Ein sommerlicher Besuch in Westpreußen^
VON HEINRICH O. OLBRICH
Als ich im Jahre 1930 meine erste Dienstreise, diesmal vom Niederrhein nach Westpreußen antreten mußte, hatte ich einen merkwürdigen Eisenbahnweg zurückzulegen. West- und Ostpreußen waren bekanntlich nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges durch den sogenannten „Korridor“, einer unverständlichen Entscheidung des Versailler Diktats zufolge, vom Mutterlande getrennt worden. Ostpreußen und fünf Kreise von Westpreußen verblieben östlich der Weichsel deutsches Gebiet. Danzig mit seinem Vorland wurde als Freistaat erklärt, von der damaligen „Entente“ garantiert und unter den Schutz des Völkerbundes gestellt. Wer also von Westdeutschland in dieses eben genannte Gebiet reisen wollte, konnte nur auf dem von der Entente vorgeschriebenen Eisenbahnweg die Einreise nach Ostdeutschland benutzen. Die Reiseroute führte daher von Schnei-demühl bzw. Neustettin auf einem einzigen Eisenbahnstrang bis Dirschau über die Weichsel und durch den Südzipfel des Freistaates Danzig nach Marienburg an der Nogat. Die Personenzüge wurden an der westlichen Grenze des Korridors vom polnischen Eisenbahnpersonal übernommen und die Wagen abgeschlossen. Erst in Marienburg wurden die Eisenbahnabteile geöffnet und der Zug wieder mit deutschem Begleitpersonal besetzt. Diese merkwürdigen Reiseerschwernisse, aus dem westlichen Mutterlande Deutschland nach dem ebenfalls deutschen West- und Ostpreußen zu gelangen, hat alle, Deutsche wie Ausländer, immer wieder stark und nachhaltig beeindruckt und erregt. Angesichts dieser so willkürlichen und unhaltbaren Trennung können wir den Notschrei der ostpreußischen Dichterin Agnes Miegel erst recht verstehen, wenn sie einst rief: „Über die Weichsel drüben, Vaterland, höre uns!“
Der Notschrei aus dem deutschen Ostland ist seit 1945 verstummt, als alle Deutschen dieses Gebietes von Haus und Hof und aus ihren Städten und Dörfern, trotz mehr als 70ojähriger Zugehörigkeit zum Vaterlande, vertrieben worden sind.
Schon beim Verlassen des Bahnhofs in Marienburg, unserem ersten Reiseziel, war man umflutet von den gewaltigen Fassaden der bedeutendsten Ordensburg, dem Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens, und von den Bauten der alten Stadt, die den Namen der Burg trug.
Doch bevor wir uns in Westpreußen näher umsehen, müssen wir hier ein wenig verharren, um uns kurz die Geschichte und Kultur des Hinterlandes Ostpreußen zu vergegenwärtigen, das wir heute nicht besuchen können, da sich Russen und Polen in das Gebiet geteilt haben.
Dabei begann die Besiedlung der Ostprovinzen durch Deutsche bereits im Jahre 1230. Die größten Autoritäten des damaligen Europas, der Kaiser und der Papst, erteilten dem Deutschen Ritterorden den Auftrag, die damaligen Bewohner zwischen der unteren Weichsel und der Mcmel zum Christenum zu bekehren und dieses Land in den abendländischen Kulturkreis einzubeziehen. Mit dieser Maßnahme entsprachen Kaiser und Papst auch einer Bitte des polnischen Fürsten von Masovien, dem südlichen Nachbarn von Ostpreußen, da er sich durch Einbrüche der heidnischen Prus-sen laufend bedroht gefühlt sah. Als Entgelt für dieses schier unübersehbare Unterfangen erhielt der Orden vom Kaiser, dem Papst und dem polnischen Fürsten die feierliche Zusicherung, daß alles Land, das er christianisierte und kultivierte, auch als sein unbestrittenes Eigentum anerkannt werde. An diesem Kulturwerk haben sich u. a. der spätere englische König Heinrich IV.,der 1390 in der Marienburg zum Ordensritter geschlagen wurde, ebenso der Böhmenherzog Ottokar II., beteiligt.
Bei diesem Siedlungs- und Christianisierungswerk wurden nicht, wie heute so gern von Oststimmen behauptet wird, die Prus-sen des Landes verwiesen oder gar ausgerottet. Diese Tatsache wird am besten dadurch belegt, daß der deutsche Herzog Albrecht von Preußen nach Einführung der Reformation in seinem Lande im Jahre 1525 Gesangbücher und Katechismen in prussischer Sprache für die alteingesessene Bevölkerung drucken ließ. Den Ordensrittern zu Hilfe kamen später die Hugenotten aus Frankreich, die mit ihrem Gewerbefleiß viel zur Entwicklung neuer Erwerbszweige beigetragen haben. Im 18. Jahrhundert kamen die Salzburger nach Ostpreußen, herbeigeholt vom König Friedrich Wilhelm I. Ebenso kämen holländische und niederrheinische Mennoniten in diese Gebiete, die ihre reichen Erfahrungen in der Trockenlegung von Sümpfen an den Ufern der unteren Weichsel und Nogat und Memel in die Tat umgesetzt haben. Gleichfalls waren die Schweizer gern gesehene Gäste in diesem aufstrebenden Agrarland, da sie hervorragende Kenntnisse in der Viehzucht und Milchwirtschaft mitbrachten. Sie alle waren zuverlässige Stützen in der Festigung des Ordensstaates.
