Eine Kindheit in „Kleinfrankreich“ – Die „Goldenen zwanziger Jahre“ in Bad Neuenahr
Eine Kindheit in „Kleinfrankreich“
Die „Goldenen zwanziger Jahre“ in Bad Neuenahr
P. Anton Schumacher
„Die goldenen zwanziger Jahre“, so nennt man den ungemein fruchtbaren kulturellen und künstlerischen Aufbruch in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, besonders in Berlin. Diese „Zwanziger Jahre“ meine ich hier nicht, sondern die zwanziger Jahre meiner Kindheit in Kleinfrankreich, wie man damals die untere Kreuzstraße und die Wendelstraße nannte. Woher der Name „Kleinfrankreich“ kommt, das weiß ich nicht. Vielleicht warerein Schimpfname. Auf alle Fälle drückte er etwas verächtlich die ärmliche Situation dieserWadenheimerstraßen aus im Gegensatz zum damals doch schon modernen und mondänen Flair des Badeortes. „Kleinfrankreich“ war ein Dorf und deshalb hieß es auch einfach „et Underdörb“.
Wenn ich heute über meine Kindheit nachdenke, dann muß ich bekennen, daß es schon einmalige Jahre waren. Gewiß erlebten wir das alles nur unbewußt mit, die eigenartige Zwielichtigkeit dieser Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, diese einmalige Spannung zwischen untergehenderTradition und aufbrechender Moderne, zwischen kleinbürgerlicher Enge und weltoffener Internationalität, zwischen heimatlicher Geborgenheit und der Angst vor den unheimlich heraufziehenden Gewitterwolken weltwirtschaftlicher Krisen und politischer Umwälzungen.
Wirwaren Kinder des Dorfes und der Stadt. Wir pendelten jeden Tag mit unseren genagelten Schuhen oder auch „bläk“ zwischen zwei Welten. Wir kannten die kleinen Fachwerkhäuschen, die Misthaufen mit der „Puddelspomp“ und die oft windschiefen Häuschen mit dem ausgesägten Herz in der Brettertür. Wir liefen aberauch ebenso ungeniertdurch die Post- und Telegrafenstraße. Hier stand das imposante Palasthotel, hier war Veelmanns Cafe mit den wunderbaren Torten im Schaufenster. Da waren Nachtsheims feinste Moden, exklusiv und teuer. Da waren die Spielwarengeschäfte Dertinger und Bender. Wir drückten uns, besonders in derWeihnachtszeit, die Nasen an den Schaufensterscheiben platt, wenn wir unmittelbar vor uns Eisenbahnen fahren und Dampfmaschinen laufen sahen. Ja, in der Poststraße gab es schon damals ein ganz modernes Kaufhaus EHP, ein gewisser Vorläufer unserer heutigen Selbstbedienungsläden. Da gingen wir hin, um uns ein Döschen Salmiakpastillen oder eine Stange Lakritz zu kaufen, wenn wir die zwei Groschen dafür hatten.
Et Underdörb
Wadenheim muß zur Zeit unserer Großeltern ein armes Dorf gewesen sein, besonders die untere Kreuzstraße. Mein Vater erzählte uns Kindern oft von der großen Armut seiner Kindheit. Die Leute lebten durchweg von einer kleinen Landwirtschaft. Mein Großvater in Neuenahr war ein Ackerer, so hieß die offizielle Berufsbezeichnung für Bauer auf den amtlichen Dokumenten. Schicksalsschläge brachten die Menschen oft bis an den Rand ihrer kargen Existenz. So, als mein Großvater auf dem „Hupe“ das Feld pflügte. Da sah mein Vater im „Underdörb“ eine mächtige Rauchwolke aufsteigen. „Bei os brennt et“, rief er erschrocken. Als sie zu Hause ankamen, war die ganze Scheune mit der Ernte und dem Stall abgebrannt. Nachbarsleute konnten noch das Vieh ins Freie holen. Seine Brüder hatten hinter der Scheune am Schanzenhaufen ein „Feuerchen“ gemacht.
