Erinnerung übers Grab
Toni Eich
Flaumbepelztes Blau wölbte sich firmamenten über Burgruine und Dorf von Nürburg und verblaßte in der Ferne, darin das waldbekränzte Haupt der Hohen Acht silbrig graute. Ach, war das ein praller Sommertag, der in seiner glutvollen Stille der Reifezeit entgegenwehte: Rotbäckiges lugte allerwegen aus sich neigenden Bäumen, aus dornigem Gerank glühten schwarzäugig die Brombeeren, in verschränkten Schlehenhecken, in denen der rotrückige Würger beutehungrig spießte, blauten nebelumhaucht die Schlehenbeeren. Das bunte Blumenvolk bekränzte die dahinhuschenden Wege — glockenumläutet. Wie lange mußten wir der Hochzeit des heimatlichen Jahres entsagen in den eisstarren sibirischen Weiten! Nun hatte die Heimat uns wieder. Droben auf der Höhe von Quiddelbach stand ein Jagdhaus; da erlebten wir die ersten sonnenumsponnenen Ferientage bis zur Neige. Selbst die Nacht barg pulsendes Leben; wenn „Märten Mond“ sein Silberlicht vergoß, regte es sich ums Haus: Bekrönte Hirsche schritten in brunftiger Vorfreude über die irrlichtige Strecke und dann, nicht zu überhören, die mahlende Gebräche der Schwarzkittel, die sich durch die widerspenstigen Hecken zwängten …
Es war ein Sonnentag, jener Sonntag, als St. Nikolaus zu Nürburg mit seinem silberhellen
Glöckchen zum Hochamt rief, das von dem neuen Pfarrverwalter gehalten wurde, wie üblich mit Predigt, die aber in ihrer Art gar keine übliche war. Der Weißgewandete da vorne, er hätte, so schien es, Erich Ponto sein können, der große Mime mit dem unvergleichlichen Wohlklang seiner Stimme, die Sprache, hinzumalen vermochte. Was sollte man mehr bewundern: die Eleganz der Wortschöpfungen, das Weise des Gesagten, oder die fast kindliche Gläubigkeit, die der Gottesmann verstrahlte, als er über die Farbensymbolik dozierte und dabei Geistig-geistliches miteinander verwob zu sinnreichen Vergleichen in der Liturgie der Kirche. Er hatte längst geendet, als die Wandlungsglocke aus der Versunkenheit rief, in die das Gehörte geführt hatte.
Das Ehrengrab von Erzpriester Paul Bretschneider Foto: Eich
Wer war dieser Priester? Nun, es war schnell bekannt geworden im idyllischen Nürburg, welcher Herkunft der Pfarrverwalter sei, ein gelehrter Mann, er stamme aus Schlesien und habe einen hohen Ruf als Kirchen- und
Kunsthistoriker genossen. Mit seinen Arbeiten auf dem Gebiet der Heraldik sei er im deutschen Sprachraum bekannt geworden. Die Vertreibung aus der schlesischen Heimat und der Verlust seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit habe ihn schmerzlich betroffen, doch nicht entmutigt. Sein frohes Herz und sein gütiger Sinn hätten ihn aufgerichtet, und er empfände dankbar die Berufung zum Pfarrverwalter von Nürburg — der Erzpriester Paul Bretschneider aus Neualtmannsdorf in Schlesien.
