Eine Wunschlegende

VON THEODOR SEIDENFADEN

Und es geschah, daß in dem Jahre des steigenden Fürchtens um den Ausbruch des dritten Weltkrieges ein Überirdischer — man sagt, der Heilige vom glühenden Rost — jedem Diplomaten der gerühmten Gipfeltreffen ein Pergamentblatt auf den Nachttisch legte, das in der Sprache des jeweiligen Landes ein Gedicht zeigte, schlicht, aber wundersam geschrieben. Jeden Morgen lag das Blatt an derselben Stelle, und wenn der Diplomat sich erhob, mußte er es nehmen und laut lesen: eine solche Macht ging von dem Schriftbilde aus.

Es war das Gedicht des Kesselschmiedes Heinrich Lersch, das der Himmlische in die Sprachen der Völker übersetzt hatte.

Die Diplomaten, die es lasen, waren tief ergriffen, und was kein Volk der fünf Erdteile erwartet hatte, vollzog sich; denn die Verhandler der langen grünen Tische fanden einen Weg des Friedens und vermieden so den dritten Krieg. Das Gedicht aber lautete:

„Es lag schon lang ein Toter vor unserm Drahtverhau,
die Sonne auf ihn glühte, ihn kühlte Wind und Tau,

Ich sah ihm alle Tage in sein Gesicht hinein,
und immer fühlt‘ ich’s fester: Es muß mein Bruder sein.

Ich sah ihn alle Stunden, wie er so vor mir lag,
und hörte seine Stimme aus frohem Friedenstag.

Oft in der Nacht ein Weinen, das aus dem Schlaf mich trieb:
„Mein Bruder, lieber Bruder — hast du mich nicht mehr lieb?“

Bis ich, trotz allen Kugeln, zur Nacht mich ihm genaht
und ihn geholt. — Begraben: 
— Ein fremder Kamerad.

Es irrten meine Augen. — Mein Herz, du irrst dich nicht:
Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht.“

*

So spricht die Wunschsage. Wenn sie sich erfüllen sollte, lieber Heinrich Lersch, so wäre es eine hehre Frucht Deines Gedichtes, dessentwegen Du 53 Jahre lebtest, littest und in der Arbeitsfron standest.

Autor