Eine abenteuerliche Reise
VON FERDINAND GIES
In einem Dorfe der Grafschaft wirkte, wohl vierzig Jahre lang, ein Lehrer, der auch nach seiner Versetzung in den Ruhestand seinen Wohnsitz nicht änderte, weil er in jenem Dorfe ein eigenes Haus und, als Erbgut seiner Frau, in der Gemarkung des Dorfes nicht unbeträchtliche Ländereien besaß, mit denen er, selbst einer Bauernfamilie entstammend, sozusagen verwachsen war. Müller — so wollen wir den alten Herrn nennen — hatte von Hause aus auch Fleiß und Energie mitbekommen, und selbst, als er in den siebziger Jahren seines Lebens stand, wollte er noch nichts von Ruhe wissen. Eines Tages jedoch kam ihm zum Bewußtsein, daß das Alter, besonders in geistiger Hinsicht, sich bemerkbar machte.
Es galt, in Bonn eine wichtige Angelegenheit zu erledigen, und er wollte dies, ungeachtet einiger Einwände seiner Familie, selbst besorgen. Bei der Rückfahrt war er in Bonn voreilig in einen Expreßzug eingestiegen, anstatt den kurze Zeit darauf einlaufenden Personenzug abzuwarten. Der Expreßzug hielt nicht in Remagen, sondern nahm unsern Reisenden mit bis Koblenz. Dort, im Wartesaal, ertränkte er zunächst seinen Ärger mit ein paar Gläsern guten Rheinweins, dann, nach einer halben Stunde, fuhr er mit dem nächsten Zuge zurück. Der eintönige Rhythmus des fahrenden Zuges in Verbindung mit dem genossenen Trank schläferte ihn ein zu süßem Traum, aus dem er durch einen scharfen Ruck jäh gerissen wurde; der Zieg hielt, und er glaubte, die Posaunen des jüngsten Gerichts zu vernehmen, als er den Ruf „Rolandseck“ hörte. Wieder war er an Remagen vorbeigefahren, diesmal im Schlaf, und eine Station Oberwinter gab es damals noch nicht. Nun hatte er von der Eisenbahn genug; schnell verließ er den Zug und auch, trotzdem es draußen bereits stockdunkel war, den Bahnhof, um zu Fuß nach Hause zu kommen. Der Weg führte am Rhein vorbei und durch das langgestreckte Oberwinter, hierauf wieder durchs Freie bis zum Unkelstein, von wo es seitwärts bergan auf Unkelbach zuging. Da der Wanderer kräftig ausschritt, kündigte bald schon Hundegebell die Nähe dieses Ortes an und nach einer Weile sah er sich von einer Meute größerer und kleinerer dieser wachsamen Tiere umringt, die ihn wütend anbellten. Er hatte nichts, sich zu wehren, als seinen Regenschirm, damals Paraplü genannt, den die Köter am unteren Ende bald gerissen hatten, aber er glaubte einige Schritte seitwärts im Felde eine Pyramide von Bohnenstangen wahrgenommen zu haben. Auf die zog er sich langsam zurück, warf seinen Schirm hinauf, nahm eine Stange und brauchte sie wie ein Bajonett zum Stoßen, und weil die Tiere hierauf nicht eingestellt sind, sondern auf Schlag, hatten bald einige derselben ihren Denkzettel, sie zogen jaulend ab. Die übrigen hatten den Mut verloren und folgten, jedoch nicht ohne den erfolgreichen Kämpfer ganz ungeschoren zu lassen; ein freches Spitzchen hatte sich hinter ihn geschlichen und in die Wade gebissen. Als er hinfühlte, merkte er, daß auch ein Fetzen Hose herunterhing. Unkelbach, das damals mit Ausnahme eines Wirtshauses völlig im Dunkeln lag, hatte unser nächtlicher Wanderer nun durchschritten; schon eine Weile glaubte er, Wagengerassel hinter sich zu vernehmen, er wartete, und es kam ein bäuerliches Fuhrwerk heran, ein Kastenwagen. Der Fuhrmann hielt. Auf dessen Frage, wohin er wolle, nannte ihm Müller sein Dorf. „Dann könnt Ihr bös Birres-dörp mötfahre!“ erhielt er zur Antwort, und schon reichte ihm der Bauer die Hand und zog ihn neben sich auf den Sitz. Dann erfuhr er, daß der Mann Kartoffeln an den Rhein gefahren und als Winterbrand Grießkohlen mitgebracht hatte. Der Rest der Reise verlief ohne ein weiteres Abenteuer, doch als ihm zu Hause seine Frau die Türe öffnete, erschrak sie und rief: „Wie seihst Du aus? Besöch Deck ens em Spegel!“ Und da sah er sein Gesicht geschwärzt wie bei einem Kaminfeger; mit den Händen hatte er sich an den kohlenstaubbedeckten Wagenteilen festgehalten und von den geschwärzten Händen hatte auch das Gesicht seinen Teil mitbekommen. „Das ist aber noch nicht das Schlimmste“, erzählte nun Müller seiner Frau und zeigte die gerissene Hose und die Bißwunde darunter, ferner bat er, ehe er sich an den Tisch setzte, um einen trockenen Strumpf, denn er hatte beim Kampf mit den Hunden in ein Wasserloch getreten, und dann schilderte er weiter seine Reiseerlebnisse, namentlich der Rückfahrt, und während dann Frau Müller mit einer herbeigeholten Salbe die Bißwunde verband, meinte sie: „Dou brauchs mir net mieh zo fahre, me steit jo Dudsschrecke ous!“