Ein Tag in den Brombeeren
Von der Freude an der Natur
von Julius Eigner
Das ganz frühe Aufstehen war schon nicht mehr nötig; denn früh am Morgen sind die Gräser so voll von Tau, daß man bis zu den Knien naß ist, wenn man nur wenige Schritte hindurchgegangen ist. Es ist besser zu warten, bis sich die Sonne hinter den Hügeln erhoben hat und den Tau einsammelt, den die Nacht austeilte. Ist man aber dennoch früh, dann schadet es auch nichts; denn in der Tannendickung, unweit vom grasüberwachsenen Pfad, wachsen Pilze. Es wäre schade, sie stehen zu lassen, nur weil man auf der Suche nach Brombeeren ist. Man kann hier auch mit den Kindern verweilen und ihnen erzählen, daß dieser Pfad 2000 Jahre alt ist, denn er wurde von den Römern angelegt und war einmal Teil der Landstraße, die Marmagen mit Bonn verband. Aber es ist auch möglich, daß die Kinder jetzt in den Ferien keinen Sinn fürs Lernen haben und sich lieber an dem schönen, heitern Tag erfreuen. Da behält man halt seine Weisheit für sich und denkt sich sein Teil: etwa, wie es damals wohl hier in dieser Landschaft ausgesehen haben mag, oder wie behaglich oder auch nicht, es den syrischen Händlern und ägyptischen Soldaten, die mit den Römern kamen, in der geheimnisvollen germanischen Wildnis gewesen sein mag. Es gibt soviel zum Nachdenken, wenn man erst einmal damit begonnen hat.
Aber es gibt vielleicht noch einen besseren Zeitvertreib. Wer hat den Ruf des Pirol gehört? Keiner! Und wer belauscht die Mönchsgrasmücken, eine ganze Familie, an die acht Stück, die, all ihre Bewegungen mit unermüdlichem, silbrighellem Geschwätz begleitend, im Gebüsch ihr Futter suchen? Auch keiner! Eigentlich schade! Es ist kein Gesang mehr zu hören, denn die Zeiten sind vorbei; aber es ist das süße Schwätzen, das sie verriet.
Nachdem wir lange durch dämmrigen, fast urwaldähnlichen Wald gegangen waren, windet sich der Pfad nun steil in die Höhe. Er gleicht stellenweise einem Bachbett; so voll Geröll ist er. Die Kinder rutschen immer wieder nach hinten ab. Dann endlich entdecken sie jauchzend die ersten Brombeerstauden, dort, wo der Wald sich lichtet und allmählich in eine holprige Weide übergeht. Die ersten Büsche hängen übervoll mit den lockenden schwarzen Beeren; für jene, die dann folgen, sind sie fast leer; andere waren hier schon vor ihnen gewesen. Mit Geschrei kehren sie den Sträuchern den Rücken und verteilen sich auf der Suche nach reicheren Gefilden. Am Wiesenrand stehen Wildapfelbäume, schwer behangen mit kleinen roten und gelben Früchten. Die Holzäpfel sind steinhart und nicht viel größer als Murmeln, aber die Kinder ernten einige von den niedrigen Ästen und beißen hinein in die Bitterkeit. Wir kommen an einem Kahlschlag vorbei, der im Juni ein Teppich von Fingerhüten gewesen sein mußte. Aber zwischen den hohen Rispen der Samenstände, die im Winde schaukelten, blühten noch einige der hellroten, betupften Blumen und ließen es uns ermessen, wie herrlich es hier vor zwei Monaten noch ausgesehen haben mochte. Eine Viertelstunde später, in einer Waldlichtung, führt der Weg an einem breiten Band von Adlerfarnen vorbei, über einen Meter hoch, wie ein Miniaturwald unter den hohen Buchen. Endlich, hinter einer hohen Schlehdornhecke stoßen sie auf ein schier undurchdringliches Brombeerdickicht. Schmetterlinge schaukeln darüber hin, Wespen naschen von den Früchten, Käfer krabbeln über sie hinweg. Begehrlich blicken die Kinder in die lockende, duftende, summende Wildnis und sehen die vielen Beeren, aber sie wagen sich nicht hinein, denn außer den Brombeerdornen warten hier Brennesseln und Disteln. „Was in dem grünen Dämmerlicht wohl alles lebt? Eine Kröte hopst davon. Vom Wege her nähert sich vorsichtig ein Mauswiesel und taucht bei der Schlehenhecke unter. Eine Singdrossel fällt ein und frißt sich satt an den blauschwarzen Beeren. Zwei Mäuse huschen durch das gelbe Laub am Rande der Hecke. Der rotrückige Würger, wir nennen ihn den Neuntöter, schaukelt auf einer hohen Ranke und späht herüber. Schließlich entdeckt eines der Kinder sogar einen Igel; aber der hat es sehr eilig, in sein Versteck zu kommen und ist verschwunden, ehe es ihm überhaupt folgen konnte.
