Eine Mönchsregel als Mutterboden christlicher Kultur
Eine Mönchsregel als Mutterboden christlicher Kultur
P. Dr. Emmanuel v. Severus OSB
Wer immer ernsthaft die Grundlagen unserer europäischen Kultur erforscht und darstellt, kann die Leistungen des benediktinischen Mönch-tums nicht übersehen. Freilich werden die Gesichtspunkte sehr verschieden sein, mit denen sich Gelehrte oder Publizisten diesem Thema widmen. Noch Papst Plus XII. hob in seiner Benedikt-Enzyklika „Fulgens radiatur“ im Jahre 1947 die Rodung der Wälder und Trockenlegung von Sümpfen als Leistung der Benediktinermönche hervor – eine Kulturarbeit, die ohne Zweifel nur in kurzen Perioden der Geschichte als kennzeichnend angesehen werden kann. Für viele Forscher ist der Schulbetrieb der angelsächsischen Klöster und die von ihm beeinflußte und mancherorts geprägte sogenannte karolingische Renaissance als schöpferischer Impuls für die Europäische Kultur ein Höhepunkt kultureller Leistung, dem wir bis heute in der Vermittlung antiken Geistesgutes an das Mittelalter viel verdanken. Man wird sich freilich hüten müssen, die Mentalität solcher Epochen allzu rasch auf einen einfachen und gemeinsamen Nenner zu bringen. Ein einfühlsamer Leser wird aufhorchen, wenn er in den Gedichten des unglücklichen Sachsen Gottschalk (ca. 803 -867 bzw. 869) Äußerungen eines subjektiven, persönlichen Verhältnisses zu Jesus von Naza-ret begegnet, er wird nicht ohne innere Bewegung miterleben, wie Walahfrid Strabo (808 -849) in den dunklen Wäldern des Hessenlandes das Heimweh nach der Reichenau packt.
Der Philologe wird fragen, welches Interesse Lupus von Ferneres (ca. 805 – 862) wohl hatte, die ihm vorliegenden Handschriften antiker Autoren nach den Regeln des römischen Grammatikers Donatus (um die Mitte des 4. Jh.) zu korrigieren. Wer den Namen Reichenau nennt, weiß, daß er dort einer Fülle kultureller und zivilisatorischer Leistungen begegnet, die Gelehrte unserer Zeit berechtigten, die Kultur der Abtei Reichenau in umfangreichen Kompendien darzustellen. Dabei ging es nicht nur um den berühmten Garten, in dem Obstarten aus dem Vorderen Orient dem europäischen Klima angepaßt wurden, der Reichenau kommt auch in den römischfränkischen Austauschbeziehungen in der Liturgie, in den Anregungen der byzantinischen Buchmalerei für die frühromanische Freskomalerei entscheidende Bedeutung zu. Die Reichenau war in allen diesen Bereichen mehr als ein Brückenkopf, sie war Kirche im besten Sinne, denn sie lehrte die Zeitgenossen, den anderen Menschen zu sehen und die verwandelbare Kraft echter Begegnung zu begreifen.
St. Benedikt, Fresko um 1505 im Südteil der Westapsis des Laacher Münsters
Als Benedikt von Aniane (ca. 750 – 821) nach einem langen Weg vom „Wüstenvater made in Germany“ über einen Versuch auf dem Familienbesitztum in Aniane schließlich in Inden in unmittelbarer Nachbarschaft der Aachener Kaiserpfalz und begünstigt durch Ludwig den Frommen sein Gemeinschaftskloster baut, entspricht dieses den Vorstellungen, die bis in die Gegenwart mit einer Benediktinerabtei verbunden bleiben: eine weiträumige Kirche, in der sich der Gottesdienst feierlich entfalten kann und die dem Stundengebet und mancherlei Prozessionen großartige Möglichkeiten bietet – es ist die Zeit, in der die „klassischen“ Bauwerke des romanischen Stils errichtet werden, die wir heute noch in den rheinischen Städten ebenso wie in den königseigenen Landschaften bewundern. Kulturschöpfungen, wie sie die Reichenau auszeichneten, finden wir hier zwar weniger, doch zeichnen sich theologische Leitgedanken ab wie etwa der des himmlischen Jerusalem, von dem das Mönchtum des 9. und 10. Jahrhunderts geradezu „besessen“ scheint. Er findet nicht nur in den Kirchenbauten Verwirklichung, die wir heute zum kostbarsten Erbe jener Zeit zählen, sondern auch in kleinen handwerklichen Schöpfungen liturgischen Geräts wie Weih-rauchfäßchen. Nicht vergessen werden darf, daß in dieser Epoche die vielfältige Dichtung der Hymnen und Sequenzen begann, mit der das Benediktinertum den Gottesdienst bereicherte, obwohl die römische Kirche sich bis in die Neuzeit in diesem Bereich religiöser Dichtung eher reserviert verhielt.