Vor der Jahrhundertwende war die untere Kreuzstraße nichts anderes als ein besserer Feldweg. Meine Großmutter wußte noch, daß die Gemeindearbeiter von Zeit zu Zeit die Straße vom gröbsten Unkraut reinigten. 1907 wurde in Neuenahr die Kanalisation gebaut. Wir haben daheim noch ein „Führungszeugnis“, das die Düsseldorfer Tiefbaufirma für Kanal-, Straßen-, Eisenbahn- und Betonbauten Hermann Viaion meinem Onkel Johann Schumacher für die Zeit vom 24. November 1909 bis zum 23. April 1910 ausgestellt hat. Damals verwandelte sich auch die Kreuzstraße in eine große Baustelle. In meiner Kindheit war die Kreuzstraße kein Feldweg mehr, aber sie war nicht asphaltiert wie die anderen Straßen. Ich weiß auch noch, als die erste Straßenbeleuchtung angebracht wurde-Funseln- eine an der Ecke Wendelstraße, eine in der Mitte bei Knaufs und eine an der Kreuzung Landgrafenstraße, dazwischen Finsternis wie eh und je. Doch die Kreuzstraße hatte damals schon Kanaldeckel. Für uns Kinder war es immer interessant, bei der Kanalreinigung durch die Gemeindearbeiter dabei zu sein. Die schweren Kanaldeckel wurden aufgeklappt. Ein Mann in einem Gummianzug, einem Astronautenanzug ähnlich, stieg in die Tiefe. Mit Handwinden wurden an Drahtseilen große, walzenartige Bürsten von Schacht zu Schacht gezogen. Zum Schluß spritzten die Männer mit einem mächtigen Wasserstrahl aus einem Feuerwehrschlauch den ganzen Kanalabschnitt durch. Ich weiß nicht, ob Leute aus der Kreuzstraße einen Kanalanschluß besaßen. Die meisten hatten eine Schlingsenke. Durch den Kanal flössen die Abwässer des modernen Badeortes und ergossen sich an der Heimersheimer Brücke in die Ahr. Auf alle Fälle gab es im „Underdörb“ schon mal Kanaldeckel, auf die wir uns etwas einbildeten, wenn wir die Ahrweiler mit dem Schimpfwort„AhrweilerStadtmauerdresser“ betitelten. Uns wiederum beschimpften sie mit „Neuenahrer Schinnebröder“. Mit genagelten Schuhen, an deren Sohlen vorne noch eigene Stoßeisen befestigt waren, gegen das Schienbein getreten zu werden, war schon eine gefürchtete Waffe, die wir unbedenklich einsetzten, wenn es darauf ankam.
„Kleinfrankreich“ hatte zu meiner Kindheit einen dörflichen Charakter. Pferdefuhrwerke prägten das Straßenbild. Da gab es noch richtige Bauern, die ein Pferd im Stall hatten: Johann Tönnes-sen, Webers Johann, Rönne Johann, Höpers Christ, Paffenholz Peter, Kohlenhandel Jung-bluth. Ein Original besonderer Art war Jungbluths Hannes. Er wohnte neben dem „Neuenahrer Hof“. Vor seinem Haus auf der Straße standen Leiterwagen, Mistkarren, der „Plog“ und das „Puddelfaaß“. Der Hannes arbeitete als einziger Bauer in Neuenahr mit einem Ochsen, einem „Oas“. Er trug fast immer eine kurze abgebrochene, braungeschmorte irdene Pfeife zwischen den Zähnen, an der an einem kleinen Kettehen ein Deckelchen „bambelte“. Ständig sprach er mit dem Ochsen, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Viele Leute aus der Kreuz-und Wendelstraße betrieben damals nebenbei noch Landwirtschaft, hatten Felder und Vieh im Stall, eine Kuh, Ziegen, Schafe, ein Schwein, Hühner. Die große Weltwirtschaftskrise gegen Ende der zwanziger Jahre bewirkte in Deutschland eine Massenarbeitslosigkeit. Viele Männer mußten stempeln gehen. Da war jeder froh, wenn er ein Stück Land besaß. Rasen und Rasenmäher gab es nicht, Wiesen und selbst Wegränder wurden abgemäht oder mit der Sichel „gekroggt“ und dann als Futter auf der „Deuka“ oder dem Damenschoner nach Hause gebracht. So ein typischer und origineller Kleinbauer war Rutsche Anton mit seiner Schwester Traudchen, die neben Jungbluths wohnten.
