Eine kulturgeschichtliche Wanderung besonderer Art
VON HANS HAFFKE
Wer aufmerksam durch die Städte und Dörfer unseres Landes geht, der wird nicht nur die in die Augen fallenden Zeugen der Vergangenheit sehen – sakrale und profane Bauten, Stadttore und Denkmäler -, sondern er wird auch die weit weniger auffallenden Inschriften nicht übersehen, die viele von ihnen aufweisen. Unter diesen Inschriften gibt es eine große Anzahl, die sich jedem Betrachter erschließen, wenn er nur gewillt ist, dem altertümlichen Deutsch, in dem sie geschrieben sind, ein wenig Geduld und Nachdenken zu widmen. Andere dagegen sind nicht ohne weiteres jedermann zugänglich, da sie in lateinischer Sprache abgefaßt sind. Einige von ihnen aber lassen wohl auch den des Lateinischen Unkundigen stutzen; denn scheinbar unmotiviert sind immer wieder einzelne Buchstaben mitten im Satz oder gar im Wort ungewöhnlich groß geschrieben. Was für eine Bewandtnis hat es mit diesen zuletzt genannten Inschriften?
Unter den lateinischen Buchstaben gibt es solche, die auch als Zahlenzeichen verwendet werden. Diese sogenannten „literae numerales“ sind:
I=1,V=5,X=1o,L=5o, C = 100, D = 5oo, M = 1000.
Durch geschickte Wahl der Worte kann man nun erreichen, daß eine Inschrift außer dem Hinweis auf ein besonderes Ereignis auch die Jahreszahl dieses Ereignisses enthält, eben durch die in ihrer Großschreibung hervorgehobenen „literae numerales“. Ist eine solche Inschrift ein Vers, so nennt man sie ein Chronostichon, ist sie ein Stück Prosa, Chronogamm. In beiden Formen aber ist es unerläßlich, daß auch wirklich alle vorkommenden „literae numerales“ als solche Verwendung finden. Wissen muß man ferner, daß die Rö mer, wenn sie in großen Buchstaben schrieben, das Schriftzeichen V für zwei Buchstaben verwandten, nämlich u und v.
Einige kleine Beispiele mögen das Gesagte verdeutlichen: Als Königin Christine von Schweden zur katholischen Kirche übertrat, wurde eine Münze geprägt mit der Inschrift: ChrIstIna aDMIrabILIs. Die Zahlenzeichen ergeben MDCLIIIII = 1655, der Text lautet: Christine, die Bewunderungswürdige.
Im Jahre 1700 wurde Kaiser Leopold I. folgende Bittschrift überreicht;
ConCeDe paneM =,Gib uns Brot!
Er antwortete darauf:
ConCeDaM = Ich werde es geben.
Jedes der beiden in ihrer Knappheit unübertrefflichen Chronogramme enthält die Jahreszahl MDCC = 1700.
Das wohl schönste und eindringlichste Chronogramm ist die Kreuzesinschrift: IesVs nazarenVs reX IVDaeorVM.
Sie enthält das Jahr des Nürnberger Religionsfriedens: 1532.
Wenden wir uns nun zurück zu unserem Ausgangspunkt und schauen uns in unserem Kreisgebiet ein wenig in dieser Hinsicht um. Täglich eilen viele Menschen am Kurpark von Bad Neuenahr vorüber. Wissen sie, daß an seinem oberen Ende hinter der Trinkhalle die Willibrordus-Säule steht und daß diese Zwei Chronogramme trägt? Auf dem Sockel ist zu lesen:
ChrIsto saLVatorI pIe erIgebant franCIsCVs henrICVs MaVrer reCeptor & sIbILLa krahe ConIVges | Christus, dem Erlöser, errichteten in Frömmigkeit Franz Heinrich Maurer, Rentmeister, und Sibilla Krahe Eheleute |
Zahlenzeichen ergeben MCCCCCCLLLVVVVVIIIIIIIII = 1784.