Am nächsten Sonntag war Schützengelfest. Worüber mochte er wohl predigen? Ein paar Sätze zum Fest, dann deutete er bilderbunt die englischen Scharen in der Liturgie bis hin zur Heraldik. Wie seine Augen strahlten, als er aus seiner Erinnerung heraldische Verkörperungen der Engel in heimatlichen Wappen beschrieb. Ein Dichterwort, wehen Erinnerns an das Verlorene, beendete die Predigt. Ein Jahr später, um die gleiche Zeit, sahen wir Paul Bretschneider wieder, er war stiller geworden, das Agens seiner geistigen Ausstrahlung schien verglommen. Wahrlich, in jenen Tagen starb der Erzpriester Paul Bretschneider an den Folgen eines Gehirnschlages. Er wurde in einem Ehrengrab auf dem Friedhof zu Nürburg beigesetzt; viele seiner schlesischen Freunde erwiesen ihm die letzte Ehre. Auf dem schlichtedlen Grabstein ist sein Andenken verewigt:
Nach Drangsal und bitterer Wanderschaft ruht hier in Gottes heiligem Frieden sein getreuer Diener, der gelehrte Pfarrer von Neualtmannsdorf in Schlesien Erzpriester Paul Bretschneider geb. 2. 2.1880 in Breslau gest. 22. 9.1950 als Pfarrverwalter von Nürburg. Es vergingen einige Jahre, ehe das Lebensbild dieses einzigartigen Mannes in seiner ganzen Vielfalt bekannt wurde. Sein Landsmann, Hubertus Seidel, beschrieb in unserem Heimatjahrbuch 1968 das Leben und Wirken dieses Priesters im religiösen und wissenschaftlichen Bereich seiner schlesischen Heimat, die Tragik der Vertreibung mit dem Verlust der kostbaren Lebensarbeit und die demütige Einfügung ins Unabänderliche. Paul Bretschneider studierte nach dem Abitur an der Universität seiner Vaterstadt Breslau Theologie, Geschichte und Kunstgeschichte, wurde 1906 zum Priester geweiht und übernahm 1921 nach Jahren der „Wanderschaft“, die schon mit wissenschaftlichen Arbeiten angereichert waren, die Pfarrstelle von Neualtmannsdorf. In diesem kleinen Dorf wirkte er 25 Jahre als Seelsorger; hier entstanden die meisten seiner kirchen- und kunstgeschichtlichen Werke, die besonders der Heraldik-Forschung galten. Der seinerzeitige Kardinal Bertram ernannte ihn ob seiner wissenschaftlichen Verdienste zum Ehrenerzpriester. Im April 1946 erfolgte die Vertreibung der Deutschen aus Neualtmannsdorf; unter ihnen befand sich auch Pfarrer Bretschneider mit einem kleinen Handgepäck. Sein schriftstellerisches Werk blieb zurück. Im Juni traf Paul Bretschneider in Wimbach bei Adenau ein; ein früheres Pfarrkind hatte ihn aus dankbarer Verehrung dorthin geholt, wo er anfänglich in sehr bescheidenen Verhältnissen leben mußte. Er konnte aber wieder Gottesdienst halten in Wimbach und in Adenau. Nur blieb ihm die wissenschaftliche Arbeit versagt, da er alles und seine eigenen Werke verloren hatte. Freunde, die von seinem Schicksal wußten, vermittelten“ ihm bis zum Jahre 1948 insgesamt 216 seiner Werke. Mit Freude trat er im Februar 1949, bald siebzigjährig, die Stelle als Pfarrverwalter in Nürburg an. In kurzer Zeit hatte er sich die Zuneigung seiner Nürburger Pfarrkinder erworben. Man verehrte ihn und war stolz auf den gelehrten Pfarrverwalter.
Vielleicht hatte die unwürdige Vertreibung aus seiner schlesischen Heimat und damit der Verlust seines Lebenswerkes zu arg sein gütiges Herz geschwächt. Ein leiser Tod führte ihn am 22. September 1950 in eine andere Welt, so wie das Sterbliche an ihm nicht in schlesischer, sondern in eifelländischer Erde ruht. „So wurde denn die Eifel seine letzte irdische Heimat“, beschließt Hubertus Seidel den ehrenden Nachruf, ein Denkmal dankbarer Erinnerung an die schlesische Heimat, von der ein Dichterwort sagt:
„Wir haben gewerkt, geschafft und gelitten, Nun ziehn wir ins Seelenlicht betend ein, Vergib uns, Herr Gott, wenn wir innig dich bitten, Dein Himmel möge uns schlesisch die Heimat sein“.
Friedrich Bischoff, schlesischer Poet von Geblüt, schrieb diese Zeilen im „Schlesischen Psalter“. Auch er, 1933 von seinem Amt als Intendant des Senders Breslau vertrieben, im Jahre 1945 zum ersten Intendanten des Südwestfunks bestellt und bis 1965 überaus ruhmvoll dort wirkend, verkörpert in seinem dichterischen Werk di^ Elemente des Schlesischen: Erdennähe und fernes Geheimnis, phantasievoller Märchenglaube, die Liebe zur Heimat und die traumverwobene Mystik. Dies alles war die gleiche Grundstimmung im Werk und Leben Paul Breitschneiders. Sein Landsmann Friedrich Bischoff schrieb es mit seinem Herzblut:
„Schlesien, hold in Wiesen, Unter goldnen Sternen, unter Wanderwolken wandermüd, Immer hör ich deine Brunnen fließen, Immer wieder sitz ich dir zu Füßen, Von den Schlehenhecken meiner Kindheit überblüht!“
Immer, wenn der Weg nach Nürburg führt, ist es ein Bedürfnis, das Grab Paul Bretschneiders aufzusuchen. Sein verdienstvolles Leben für die Heimat, seine Bescheidenheit bei aller geistigen Größe möge Vorbild sein.