Mein Vater war ein kleiner Postbeamter. Um die große Familie ernähren zu können, bebaute er die Felder seines Vaters. Für die schweren Arbeiten wie Pflügen und Heimfahren der Heu-und Getreideernte holte er sich einen Fuhrmann, sonst wurde aber alles mit der Hand gemacht. Wir Kinder mußten dabei schon früh helfen: Kartoffeln setzen und auflesen, Heumachen, Essen und Kattee ins Feld bringen. Wie herrlich war es damals „auf der Heid!“ Da gab es noch keinen Flugplatz und keinen Schießstand, da führten noch keine asphaltierten Autostraßen durch die Felder. Wildwuchernde Hecken und kleine Wäldchen boten mannigfaltigen Vogelarten eine Heimstatt, und Hase und Reh sprangen einem oft unerwartet über den Weg. Wie schmeckte es, auf einem Kartoffelsack oder einer Korngarbe sitzend, wenn uns die Mutter aus dem mitgebrachten Korb die „geschmerten“ Stücke reichte! Einmaliger Höhepunkt war es für mich immer, wenn ich auf dem hochgepackten, sich hin- und herwiegenden Erntewagen mitfahren durfte. Vorher aber ging es, nicht immer ohne Gefahr, die „Hüll“ hinunter. Heute noch habe ich den eigenartigen Geruch der Bremsklötze und der schleifenden Wagenräder in der Nase und das Knirschen der zerdrückten Kieselsteine im Ohr. Wie schön, wenn der hochgeladene Heuwagen in der Scheune stand und abgeladen wurde, und wir Kinder von dem Gebälk der Scheune in das frische Heu hinabsprangen!
Bad Neuenahr, Hauptstraße/Ecke Jesuitenstraße, in den 1920er Jahren.
Das Getreide wurde meistens sofort vom Feld an die Dreschmaschine gefahren. Ich kann mich noch erinnern, daß sich in Hemmessen, ich meine an der Weinbergstraße, ein Sägewerk Schäfer befand. Dort stand zur Erntezeit auch eine Dreschmaschine, die mit einem Lokomobil, einer fahrbaren Dampfmaschine, angetrieben wurde. Das war schon aufregend für uns, dieses Ungetüm der Dampfmaschine mit dem mächtigen Schwungrad, der lange klatschende Treibriemen, das Zischen der Dampfkolben, das Rattern und Schütteln der Dreschmaschine, das Schreien und Zurufen der Leute, die lange Schlange der wartenden Erntewagen mit den scharrenden Pferden, und das alles in eine Staubwolke gehüllt, die sich beißend in die Nase und auf die Lunge legte.