Die Säule, auf deren Kapitell eine Statue des hl. Willibrordus im Bischofsornat mit Mitra und Hirtenstab steht, trägt die Inschrift:
sVb CaroLo theoDoro & eLIsabetha aVgVsta IVLIaM gVbernantIbVs | Unter Karl Theodor und Elisabeth Auguste, Jülichs Herrschern |
Auch hier ergibt sich wieder die Jahreszahl 1784 (MDCLLLVVVVVVIIII).
In der ersten Inschrift wird also das Stifterehepaar genannt, in der zweiten das zur Zeit der Errichtung in Jülich regierende Herzogspaar. Mit diesen Namen wird der Laie keine besonderen Vorstellungen verknüpfen; aber der Historiker weiß, daß sich dahinter einer der mächtigsten Reichsfürsten jener Zeit verbirgt. Dieser Herzog Karl Theodor von Jülich, zu dem die Grafschaft Neuenahr seit x546 gehörte, war zugleich Herzog von Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf. Im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit waren Jülich und Berg an Pfalz-Neuburg (Donau) gekommen, und die Neuburger erbten 1685 die Kurpfalz (Heidel= berg). Als diese Linie 1742 ausstarb, war „unser« Karl Theodor der lachende Erbe, und 1777 fiel ihm, wieder durch Erbschaft, auch noch das Kurfürstentum Bayern zu. So war er
Herr der Grafschaft Neuenahr,
Herzog von Jülich (Jülich=Düren),
Herzog von Berg (Düsseldorf),
Pfalzgraf von Neuburg (Neuburg Donau),
Kurfürst von der Pfalz (Heidelberg),
Kurfürst von Bayern (München).
Nicht alle Chronogramme fordern uns zu einem solchen Ausflug in die Geschichte heraus; die meisten künden von dem frommen Sinn und der Gebefreudigkeit unserer Vorfahren. So findet sich in der von Pfarrer Lorenz Sprünker im Jahre 1669 erbauten Kapelle im Wald südwestlich von Aremberg die Mahnung:
honora VIator oratorIVM s. angeLl CVstol)Is
= Ehre, Wanderer, diese Gebetsstätte des hI. Schutzengels!
(MDCLVVVIIII = 1669).
Missionskreuze und Friedhofskreuze rühmen in Sinzig, Kirchsahr, Bengen und Eckendorf die Erlösungstat Christi.
In Sinzig weist die teilweise verschwundene Inschrift eines Missionskreuzes
CrVX saLVs MVnDI = Das Kreuz ist das Heil der Welt
auf das Jahr 1676 hin.
Ein etwa 3,50 m hohes Friedhofskreuz aus Basalt in Kirchsahr enthält in einem Chronogramm die Jahreszahl 1806:
eCCe Corona spInea DoMInI
InorstrI In terrIs
= Seht die Dornenkrone unseres
Herrn auf Erden!
Das jetzt vor der Ostwand des neuen Chores der Bengener kath. Pfarrkirche stehende Friedhofskreuz birgt das Jahr seiner Errichtung (1807) in dem Spruch:
per CrVCeM Christi aD astera
= Durch das Kreuz Christi zu den Sternen.
Und das große Kreuz auf dem Eckendorfer Friedhof nennt in seinem Lobpreis das Jahr 2843:
aVe CrVX DoMInI nostrI IesV ChrIstI
resVrreCtIo et VIta
= Sei gegrüßt, Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, unsere Auferstehung und unser Leben!
Häufig sind Taufbecken und Kirchenglocken mit Chronogrammen versehen worden. Eine kleine Glocke der katholischen Pfarrkirche in Ahrweiler trägt zwischen Palmettenfriesen die Inschrift:
VrbIs arapoLItanae proprIIs eXpensIs fVsa
saCrata sVM DIVIs seVerIno et loannI
eVangeLIstae (= 1751)
– Mit den eigenen Mitteln der Stadt Ahrweiler gegossen, wurde ich den Heiligen Severinus und Johannes, dem Evangelisten, geweiht.