Im Rahmen dieses Beitrags können die großartigen Kulturleistungen der österreichischen Barockklöster nicht ausführlich geschildert werden, aber es muß wenigstens ihre enge Verbindung mit dem Aufstieg des Habsburgerreiches zur europäischen Großmacht als Ergebnis der sogenannten Gegenreformation und des Sieges über die Türken 1683 genannt werden.
Der kritische Leser wird nun den Einwand erheben, daß die genannten Kulturleistungen nur wenig mit der Benedikt von Nursia (ca. 480 – ca. 550) zugeschriebenen Regel zu tun haben. Die im Kapitel 73 dieser Regel, einer Art Epilog, dem Mönch zur Lesung empfohlene Heilige Schrift und frühchristliche Literatur setzt jedoch deren Abschreiben und damit eine wichtige Kulturleistung voraus. Hinzu kommt, daß die Leseordnung des monastischen Stundengebetes die Anfertigung liturgischer Gebrauchsbücher fordert, die in ihrer künstlerischen Ausstattung eine großartige und vielfach einzigartige Kultur bezeugen. Dies gilt vor allem von der Illumination der Sakramentare und Antiphonare durch Miniaturen, die noch den heutigen Betrachter durch ihre theologische Aussage und das hohe Niveau der künstlerischen Darstellung begeistern können. Ohne Übertreibung kann man von dieser in den Klöstern gepflegten Buchmalerei des ersten Jahrtausends sagen, daß sie bis heute nie wieder erreicht worden ist.
Unsere Zeitgenossen wird man freilich davor warnen müssen, die Errungenschaften, die sich im hohen Lebensstandard unserer Gesellschaft ausdrücken, mit Kultur zu verwechseln. Fernsehapparate, Waschmaschinen, drahtlose Kommunikationsmittel sind nicht Ausdruck hoher Kultur, sondern eines Fortschritts, der uns das Leben bequemer macht. Kultur hingegen äußert sich in Werten, die unabhängig vom Niveau der Zivilisation einer Gesellschaft den Menschen bleibend in seiner Würde fördern und diese sichtbar werden lassen. Die Mönchsregel Benedikts faßt dies allgemein unter dem Motiv der Besserung (Prolog 36.47; Kapp. 2,28.40; 5,19; 7,30; 62,10; 65,19) zusammen. Für die Mentalität der meisten Christen heute ist dieses Motiv eher befremdlich als zutreffend. Sie übersehen aber, daß die Regel Benedikts von ihrem Verfasser ausdrücklich als „Anfang“ charakterisiert wird (73,8). Die einzelnen Mönche werden oft als dringend besserungsbedürftig geschildert, denn im Kloster, für das die Regel geschrieben ist, leben neben „einsichtigen Jüngern“ (2,12), solchen, die „gehorsam, willig und geduldig sind“ (2,25), auch Mönche, die „keine Zucht kennen und keine Ruhe geben“ (2,25), „nachlässig und widerspenstig sind“ (ebenda), „Boshafte …, Hartherzige, Stolze und Ungehorsame“ (2,28). Es gehört schließlich zu den Aufgaben und Pflichten äbtlichen Dienstes, „anderen zur Besserung“ zu verhelfen (2,40).