Bei der Kartoffelernte brauchte mein Vater keinen Fuhrmann. Er fuhr selber mit einem vom Stellmachermeister Johann Winnen besonders stark gebauten Handwagen die ausgemachten Kartoffeln von „Stohl“ oder „Dellemich“, wo unsere Felder lagen, „die Hüll“ hinunter. Mein Vater war sehr stark. Er stemmte sich, wenn es die steile „Hüll“ hinunter ging, mit aller Kraft gegen die Zentnerlast auf dem Wagen und hielt dabei noch die Deichsel fest in der Hand. Eine besonders stabile „Hemm“, vom Schmiedemeister Schmoll gemacht, war bis hinten zugedreht, und wir Kinder hingen uns hinten an den Wagen und ließen uns mitschleifen. Wir hatten zu Hause eine kleine Kammer, sie hieß die „Haferkammer“, noch von den Großeltern her. In dieser Kammer wurde das gedroschene Getreide gelagert. Von Zeit zu Zeit mußte ich mit einem „Damenschoner“ einen Sack Weizen oder Roggen nach Hemmessen in Steinheuers Mühle fahren. Herr Steinheuer, der Müller, hob mit einem Kettenaufzug den Sack aus dem Wagen und entleerte ihn in einen rüttelnden hölzernen Trichter über den Mühlsteinen. Überall in der Mechanik der Mühle klapperte und rappelte es. Es war für mich gar nicht langweilig zu warten, bis das Korn gemahlen war. Ich konnte durch die Mühle gehen und fasziniert in das, für mich als Bub unentwirrbare Ineinandergreifen rotierender Zahnräder und Antriebswellen schauen. Die ganze Mühle, Gebälk und Maschinenteile, sowie der Müller, und bald auch ich selber, waren mit einem weißen Mehlstaub wie gepudert. Draußen drehte sich das große Mühlrad durch das sich hinabstürzende rauschende Wasser des Mühlteiches, vor dem Wehr aber stand das gestaute Wasser fast still, und seine Tiefe kam mir unheimlich vor.
Mein Vater backte für seine Familie selbst das tägliche Brot. Hausbrot war im Haus Schuma-cher eine alte Tradition. „Webers Patentbackofen“, der in der Waschküche stand, konnte 14 Brote aufnehmen. Es war ein kräftiges Roggen oder Schwarzbrot, wie wir sagten. Wir Kinder trugen dann die schweren Brote in den Keller. Dort wurden sie, schön in der Reihe, auf ein, an der Kellerdecke befestigtes Brett gelegt, damit sie „manz“, das heißt mild blieben. An so einem Backtag duftete das ganze Haus nach frischem Brot.
Im Stall hatten wir 3 Ziegen und ein Schwein, das Mutter großzog. Mit einem kleinen Mühlchen wurden gekochte Kartoffeln durchgedreht, dazu kam dann Kleie und Milch. Mit den Händen zerquetschte die Mutter das Ganze zu einem Brei, der dann dem Schwein in den Trog geschüttet wurde. Heute noch, wenn ich in der Bibel das Gleichnis vom verlorenen Sohn lese, der gerne das Schweinefutter gegessen hätte, das ihm aber keiner gab, steigen in mir Bilder aus meiner Kriegsgefangenschaft auf. Damals als wir großen Hunger litten und viele Kameraden vor Hunger starben, dachte ich sehr oft an das Schweinefutter, das unsere Schweinchen grunzend schmatzten, das mir aber niemand gab, nur das Wasser lief mir dabei im Munde zusammen.
Im Winter wurde geschlachtet. Unnerze Paul aus der Wendelstraße war unser Hausschlachter. Er war schon fortschrittlich, denn er hatte einen Schußapparat, mit dem das Schwein getötet wurde. Während dieses Vorganges mußten wir Kinder in die Küche kommen. Bei anderen Leuten aber schauten wir aus der Ferne zu. Bevor es die Schußapparate gab, wurde das Schwein durch einen Schlag mit einer umgedrehten Axt auf die Stirn zunächst betäubt. Bei Kelters Jörg nun, so erinnere ich mich noch, ging der Schlag daneben. Das angebundene Tier riß sich los, rannte überden Misthaufen und durch die „Puddelsbrüh“ durch den Hof, die Männer hinterher. Eine wilde Jagd entstand, bis dann die arme Sau an Ohren und Schwanz gepackt, quietschend zu ihrem Hinrichtungsort geschleppt wurde, wo sie dann ihr Schicksal erleiden mußte.
