„Eine Weibsperson ist gelehrt genug, wenn sie ihr gedrucktes Gebetbuch lesen kann“ – Ein amtlicher Bericht von 1817 über die Einwohner des ehemaligen Kreises Ahrweiler
Dr. Peter Neu
Der Wiener Kongress hatte 1815 zu einer politischen Neuordnung im Rheinland geführt. Niemand fragte damals unsere Vorfahren, wie sie sich ihr politisches Schicksal vorstellen könnten, Diplomaten und Könige bestimmten am grünen Tisch: „Preußen übernimmt die »Wacht am Rhein«“. So erhielten die meisten Rheinländer einen neuen Landesherrn, sie wurden Preußen. Königlich preußische Landräte und Regierungspräsidenten, Königlich preußische Forst- und Polizeibeamte sorgten sich um Ruhe und Ordnung, aber auch um den Aufbau neuer Verwaltungen, die sich durch eine straffe Ordnung und Gliederung auszeichneten. Preußischer Drill hielt seinen Einzug, auch in den Amtsstuben.
Die Behörden in Berlin hatten kaum eine Vorstellung, wie es in der neuen Provinz aussah. Deshalb erteilten sie den untergeordneten Behörden den Auftrag, möglichst umfassende Beschreibungen von Land und Leuten einzusenden. Diese Berichte sollten Grundlage bieten für weitere Planungen, Verfügungen und Erlasse. Für uns heute sind sie einzigartige historische Dokumente, weil sie vermutlich ungeschönt die Lage wiedergeben. Erster Königlich Preußischer Landrat von Ahweiler wurde Freiherr Franz Heinrich von Gruben (*1774), der von 1816 bis zum Sommer 1820 den Kreis leitete. Es war einer der wenigen höheren Beamten, die ein Rechtsstudium absolviert hatten. Seit 1801 hatte er den Familienbesitz in Gelsdorf verwaltet, von 1804 – 1814 hatte er unter den französischen Behörden als Bürgermeister/Maire die Geschicke seiner Heimatgemeinde Gelsdorf geleitet. Er kannte Land und Leute also sicher recht gut. Um so beachtlicher ist der umfangreiche Bericht, den er an die Bezirksregierung in Koblenz über seinen Verwaltungsbezirk Ahrweiler einreichte. Wegen seines großen Umfanges können hier nur die wichtigsten Passagen des Briefes abgedruckt werden1.
Ahrweiler, den 20. März 1817
An Königliche Hochlöbliche Regierung
Erste Abteilung
COBLENZ
Betreffend die Einsendung der großen statistischen Tabelle
Einer Königlichen Hochlöblichen Regierung habe ich die Ehre, hierbei die statistische Tabelle für den Kreis Ahweiler, mit möglichster Genauigkeit angefertigt, gehorsamst zu überreichen. Zur Erläuterung dieser Tabelle erlaube ich mir folgende gehorsamste Bemerkung vorzulegen.
Der Kreis Ahrweiler bildet die nördliche Gränze des Regierungsbezirks Coblenz auf dem linken Rheinufer. Gegen Norden liegen ihm die Kreise Bonn und Rheinbach, beide zum Regierungsbezirk Cölln gehörend, gegen Osten der Rhein, und auf dem jenseitigen Ufer der Kreis Linz, gegen Süden der Kreis Mayen, gegen Südwesten und Westen der Kreis Adenau. Außer dem Rhein, welcher, wie gesagt, die östliche Gränze des Kreises macht, wird derselbe von der Ahr, einem außerordentlich reißenden Waldstrome, welcher bei Kripp in der Bürgermeisterei Remagen sich in den Rhein ergießt, durchströmt.
Das Clima des nördlich der Ahr gelegenen Theiles ist sehr gemäßigt und der Boden fruchtbar, desto rauher ist aber der südliche Theil oder die Bürgermeisterei Königsfeld, welche zu der Eifel gezählt wird. Der Kreis zählt 7 Bürgermeistereien und in diesen nach der letzten Aufnahme 24.987 Einwohner, welche in 50 Gemeinden vertheilet sind.
Die Bewohner der Bürgermeistereien Ahrweiler, Remagen, Gelsdorf, Sinzig und Niederbreisig sind im allgemeinen weit gebildeter als ihre Nachbaren, jene der Bürgermeistereien Altenahr und Königsfeld. Die Ursache davon mag theils in der größeren Bevölkerung und dem lebhafteren Verkehr der zuerst genannten Bürgermeistereien, wodurch solche mehr Gelegenheit haben sich zu unterrichten, theil in dem Umstande aufgesucht werden, daß die einsamen, unfruchtbaren Gebirgsgegenden und der Weinbau in der Bürgermeisterei Altenahr die Einwohner aus ökonomischen Rücksichten veranlassen, ihre Kinder früher zur Handarbeit anzuhalten, als das in den anderen Gegenden geschieht. In den letzten beiden Bürgermeistereien können die meisten Menschen weder lesen noch schreiben, und es ist meines Erachtens auch so leicht nicht, hierin nachzuhelfen, weil der Familienvater von 5 – 6 – 8 – 9 Kindern nicht so begütert ist, um sich Knecht und Magd halten zu können, daher das Kind von 8, höchstens 9 Jahren theils auf die kleineren Geschwister acht haben, theils in den steilen Weinbergen, sobald die Erde ohne Schnee ist, Kräuter zur Viehfütterung einsammeln und nach Hause tragen oder das Vieh auf der Weide hüten muß.