Und in der Pfarrkirche zu Bodendorf steht ein Taufstein aus dem Jahre 1789, ‚dessen von einer Taube bekrönter Messingdeckel in einem Chronogramm den Stifter nennt:
eXpensIs DoMInl henrICI hersbaCh praetorIs post elVs fVnera fons Iste obLatVs fVIt
= Aus den Mitteln des Herrn Heinrich Herschbach, Bürgermeister, ist nach seinem Tode dieses Taufbecken gestiftet worden.
Foto: Jakob und Helene Steinborn
St. Willibrordus-Säule im Kurpark Bad Neuenahr
Eines besonderen Ereignisses, das bis in unsere Tage fortwirkt, gedenkt eine Inschrift an der nördlichen Lisene der Apsismitte in der katholischen Pfarrkirche in Remagen. Das lange Jahrhunderte auf dem Apollinarisberg verehrte Haupt des Heiligen war 1793 vor den Franzosen nach Siegburg in Sicherheit gebracht und 1812 nach Düsseldorf übertragen worden. Am 25. Januar 1826 wurde es feierlich nach Remagen zurückgeholt und in der Sakramentsnische der Pfarrkirche aufbewahrt. Diesem festlichen und freudigen Anlag wollte der damalige Pfarrer Windeck offenbar in außerordentlicher Weise entsprechen. So entstand ein fünffaches Chronogramm, dessen Anfang und Ende hier wiedergegeben seien:
Data tVls paCe tV MartIr apoLLInarIs tVos respICe benlgnVs (= 1826)
= Nachdem den Deinen der Frieden geschenkt ist, blicke Du, Märtyrer Apollinaris, gütig auf die Deinen
und
eCCe regIo Magenses pIs hoC VoVent patrone tIbI Vere DeVotI (= 1826)
= Siehe, die frommen Remagener weihen Dir, ihrem Patron, dies in tiefer Ehrfurcht. Ein Kuriosum auf diesem ohnehin interessanten Gebiet stellen zwei Inschriften an der 1715 neu aufgebauten Pfarrkirche in Karweiler dar. Neben zwei lateinischen Chronogrammen:
und
beneDICta sVM In festIVItate s. CatharInae (= 1715)
= Ich wurde geweiht am Feste der hl. Katharina
und
ple lesV In CrVCIs arbore penDens MIserere nobIs (= 1716)
= Gütiger Jesus, am Kreuzesstamm hängend, erbarme dich unser
finden sich auch zwei deutsche:
Im Iahr aLs DIese kIrspeLskIrCh VfferbaVt
und
heILIge Catharln, erhaLte DIese pfar VnD Vns pfarrklnd.
Hier ist (soweit mir bekannt ist, zum einzigen Mal in unserem Kreisgebiet) das sich aus der lateinischen Sprache zwanglos ergebende Prinzip des Chronogramms kurzerhand auf die deutsche Sprache übertragen worden, so als ob auch in ihr Buchstaben als Zahlen Verwendung fänden, obwohl doch längst die arabischen Zahlenzeichen die römischen verdrängt hatten.
So ließe sich noch mancherlei Erwähnenswertes berichten, doch wollen wir uns für dieses Mal mit der getroffenen Auswahl begnügen.
Ich möchte diesen kulturgeschichtlichen Spaziergang durch unsere Heimat aber nicht beenden, ohne eine Bitte an die Leser zu richten, die mich bis hierher geduldig begleitet haben: Helfen Sie mit, daß diese Zeugnisse aus früheren Tagen erhalten bleiben, schreiben Sie dem Kreisarchiv Ahrweiler oder mir persönlich, wenn Sie Chronogramme kennen oder entdecken, die in diesem Aufsatz nicht erwähnt worden sind. Geben Sie dabei den Wortlaut und die Fundstelle möglichst genau an. Vielleicht entsteht auf diese Weise einmal eine vollständige Sammlung dieser Inschriften. Sie würde sicher eine reiche Fundgrube der Kultur- und Heimatgeschichte.