St. Benedikt, Statue aus dem Jahre 1979 von Dr. Joseph Belling OSB in der Informationshalle
Ich möchte behaupten, daß die Mönchsregel des heiligen Benedikt gerade unter dem Gesichtspunkt der Besserung große Aktualität besitzt – in einer Gegenwart, die einerseits den Verlust der Kultur in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens beklagt, anderseits die Menschenwürde als Ziel jeglichen Strebens so sehr betont, daß dieses im Grundgesetz der Bundesrepublik verankerte Wort vom publizistischen Verschleiß bedroht ist. Es ist allerdings erstaunlich, daß neben den Aufrufen zur Achtung von der Menschenwürde so gut wie nie die Frage gestellt und beantwortet wird, auf welche Weise der einzelne Mensch im Leben des Staates, der Gesellschaft und seines Berufes seine eigene Menschenwürde verwirklichen kann und soll. Neben dem allgemeinen Motiv, den Menschen und Mönch besserzu machen, birgt die Mönchsregel Benedikts noch eine große Zahl von Mahnungen und Geboten, die das Miteinander von Menschen auf ein hohes Kulturniveau heben. Sie ist von manchen ihrer Kommentatoren nicht mit Unrecht als eine Schule der Höflichkeit und Toleranz bezeichnet worden. So, wenn Benedikt seinen Mönchen sagt, „sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen: ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen“ (72,4f). Ebenso gibt die Regel für das Verhalten von jung und alt im Kloster bezeichnende Anregungen: „alle jüngeren sollen ihren älteren Brüdern in aller Liebe und mit Eifer gehorchen“ (71,4), der Mönch soll „ruhig und ohne Gelächter“ sprechen (7,60). Fast ängstlich regelt Benedikt die Rangordnung in der Gemeinschaft (63,1-19). Das Miteinander der Generationen wird in diesem Kapitel bis in Verhaltensweisen bestimmt, die uns Heutigen fast nebensächlich scheinen, wie die gegenseitige Anrede (63,11 f), das Verhalten von Älteren und Jüngeren beim Einräumen eines Platzes zum Sitzen (63,16f). Bei all dem gilt, daß „die Jüngeren die Älteren ehren, die Älteren die Jüngeren lieben“ (63,10) sollen. In diesen Anordnungen spricht sich große Erfahrung und die Weisheit des heiligen Benedikt in der Menschenführung aus: Die Gemeinschaft seines Klosters ist mehr als Kameradschaft und erst recht mehr als die Kumpelhaftigkeit einer bestimmten Betriebszugehörigkeit. Das Miteinander der Mönche im Kloster ist auf die Dauer eines Menschenlebens hin angelegt und muß deshalb auch in den von Benedikt gegebenen Lebensformen geschützt werden. Daß sie größere Bedeutung haben als die eines monastischen „Knigge“, erfahren die Mönche gerade in der Gegenwart, wo die Hektik des modernen Lebens auch in die Klöster eindringt und die geistliche Atmosphäre stört, in der allein benediktinisches Leben im Hören auf das Wort und dessen Bezeugung gedeihen kann. In der Gegenwart stellen die Gesellschaftskritiker oft die Frage, ob die Menschen von heute das Hören und das Warten verlernt hätten. Benedikts Mönchsregel gibt manche Anregungen, diese verloren geglaubten Fähigkeiten wiederzuerwerben. Die gleichen Gesellschaftskritiker und mit ihnen auch viele einsichtige Politiker betonen heute ebenfalls, daß in dem von Tempo und Mobilität bestimmten Leben der Menschen unserer Zeit den Klöstern als Orten der Sammlung in Beständigkeit nicht zu unterschätzende Bedeutung zukomme. Es ist allerdings zu kurz gedacht, den Klöstern nach dem Lebensentwurf der Benediktsregel nur für die Gegenwart eine solche Daseinsnotwendigkeit zuzurechnen. Hier gilt vielmehr die alte Lebensweisheit „Wer die Vergangenheit verleugnet, verliert die Zukunft“, die in unserem zu Ende gehenden Jahrtausend Martin Heidegger, Elie Wiesel und Erwin Chargaff mit wechselnden Worten, aber stets gültig ausgesprochen haben. Wir glauben, daß Europa nur Europa bleiben und Zukunft haben kann, wenn es die Impulse der Regel Benedikts aufnimmt: der Mensch müsse „gebessert“ werden. Kulturleistungen sind nur insofern wichtig, als sie der Menschenwürde und den Menschenrechten dienen und sie weiterentwickeln. Der Hinweis auf die Mönchsregel wäre allerdings falsch verstanden, als wolle er in einer Art „Heimweh“ die Vergangenheit wiedererwecken. Darin kann die Zukunft christlicher Kultur nicht bestehen. Aber diese Zukunft wird es nicht geben, wenn wir die Vergangenheit vergessen. Das Bleibende aus der Vergangenheit in derschnellebigen Zeit der Gegenwart zu bezeugen, macht die Mönchsregel Benedikts insgesamt und in vielen ihrer einzelnen Impulse zum Mutterboden christlicher Kultur.