Die Kinder bleiben am Rande des Brombeerdickichts, denn sie fürchten die Dornen und Brennesseln. Sie sind aber fleißig, und ihre Büchsen, die ihnen an Strippen vom Hals hängen, füllen sich, denn sie haben entdeckt, daß gerade die untersten Ranken voller reifer Beeren sind. Die Eltern dagegen dringen langsam in die Wildnis ein und pflücken eilig mit beiden Händen. Der Vater flucht manchmal, wenn sich die Domen an seinen Armen festhaken, aber das hat nicht viel zu bedeuten. Was macht es schon angesichts der reichen Ernte, wenn Arme und Beine zerkratzt sind? Aus einem Haselbusch hat er sich einen langen Stock geschnitten, mit dem er sich die hohen Ranken herbeiholt.
Aus dem Brombeerdschungel dringt es schwül hervor. Heiß und feucht ist die Luft ringsum, und von oben her fallen heiß und drückend die Sonnenstrahlen von einem wolkenlosen Himmel. Auf den Wiesen und am Waldrand vergilben die ersten Gräser. Desto besser gedeihen nun jene Unkräuter, von denen weder Mensch noch Tier etwas wissen wollen: die Dolden der wilden Mohre und des Schierling, der klobige Bärenklau, die samenbehängten Rispen des Hirtentäschel und die dicken Samen des grotesken Wiesenklappertopfes.
Die Kinder sind die ersten, die die Arbeit aufgeben; es ist wirklich zu heiß. Sie sitzen unter den Krüppeleichen und albern. Den Eltern rinnt der Schweiß über die Stirn, aber sie lassen in ihrer Arbeit nicht nach. Sie wissen, daß der Segen in diesem Jahr reich bemessen ist. Sie wissen aber auch, daß er den Menschen nicht in den Schoß fällt, sie müssen wenigstens bereit sein, ihn zu bergen. Sie denken an die vielen Gläser Gelee und Marmelade für den Winter.
Die Mittagspause allerdings währt lange, denn alle sind müde und hungrig. Die Eimer sind fast voll, und außerdem sind Ferien, und man will sich auch an der schönen Natur erfreuen. Sie lagern am schattigen Wiesenrand, und die Blicke schweifen den steilen Hang hinab bis auf die Talsohle. Dort, wo in der Tiefe ein Bächlein rinnt, reckt sich der Hang wieder in die Höhe, wo sich eine Fichtenschonung erhebt. Es wächst nicht viel hier; denn der Boden ist hart und steinig, aber was wächst, blüht in einer unfaßlichen Fülle. Gelb und weiß von Hundskamille ist das Wiesenstück, dazwischen blau von Skabiosen und niedrigen Glockenblumen, während auf der ändern Seite die Beerentrauben des roten Hollunder lebhaft leuchten. Und auf einmal steht ein Hase nicht weit von ihnen entfernt. Er hat die Löffel hochaufgerichtet und macht Männchen. Niemand regt sich auf, und alle sind glücklich, daß der Hase so nahe zu ihnen gekommen ist, als sei er ein freundlicher Waldgeist, der ihnen eine Freude machen wollte. Und als er schließlich friedlich davon hoppelt und im Gebüsch verschwunden ist, wenden sie alle die Köpfe nach oben; denn vom blauen, heißen Himmel hören sie durchdringendes Schreien, das sie zunächst nicht zu deuten wissen. Aber schließlich sehen sie in großer Höhe vier kreisende Raubvögel, Bussarde, die dort, adlergleich, ihre Bahnen ziehen. Es sind die Eltern und zwei Kinder, und die Schreie sind die Rufe der Kinder, die sich offenbar, wenn sie in ein Luftloch fallen oder von einer thermischen Säule in die Höhe gerissen werden, nicht wenig ängstigen und ihre Eltern zur Hilfe herbeirufen. Ehe der Vater einschläft, kommt ihm noch ein schöner Gedanke: Brombeeren erntete sicher auch schon der Urmensch, damals, als er hier in den Eifelhöhlen hauste, und als das, was die Eiszeit hier an Wäldern zuließ, von Wildpferd und Rentier, von Höhlenbär und Mammut bewohnt war. Und als er schließlich vom Schlaf überwältigt war, träumte er unruhig von einem gewaltigen Kampf mit einem Mammut, das die Jäger in einer Grube gefangen hatten. Am Nachmittag, als goldenes Licht über der grünen Landschaft liegt, ziehen sie wieder heim. Müde und auch glücklich, denn wo könnte man die Natur besser und schöner genießen, als an einem heißen Sommertag in den Brombeeren?