpergang“. Etwa 150 Teilnehmer machten einen Rundgang zu den Häusern, in denen 80 Jahre zuvor Juden gelebt hatten, die später deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet wurden.
Mitstreiter fand die Arbeitsgruppe bei Lehrerinnen und Lehrern des Rhein-Gymnasiums. Die Schule führte am 9. November 2018 eine eindrucksvolle Gedenkveranstaltung und Ausstellung durch. Anlass war die 80. Wiederkehr der Pogromnacht, besser bekannt als „Reichskristallnacht“. Die Schüler hatten nicht nur die Biographien der jüdischen Opfer aus Sinzig zusammengestellt, sondern auch Stolpersteine für sie gemalt. Die Schüler des Leistungskurses Geschichte der Jahrgangsstufe 12 hatten zuvor 120 Sinziger Einwohner nach ihrer Einstellung zur Verlegung der Stolpersteine befragt.
Die Ergebnisse der Umfrage trug der Schüler Luis Dannhorn im Beisein seiner Mitschüler bei der Stadtratssitzung am 31. Januar 2019 vor, als über die Verlegung der Stolpersteine beraten wurde. Dass sich etwa 80 Prozent der 120 befragten Sinziger Einwohner für die Verlegung der Stolpersteine ausgesprochen hatten, war ein deutliches Votum für die Stadträte. Am Ende sprach sich der Rat einstimmig für die Verlegung der Steine aus. Am 24. Oktober 2019 wurde die Verlegung endgültig beschlossen. Der Rat übernahm auch die Finanzierung der Steine und stellte Mittel für die Erstellung einer Broschüre zur Verfügung.
Die Verlegung der Steine
Die Verlegung der Stolpersteine in Sinzig war ursprünglich für den 5. März 2021 geplant. Aufgrund der Pandemie musste sie jedoch zweimal verschoben werden. So wurden die ersten 18 Stolpersteine am 4. Mai 2022 verlegt. Sie galten den jüdischen Mitbürgern aus Sinzig, die in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur Opfer des Regimes wurden. Auf dem Kirchplatz erklärte der erste Beigeordnete Hans-Werner Adams in Vertretung des Bürgermeisters, welche Gründe den Rat der Stadt bewogen hatten, die Verlegung in Angriff zu nehmen: „Mit der heutigen Verlegung der Stolpersteine und der Veröffentlichung der begleitenden Broschüre, die einen Einblick in das Leben der Opfer gibt, möchten wir mit dazu beitragen, die Erinnerung an diese Mitbürger und Mitbürgerinnen zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzugeben.“
Fertige Stolpersteine für Sinzig
Schüler des Rhein-Gymnasiums im Rathaus Sinzig
Beigeordneter Hans-Werner Adams bei seiner Ansprache
An den vier Verlegeorten in der Gudestraße, Koblenzer Straße (2) und Mühlenbachstraße verlasen Schülerinnen und Schüler des Rhein-Gymnasiums Texte zum Leben und die Schicksale der Opfer. Eine Gruppe ehemaliger Schüler des Rhein-Gymnasiums umrahmte die Verlegung musikalisch einfühlsam. Abschließend ergriff Gunter Demnig selbst das Wort. Er habe den Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus zu Nummern degradiert worden seien, ihren Namen zurückgeben wollen, um die Erinnerung an sie zu erhalten. Für Demnig macht jeder, der die Inschrift eines Steins lesen möchte, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Verbeugung vor dem Opfer.
Weitere Initiativen der Erinnerungskultur
Die Verlegung von Stolpersteinen ist nicht das einzige Projekt, das sich der Arbeitskreis Erinnerungskultur vorgenommen hat. Auch das Sinziger Mahnmal am Ort der ehemaligen Synagoge soll umgestaltet werden, so dass es besser sichtbar und zugänglich ist. Ein Plan für die Umgestaltung wurde bereits in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Titus Reinartz aus Löhndorf erarbeitet. Auch für dieses Projekt hat der Sinziger Stadtrat großzügig Mittel bereitgestellt.
Noch offen ist dagegen, ob die heutige Gudestraße wieder ihren alten Namen Judengasse erhalten soll. Obwohl es bereits 1433 in Sinzig eine Judengasse gab1) und 1653 in den Ratsprotokollen ebenfalls eine Gasse mit dieser Bezeichnung genannt wird, kann mangels stadtgeschichtlicher Unterlagen für die jetzige Gudestraße erst ab 1798 2) die Bezeichnung Judengasse dokumentiert werden.
Am 10. Mai 1951 beschloss der Rat der Stadt Sinzig jedoch, die Judengasse in Gudestraße umzubenennen. Im Protokoll dieser Sitzung taucht das Wort Juden nicht auf. Offenbar ging es eher darum, die Erinnerung, dass in Sinzig einmal Juden gelebt hatten, auszulöschen.3) Mehrere Versuche, die Namensfälschung rückgängig zu machen, scheiterten.4)
Die Tatsachen, dass in Deutschland wieder Anschläge auf Juden und Synagogen verübt werden, dass im vergangenen Jahr 3027 antisemitische Straftaten polizeilich erfasst wurden,5) dass deutschen Juden empfohlen wird, in der Öffentlichkeit nicht mehr die Kippa zu tragen, um nicht zur Zielscheibe rassistischer Anschläge zu werden, dass jüdische Schüler in deutschen Schulen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind, sollten Motivation genug sein, mutig für die Zukunft ein Zeichen zu setzen – nicht nur durch Stolpersteine.
Anmerkungen:
- Die damalige Judengasse lag in der Nähe des Fischtors, also des Mühlenbachtors. Die Lage der 1653 in den Ratsprotokollen genannten Judengasse ist nicht bekannt.
- Pfandverschreibung der Eheleute Mathias Pesch und Anna Sibilla Pontz vom 10.Febr. 1798 (HMS).
- Im Volksmund wird die Straße jedoch bis heute als „Jüddejass“ bezeichnet.
- Ein Parallelfall für eine Namensfälschung existiert in Stralsund, wo die Judenstraße von den Nationalsozialisten 1934 in Jodestraße umbenannt wurde nach einer im 16. Jahrhundert nachgewiesenen Familie Jode. Die Straße wurde am 8. Februar 1990 wieder in Judengasse rückbenannt.
- Laut Statistik des BKA vom Mai 2022, ein Zuwachs von 28,5 % gegenüber dem Vorjahr. Darunter sind 63 Körperverletzungen und Gewaltdelikte. Für 84% der Straftaten konnte ein rechtsextremistischer Hintergrund nachgewiesen werden.