Eine eigene Aktion war das Räuchern. Der alte Herr Anton Koch besaß ein „Rauches“. Das Besondere daran war, daß das „Rauches“ hinter dem „Abtritt“ eingebaut war. Meistens mit dem Schlitten fuhren wir den Korb, in dem die Würste, Schinken und Speckseiten lagen, zu Kochs „Rauches“. Nachdem alles in der schwarzen Kammer an Haken aufgehängt war, entzündete Herr Koch das Feuer, in dem Sägemehl und Wacholdersträucher verbrannt wurden. Einige Tage hing dann das Fleisch in dem Rauch, der aus dem schwelenden Sägemehl und Wacholder aufstieg und verlieh ihm Konservierung und einen unnachahmlichen Geschmack. Heute wären bei „Kochs Rauches“ sofort die Gesundheitsbehörden zur Stelle gewesen, wegen der Hygiene. Im Vergleich zu manchen heutigen giftigen Konservierungsmethoden wardoch beim alten Koch alles naturbelassen, und der würzige Wacholderqualm tötete jeden gesundheitsschädigenden Bazillus.
Bei Johann Josef Jungbluths Colonialwaren-handlung gingen wir alles kaufen, was im Haushalt so gebraucht wurde. Jungbluths Sannchen stand hinter der Theke und bediente. Damals gab es noch keine Plastikverpackungen. Das meiste kam aus dem Sack in die Papiertüte und dann auf die Waage. Wir Kinder schauten immer auf die großen Gläser mit den Kamellen. Wenn Sannchen gut gelaunt war, hob es den Deckel von so einem Kamellenglas, und schenkte uns ein paar Kamellen. Wie gesagt, beim Sannchen wurde alles angeboten, was man daheim brauchte: Zucker, Mehl, Salz, Butter, eingelegte Heringe, Fliegenfänger, Schmirgelpapier, Sidol, mit dem wir Kinder jeden Samstag die Messingknöpfe der Schlösser am „Schaaf“ in der Küche, die Türklinken und den Wasserhahn blank putzen mußten, Rama im Blauband und Persil, das es damals schon gab. Bei uns im „Underdörb“ gab es auch einige Handwerksbetriebe, in denen es für uns Kinder immer wieder etwas zu sehen gab. Da war die Schmiede vom Meister Schmoll. Die Schmiede war schwarz
wie die Nacht. Um so unheimlicher leuchtete das Feuer der Esse, die durch einen handgezogenen Blasebalg, der an der Decke hing, einen wahren Funkenregen ausblies, wie bei einem kleinen Vulkan. Von weitem schon hörte man den hellen Klang, wenn Meister Schmoll ein weißglühendes Hufeisen aus dem Feuer nahm und auf dem Amboß auf Maß hämmerte. Wenn ein Pferd beschlagen wurde, lohnte es sich immer, mal stehen zu bleiben und zu gucken. Oft waren die Tiere unruhig, und mußten von starken Männer-Fäusten und unter kräftigen Fuhrmannsflüchen festgehalten werden. Ich sehe heute noch den alten Schmiedemeister Schmoll, wenn er, um etwas frische Luft zu schnappen, aus der Schmiede herauskam und sich an die Straße stellte. Die zerfranste und ölbeschmierte Lederschürze umgebunden, eine Nickelbrille auf der Nase, schaute er dann die Kreuzstraße herauf und herunter. Dann gab es da noch die Schlosserei Fagerberg. Das war schon eine große Werkstatt, hell und geräumig, mit Gesellen und Lehrlingen. An der Decke lief eine Transmission, die über Treibriemen Bohrmaschinen, Fräsen und Schleifwerkzeuge antrieb. Ich mußte oft den „Kaasch“ oder die „Hau“ in die Schmiede bringen, wo sie gespitzt