Die Einwohner der übrigen Bürgermeistereien sind, wie bereits erwähnt worden, in ihrer Cultur weiter vorgerückt. Die meisten jüngeren Weibspersonen können dort lesen und schreiben. Vor 20 Jahren war dieses freilich auch nicht so; man hielt damals eine Weibsperson für gelehrt genug, wenn sie ihr gedrucktes Gebetbuch lesen konnte.
Torhaus zur Burg Gelsdorf, Wohnsitz des ersten Königlichen Landrats, Freiherr Franz Heinrich von Gruben.
Die Bewohner sind allgemein sehr religiös, ohne daß man ihnen Aberglauben schuld geben könnte (sic); ein sehr großer Theil des Sonntages wird in der Kirche zugebracht. Die meisten sind den Wallfahrten sehr geneigt, man sieht sie häufig processionsweise nach Trier, Bornhofen und Cevelaer gehen, und jede solche Procession erschwerende Verfügung erregt Unzufriedenheit und Murren. Die Herren Pfarrer geben sich alle Mühe, ihre Pfarrkinder davon abzubringen, sie müssen aber mit vieler Vorsicht zu Werke gehen, um das Vertrauen der ganzen Pfarrgemeinde nicht zu verscherzen.
Die Ehrlichkeit ist ein ausgezeichneter Zug in dem Charakter der Einwohner: Einen schönen Beweis dieser Eigenschaft findet man darin, daß die Schreibens Unerfahrenen in den wichtigsten Sachen einen dritten ihren Namen unterschreiben lassen. Sie sind überhaupt sehr thätig, sparsam, guthmütig, in den Weingegenden etwas hitziger und brausender als in den Fruchtgegenden2), wo sie gelassener und nachgiebiger sind…
Seine Vergnügungen beschränkt der Landbewohner auf ein jährliches Fest, wo er bei Spiel und Tanz sich gern einem bacchialischen Taumel überläßt. Seine Tracht ist einfach, hat aber nach den Vermögensumständen mehrere Abstufungen. Bei niederer Klasse geht sie unter günstigen Verhältnissen sogar gerne ins Üppige und Kostspielige über…
In Hinsicht auf phisische Constitution sind die Einwohner des hiesigen Kreises von gesunder Natur, gutem Wuchse, mehr als mittelmäßiger Statur und ziemlich stark an Gliedmaßen.
Die herrschende Mundart ist das Rheinische mit niederländischem Accente, und ziemlich rauh im Ausdruck. …
Gebäude: Aus der Tabelle selbst ergibt sich, daß der größte Theil der Gebäude von Holz ist; die Wohnungen, welche sich selten über die Höhe eines Stockwerkes erheben, enthalten im Durchschnitte enge und niedrige gestochene (sic) Zimmer, die durch kleine Fenster sparsam erleuchtet und dadurch, daß manchmal der Zimmerboden niedriger als die Erde außerhalb des Gebäudes ist, feucht und ungesund sind. Man bemerkt mit Vergnügen, daß bei Erbauung neuer Häuser auf eine bessere Einrichtung gesehen und so wie bei den neuen Bauten überhaupt mehr Regelmäßigkeit und Geschmack sich äußert.
Die Bevölkerung hat seit der wohltätigen Erfindung der Kuhblattern-Impfung3) außerordentliche Fortschritte gemacht. So wie die Menschenpocken die Bevölkerung oft schnell und bedeutend verminderten, so sehr hat diese durch die Kuhpocken, als den natürlichen Gegensatz derselben, seit deren Einführung gewonnen. Einen sehr großen Antheil an dieser Vermehrung hat noch die durch den würdigen Präfekten Lezay-Marnesia4) bewirkte Anstellung der District-Ärzte. …
Wenn ich indes auch zugebe, daß die Luft in hiesiger Gegend sehr gesund ist, daß also regelmäßig wiederkehrende Epidemien ohne auswärtige Wirkung bis hierher erstreckende Ursachen nicht so sehr zu fürchten sind, so scheint mir diese Berechnung doch zu hoch, da man in derselben die möglichen Kriegs-Ereignisse und Unfruchtbarkeit übersehen hat. Es ist wahr: Ich kenne keine andere Gegend, die so fruchtbar an Kindern ist, als jene, und in welcher die Kinder den Aelteren schier gar nicht zur Last fallen, denn ist das Kind beiderlei Geschlechtes 8 Jahre alt, so ist es schon im Stande, für die Nahrung einer Kuh durch Herbeischaffen der wilden Futterkräuter und der Heide zum Dünger zu sorgen. Daß die Aelteren hierin auch zu strenge mit diesen Kleinen sind, sieht man leider an den Keimen (sic) von Halskröpfen, die in den zu dem schweren Tragen auf den Köpfchen in zarter Jugend wohl einen vorzüglichen Grund haben mögen. Der Herr Bürgermeister von Alternahr behauptet sogar, daß dieses die einzige Ursache davon wäre, nicht aber, wie viele der Meinung seyen, die Eigenschaften des gewöhnlichen Trinckwassers; er führt zum Beweise seiner Behauptung an, daß diejenigen Kinder, welche nach seinem Rate sich einer Hotte, womit sie auf dem Rücken tragen, bedient hätten, von Kröpfen frey geblieben seyen. …
Der Wein blüht vorzüglich in den Bürgermeistereien Altenahr, Remagen, Sinzig, zum Theil Niederbreisig, nirgends aber so wie in der Bürgermeisterei Ahrweiler, wo die Industrie in dieser Hinsicht eine außerordentliche Höhe erreicht hat. Ich bin sehr geneigt zu glauben, daß der Weinbau seit 1798 in den Gemeinden an den Ufern der Ahr sich verdoppelt hat…. Der rothe Ahrwein (Ahrblankert genannt) wenn er auch in etwa unmäßig getrunken wird, läßt nach ausgeschlafenem Rausche keinerlei Übelkeit oder Unbehaglichkeit zurück, wie die französischen oder andere hitzige Weine gewöhnlich thun, an dem weißen hat man die besondere Tugend entdeckt, daß er den mit dem Steine Behafteten5) auf der Stelle Linderung verschafft.
