Eine Blume erfreut uns in der Weihnachtszeit
VON GERTA BUNGARD
Mitten in der dunklen Zeit des Winters liegen das Weihnachtsfest und die Wintersonnenwende, die hinauf in die lichte und freundliche Zeit des Frühlings führt. Aher davon ist draußen nicht viel zu spüren, und wer nicht die leisen Zeichen des Wandels sieht, der glaubt, die Natur sei erstorben unter der Kälte des Winters und dem Fehlen der Sonne. Der Blumenzauber des Frühlings und Sommers ist längst vergessen. Wie sollten die zarten, wehrlosen Geschöpfe es wagen, den Kampf mit Wind und Wetter, Eis und Schnee aufzunehmen! Aber das Leben ist stark, wandelbar und anpassungsfähig. Gerade um die Weihnachtszeit ist es, daß die Christrose ihre wunderbar weißen Blüten durch den Schnee treibt. Die kräftigen Stiele stemmen die großen Blütensterne durch die schwere, nasse Erde und den Schnee. Die derben, fußförmig geteilten Laubblätter haben dem Frost getrotzt und der unterirdische Stengel hat schon lange vorher Nahrungsstoffe gespeichert und die Blütenknospen unter der Erde angelegt. Auf festen, fleischigen, hellgrünen Blütenstengeln erheben sich an geschützten Stellen im dichten Strauchwerk, wohin nicht allzuviel Sonne gelangt, die zarten Blüten, die farblos sind, fast die Farbe des Schnees tragen, manchmal jedoch rötlich schimmern. Vor allem in ihrer Heimat, wo sie oft erheblichen Frösten ausgesetzt sind, zeigen die Blüten diesen rötlichen Hauch, der sie befähigt, der Kälte besser zu widerstehen. Sie ist ein alpines Gewächs, das in den Waldgebirgen der Ost- und Südalpen zuhause ist. Sie gehört zu den kalkliebenden Pflanzen. Deshalb ist sie auf jene Gebirge beschränkt, da gerade in diesen Teilen der Alpen große Kalkgebirge aufragen. Auch in den jugoslawischen Gebirgen können wir sie zahlreich antreffen. Sie gedeiht in lichten Wäldern und geschützten Felsmulden und erstrahlt zur Winterszeit in ihrem zauberhaften Flor.
Christrose Foto: G. Bungard
Die großen, weißen Blüten, die mit zahlreichen gelbleuchtenden Staubgefäßen und Honigblättern ausgestattet sind, werden aber in den meisten Fällen nicht von Insekten bestäubt, die ja zu dieser Zeit im tiefsten Winterschlaf versunken sind, sondern zeigen die in der Pflanzenwelt recht seltene Erscheinung der Selbstbestäubung.
Die Christrose, die auch Schneerose oder in Österreich Schneekanderl genannt wird, gehört zur Gattung der Nieswurz. Diesen Namen erhielt sie von der Eigenschaft des schwarzen Wurzelstückes, der zu Pulver zerrieben und zerstoßen ein heftiges Niesen hervorruft. Sie ist eine Gift- und Drogenpflanze, die in der Volksmedizin zur Heilung der verschiedensten Übel gebraucht wurde. Mönche bauten sie in den Klostergärten an, und von dort aus verwilderten sie auch in die Wälder unserer Heimat. So kommt es, daß sie in einigen Gegenden wild verkommt. Wenn wir sie also bei uns im Freien antreffen, so ist sie aus der Kultur ausgebrochen und keineswegs heimisch. Dennoch gedeiht sie gut bei uns, wenn man ihr nur ihre etwas anspruchsvollen Bodenbedingungen bietet und sie nicht in saure Böden versetzt. Sogar aus Samen haben wir schon zahlreiche Pflanzen gezüchtet, die natürlich erst nach einigen Jahren blühen. Sie liebt einen feuchten halbschattigen Standort, am liebsten auf kalkhaltigen Böden. Wegen der heiklen Kulturbedingungen und ihres langsamen Wuchses ist die Christrose eine seltene Erscheinung in unseren Gärten. Dennoch lohnt sich die Pflege dieser schönen Pflanze, die uns gerade im Winter viele Blüten schenkt. Da die Christrose zu heiliger Zeit blüht, galt sie früher als heilig. Die Legende erzählt von ihr, daß einmal das Christkind zur Winterszeit mit dem Schlitten über die Erde fuhr und in den Spuren der Schlittenkufen Christrosen emporwuchsen. Da sie für heilig gehalten wurde, schrieb man ihr die Kraft zu, böse Geister zu vertreiben und besonders die Pest zu heilen, indem man die schwarzen Wurzeln in die schwarzen Pestbeulen legte. Glaubte man doch, daß Gleiches Gleiches heilen könne, eine Auffassung, die auch z. B. dazu führte, das Leberblümchen wegen seiner dreilappig geformten Blätter, die an die Lappen einer menschlichen Leber erinnern, gegen Leberschäden einzusetzen. Wegen ihrer stark narkotischen Gifte wird die Christrose auch heute noch in der Homöopathie benutzt, allerdings muß die eingenommene Menge genau dosiert werden, da sich das Gift im Körper ansammelt und zu Vergiftungserscheinungen führen kann.
Die medizinisch verwendeten Gifte Helleborin und Helleborein (von Helleborus niger = schwarze Nieswurz = Christrose) wirken auf die Ganglienzellen des Gehirns und auf den Darm. Auch die anderen Angehörigen der Gattung Nieswurz sind giftig und kommen mit Ausnahme der stinkenden Nieswurz alle jenseits der Alpen vor. Die Christrose ist also gleichsam ein vorgeschobener Posten einer südländischen Gebirgspflanze in unseren nordischen Breiten.
Welch schönes Erlebnis ist es, an einem kalten Dezembertag, wenn die Sonne nur matt und fahl vom blassen Himmel scheint und die Natur erstarrt ist unter Frost und Eis des Winters, die leuchtenden Blüten unter dem schwarzgrünen Laub oder gar unter dem Schnee zu entdecken. In unsern rheinischen Gebirgstälern treffen wir die „Stinkende Nieswurz“ mit ihren grünen . Blütenglocken mit rötlichem Rande häufig an; jedoch fehlt sie im Ahrtal vollständig.