und geschärft wurden, Werkzeuge, die Vater bei der Feld- und Gartenarbeit brauchte. Neben Fagerbergs Harry hatte Zerwas Karl seine Schreinerei. Das Kreischen der Bandsäge und das Heulen der Hobelmaschine ließ einen oft das eigene Wort nicht verstehen. Es roch so eigenartig nach Holz, Beize und Leim. Hier durften wir uns das Sägemehl für unsere Sprunggrube holen. Am liebsten aber spielten wir bei Jochemichs Josef. Sein Vater betrieb ein Baugeschäft. Im Hof lag immer ein ganzer Berg Rheinsand, in dem wir, zum großen Ärger des Besitzers, Tunnels und Burgen bauten. Dann lagerten dort auch viele Gerüststangen und Bretter, zwischen denen man sich wunderbar verstecken konnte. Einmal passierte ein großes Unglück. Beim Räuber- und Schanditzspielen war der Jüpp direkt in ein Auto gelaufen und überfahren worden. Starr vor Schreck sah ich, wie man den Jüpp blutüberströmt ins alte Haus trug. Ich vergesse nicht, wie die alte Frau Joche-mich, die Oma, aus dem Haus kam und eine Schüssel Blut in den Hof schüftete. Nun sah das damals alles viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war, denn die wenigen Autos, die damals durch die Kreuzstraße fuhren, waren nicht so schwer und so schnell wie heute. Jüpp überlebte den Unfall, aber ein paar kräftige Narben erinnern ihn bis heute an dieses „Räuber- und Schanditzspiel“. Am Fußballplatz, neben Windolfs, wohnte Uhrmacher Roos. Sein Arbeitstisch stand direkt vor dem Fenster. Wir konnten sehen, wie er vornüber gebeugt mit einem Vergrößerungsglas am Auge und einer feinen Pinzette in der Hand. in den Eingeweiden der Uhren hantierte. Auch in der Wendelstraße gab es Handwerker, so der Dachdecker Johann Ring, „Bais“ genannt. Zentraler Mittel- und Treffpunkt der Wendelstraße war Winnens Hof. Vorn an der Straße stand noch das alte Winnens Häuschen, in dem damals Poßmanns wohnten. Johann Winnen war Stellmacher und Wagenbauer. Er war der letzte Meister dieses Handwerks in Neuenahr und Umgebung. Sein Sohn, mein Schulkamerad Hannes, erlernte dieses alte Handwerk noch, machte seine Meisterprüfung, ging aber dann nach Köln ins Kölner Stadtmuseum als Restaurator. In der Wendelstraße wohnte auch Schuhmachermeister Adolf Ruiff. Er war evangelisch und versah den Küsterdienst an der evangelischen Kirche. Zu ihm brachten wir die Schuhe, wenn sie kaputt waren. Unsere Werktagsschuhe mußten schon allerhand aushallen. Wenn uns nämlich etwas vor die Füße kam, wurde damit Fußball gespielt. Das brauchte nicht immer ein Ball zu sein, sondern sehr oft waren es auch leere Blechbüchsen und Dosen. Wir nannten das „knö-chen“. Sehr wahrscheinlich kam dieser Ausdruck von der rauhen Art des Spiels, von „an die Knochen hauen“. Deshalb waren die Schuhsohlen genagelt. Die Spitzen und Absätze wurden noch durch eigene Stoßeisen verstärkt. Mein Vater schaute sich öfter unsere Schuhe an. Fehlte ein Nagel, dann schlug er einen neuen ein. In der Kellertreppe stand eine Holzkiste mit einem Schusterhammer, einem Dreifuß und sonstigem Schuhmacherhandwerkszeug von meinem gefallenen Onkel Georg, der das Schuhmacherhandwerk erlernt hatte.