Königlicher Landrat
von Gruben
Der Bericht ist in vielerlei Hinsicht sehr interessant. Er gibt einen Einblick in die Lebensverhältnisse und Sorgen der Landbewohner.
Es fällt zunächst auf, dass der Landrat eine deutliche Zweiteilung in seinem Kreis vornimmt. Die „unfruchtbaren Gebirgsgegenden“, dazu zählte er die Bürgermeistereien Königsfeld und auch Altenahr, hatten ein rauhes Klima und waren natürlich mit irdischen Gütern nicht so gesegnet wie etwas die Weingegenden an der Unterahr oder das Land um Gelsdorf. Die Bewohner dieser fruchbaren Landstriche schienen im „weiter vorgerückt in der Kultur“, hier konnten die meisten Leute lesen und schreiben, während in den unfruchtbaren Landstrichen die Bildung der Einwohner wesentlich zurückgeblieben war. Beim Kinderreichtum früherer Jahrzehnte waren Schulbildung und Ausbildung – vor allem für Mädchen – nicht gefragt. Die Sorgen ums Überleben, um Futter für das Vieh und um die Einbringung der Ernte waren anscheinend weitaus wichtiger als die Frage nach Gesundheit oder Schulbildung. Kinderarbeit gehörte wie selbstverständlich in den dörflichen Alltag. Eigens gelobt wird sogar vom Landrat, dass Kinder von 8 Jahren bereits Futter und Streu für Kühe heranschleppen konnten. Wichtig war dem Beamten dabei: „Die Kinder fallen den Eltern schier gar nicht zur Last!“
Die große Rolle, die noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die Religion bei der ländlichen Bevölkerung spielte, wird besonders erwähnt. Den größten Teil der Sonn- und Feiertage verbrachten die Menschen in den Gotteshäusern, Prozessionen auch zu entfernten Zielen gehörten zum religiösen Leben. Wer es wagte, an diesen Grundfesten etwas zu verändern, der musste es schwer haben. Vor allem die Erfahrungen der Aufklärungszeit scheinen also noch in frischer Erinnerung gewesen zu sein. Selbst aufgeklärte Pfarrer hatten es um 1820 schwer, wenn sie an althergebrachtem religiösem Brauchtum etwas ändern wollten.
Es versteht sich, dass der Landrat auch auf den Ahrwein zu sprechen kommen musste. Dabei war ihm wichtig, dass der rote Ahrwein zwar berauschend wirkte, dass er aber „keinerlei Übelkeit und Unbehaglichkeit“ zurückließ, wenn man seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Ja, der Wein wird sogar als Medizin bei „Steinkrankheiten“ gerühmt. Dieses Urteil war natürlich wichtig, denn Weinbau und Landwirtschaft beherrschten die Region, andere Erwerbsquellen gab es nicht.
Anmerkungen:
- Der Bericht befindet sich heute im Landeshauptarchiv Koblenz, Abtl. 441, Akte 33, S. 9-47.
- Gemeint sind Landschaften, in denen vor allem Getreide angebaut wird, also etwa der Raum um Gelsdorf.
- Gemeint ist die Erfindung der Impfung gegen Pocken. Pockenimpfungen wurden im Rheinland vor allem in der Zeit der französischen Herrschaft um 1810 durchgeführt.
- Adrien Graf von Lezay-Marnesia war 1805-1810 Präfekt im Rhein-Mosel-Departement mit Sitz in Koblenz. 1810 wurde er an den Oberrhein nach Straßburg versetzt, wo er am 9. Oktober 1814 als Präfekt des Departement Oberrhein verstarb.
- Gemeint sind Menschen, die an Nieren-, Blasen- oder Gallensteinen leiden.