„Eine Zigarre, bitte eine Zigarre …“ Episode aus der Nachkriegszeit
Irgendwann war es auch in Sinzig vorbei mit den kalorienreichen Ami-Geschäften. An die Stelle der Amerikaner waren nun als Besatzer die Franzosen getreten, und die hatten selber nichts. Und mit den Franzosen war zudem nicht zu spaßen, wenn man ihnen in die Quere kam. Das mußte auch Charlies Freund Alfred erfahren, der sich ungewollt an französischem Besatzungsgut vergriffen hatte. Es ging um solide, fingerdicke Telefonkabel, die noch aus goldenen amerikanischen Zeiten stammend, bündelweise entlang der Hauptstraßen über Land verlegt waren.
Die Sinziger Kölner Straße bot eine Fülle solcherart offen zu Tage tretender Kabelstränge verlockend dar. Man brauchte eigentlich nur zuzugreifen, um in ihren damals wertvollen Besitz zu gelangen. Alfred tat dies eines Nachts fachmännisch und, wie er meinte, unauffällig. Sein Pech: er hatte keine längst tote Leitung erwischt, sondern ausgerechnet die Haupttelefonleitung der Franzosen, die von Sinzig nach Bad Neuenahr zur Kommandantur führte. Das war in den Augen der Besatzer zweifelsfrei Sabotage. Die Fahndungsmaschinerie der Militärbehörde lief an, und es dauerte nicht lange, da hatte man den Übeltäter ausfindig gemacht. Alfred wurde verhaftet, und seine Freunde, darunter auch Charlie, wanderten gleich mit ins Kittchen. In der Sinziger Polizeistation, der ein Trakt mit einigen Haftzellen angegliedert war, hatten sie Gelegenheit, über ihre „Untat“ nachzudenken. Zwischendurch gab es intensive Verhöre durch aus Koblenz herbeigeeilte Beamte der Sürete. Doch den Inhaftierten kam schließlich ihre Jugend zugute. Charlie wurde bereits nach drei Tagen wieder entlassen, der Hauptübeltäter Alfred aber mußte drei Wochen hinter den in diesem Fall nicht „schwedischen“, sondern „französischen Gardinen“ darben. Und mit ihm, zutiefst verbittert und voller Zorn, der amtierende Bürgermeister der Stadt, Nikola Hoß, in Sinzig allgemein bekannt als „de Hosse Nick.“
Den hatten die Franzosen von amtswegen für den Vorfall verantwortlich gemacht und, gewissermaßen zur Abschreckung, ebenfalls hinter Gitter gesteckt.
Der rückwärtige Teil des Sinziger „Kittchens“ grenzte an den Hof einer benachbarten Gastwirtschaft, den „Jägerhof“. Und just dort, an der Hofseite, befanden sich im 1. Stock die Zellen. Charlie und die anderen inzwischen vom „Knast“ verschonten Freunde erkannten ideenreich die Möglichkeit, die sich da bot, und versorgten ihren Freund Alfred nächstens mit Hilfe einer Leine, an der ein Korb befestigt wurde, nebst einer aus Draht gebogenen Halterung am oberen Ende, regelmäßig mit reichlich Speis und Trank. Nach einiger Übung hatten sie die Sache perfektioniert. Alfred streckte die Arme durch die nicht sehr eng gesetzten Gitterstäbe, konnte die Drahtschlinge dort verankern, und den Korb hochziehen. Er dankte seinen Freunden gestenreich und war eigentlich ganz guter Dinge. Nur der arme Zellengenosse Bürgermeister, ein passionierter Zigarrenraucher, jammerte: „Eine Zigarre, wenn ich doch wenigstens eine Zigarre hätte!“
Erbarmungswürdig, dachten Charlie und die Freunde. Dem Manne, der ja schließlich das unschuldige „Verantwortungsopfer“ war, mußte geholfen werden. So wanderte denn mit Hilfe besagter Leine auch ein ganzes Kästchen mit Zigarren hinter die Gitterstäbe. Zigarren zu dieser Zeit des immer noch allgemeinen Mangels? Woher nehmen? Nun, diese Zigarren waren auf dem Schwarzmarkt in der Bonner Kasernenstraße eines der Tauschobjekte für die paar hundert Meter des gekappten Telefonkabels gewesen, das die Franzosen trotz aller Suchaktionen und Verhöre nicht wieder hatten auffinden können.
Aus: Karlheinz Grohs: Treffpunkt Heimat. Wo die Ahr zum Rhein hin fließt und ein köstlich Gewächs der Erd‘ entsprießt. Heitere Geschichten aus der Region. Remagen 1996.