Es gab damals viele Kinder in der Kreuz- und Wendelstraße. Eigene Kinderspielplätze brauchten wir nicht. Wir konnten fast überall spielen. Uns bot sich eine unglaubliche Weite und Mannigfaltigkeit dar, sich auszutollen, Streiche zu machen und Abenteuer zu erleben. Da waren die vielen Höfe und Gärten, die Scheunen und Schuppen, die kleinen „Rädchen“ zwischen den Häusern, das Floß, die Hubbelige Wies, der Hockey- und Fußballplatz, die HeppingerStrünk mit den Kiesgruben, zum Teil noch mit Wasser gefüllt. Unheimlich für uns waren immer die großen Schlangenblätter. Da sonnten sich Eidechsen und Feuersalamander auf den Steinen. Im hohen Gras schlängelten sich Blindschleichen und Kreuzottern. Da war die Ahr und die Heid, die Held und der „Bengener Bösch“. Auf der Beuler Seite ging es oft zum Thomasläubchen am heutigen Rheinblick. Der schönste Spielplatz aber war immer die Straße. Da wurde„Mü“ und Ball gespielt, Seilchen gesprungen und auf Stelzen gelaufen, im Winter „Baneis“ geschlagen. Zum „Doppschmicke“ gingen wir natürlich auf die asphaltierte Kreuzstraße an Pungs Scheng vorbei bis zum „Spieße Köleg“. Da kamen Zigeuner, die am Fußballplatz ihre Wohnwagen stehen hatten, und führten unter den rhythmischen Schlägen eines Tamburins ihren Tanzbären vor. Da kreuzten immer wieder Straßenmusikanten auf, meist arbeitslose Männer und Frauen, die mit ihren Gitarren, Akkordeons und Klarinetten die gängigen Schlager und alte Volkslieder spielten. Da boten Hausierer Schuhriemen und Hosenknöpfe an. Den Kiepenmann aus dem Hunsrück, schwer bepackt mit Strümpfen, Hemden, Unterhosen und warmen Sweatern, kannte jeder. Da kamen die Scherenschleifer. Jeden Tag zog Schmitze Pitte mit seinem Milchwägelchen, das von einem kleinen grauen Esel gezogen wurde, vorbei. Da kam der fliegende Fotograf und machte Familienfotos am Haustor. Es war schon lustig, wenn er seine mächtige Kamera mitten auf der Straße aufbaute und dann unter einem großen Tuch verschwand und mit beiden Händen herumfuchtelte, bis er alle Personen vor sein Objektiv dirigiert hatte. Hoch offiziell wurde es natürlich, wenn „ausgeschellt“ wurde. Der Mann kam vom Bürgermeisteramt und trug eine große Schelle unter dem Arm geklemmt. Nachdem er diese Schelle eine Weile kräftig geschwungen hatte, stellte er sich breitbeinig mitten auf die Straße, zog ein Papier aus der Brusttasche, entfaltete es gravitätisch und begann mit „Bekanntmachung!“ Zum Schluß hieß es immer „Der Ortsbürgermeister“. Jedes Haus schickte einen Vertreter auf die Straße, um zu erfahren, was die Gemeindeverwaltung angeordnet hatte. Dann kam da der Geldbriefträger von der Post und der Mann vom RWE, der die Zähleruhren ablas und das Stromgeld kassierte. Beide Männer trugen, überkreuz auf beiden Schultern hängend, dicke Taschen mit Bargeld und liefen so ungeschoren durch den Ort. So etwas kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen.
Am Abend saßen die Leute auf einer Bank vor dem Haus oder auf den Treppenstufen am Hauseingang und ließen den Tag ausklingen. Fernsehen gab es ja nicht. Auch Klingeln oder Sprechanlagen an den Haustüren waren unbekannt. Die Menschen schotteten sich noch nicht so ab wie heute, sondern waren mehr offen für den Nachbarn.