So entwickelte sich das Land zu einem deutschen, ja europäischen kulturellen Strahlenzentrum. In Königsberg wurde 1544 die erste deutsche Universität als Hohe Schule der Wissenschaft in Nordeuropa gegründet. Als größte Söhne dieses Landes nennen wir nur u. a. den Dichter Johann Gottfried Herder (1744—1803), der auch den östlichen Nachbarn soviel Geistiges gegeben hat. Weltgeltung gewann der Philosoph Immanuel Kant (1724—1804). Er war es, der neben seinen philosophischen Werken die Schrift „Zum ewigen Frieden“ als erste grundlegende Gedanken für einen Völkerbund entwickelt hat. Und 300 Jahre früher wirkte in Allen-stein und seit 1543 in Frauenburg der Domherr Kopernikus, der als Sternkundiger für die Geistesgeschichte des Abendlandes größte Bedeutung und Wertung erhalten hat.
Nach diesem gedanklichen Ausflug nach Ostpreußen sehen wir uns nunmehr in Marienburg, unserem ersten Reiseziel, um. Die Stadt schaut auf ein Alter von rund 750 Jahren zurück, hat einen geräumigen, von Laubengängen eingefaßten Marktplatz mit einem prächtigen Rathaus. In unmittelbarer Nähe des Marktplatzes steht die machtvolle Kirche. Die Stadt ist ein Wahrzeichen alter deutscher Kulturarbeit. Nach diesem Plan wie Marienburg hat der Deutsche Ritterorden 150 Städte und über tjoo Dörfer gebaut.
Und da wir im Hochsommer einige Tage in Marienburg verweilen, nehmen wir auch zufällig Gelegenheit, dem Festspiel dieser alten Stadt, „Bartholomäusblume“, als Gäste beizuwohnen.
Der Marktplatz bildete den improvisierten Theaterraum. Das Spiel begann, wenn die Dunkelheit eingetreten war.
Gellende Trompetenstöße kündigen den Beginn des Festspiels an. Kaum hat ein Herold den zündenden Prolog gesprochen, so erscheinen aus den Nebenstraßen und Gassen, verängstigt schreiend, Massen von Frauen, Männern und Kinder und scharen sich unter Hilferufen vor dem alten Rathaus zusammen. Diese Menschen erscheinen in den malerischen Trachten der Zeit um 1460 und flehen um Rettung, die sie von ihrem Bürgermeister Bartholomäus Blume erwarten. Plötzlich sprengen aufgeregte Reiter auf den alten Kopfsteinen des Platzes herbei und überbringen dem soeben auf den Balkon getretenen Bürgermeister und den Ratsherren schreckhafte Botschaften von den die Stadt belagernden Polen. Im flackernden Schein der Fackeln spricht der Bürgermeister zum Volke mannhafte Worte und mahnt zum tapferen Ausharren, da Hilfe im Anzüge sei. Inmitten dieser Aufregung erscheint ein Knecht vor dem Rathaus und bekennt laut klagend, daß er den Verrätern eine schwache Stelle in der Schutzmauer der Stadt bezeichnet habe.
Die Marienburg von Westen
Foto: H. v. d. Piepen
Es steht also ein vernichtender Ansturm durch den Feind unmittelbar bevor. Das Volk ist von einer furchtbaren Panik ergriffen. In dieser Aussichtslosigkeit einer weiteren Abwehr gibt der Bürgermeister den Abwehrkampf auf; aber um für Stadt und Volk vom Feinde Schonung und Frieden zu erbitten, verkündet er mit beschwörender Stimme, daß er sich mit seinen Mitarbeitern den Belagerern ausliefern wolle.
Nun folgt ein erschütternder Abschied von den Familien und von der aufgewühlten und verzweifelten Bürgerschaft. Das Volk huldigt tief ergriffen seinem Bürgermeister und geleitet ihn unter dem Sturmläuten sämtlicher Glocken, unter Orgelklang und klagenden Gesängen im blutroten Schein des brennenden Rathauses zum Stadttor. — Eine unerhört erschütternde und packende Szenerie!
Wir verlassen das gastliche Marienburg und begeben uns nach Oliva, dem Sitz des uralten Zisterzienserklosters und der Wiege der Christianisierung und Kultivierung der Weichsel- und Nogat-Niederungen.
Die Zisterzienserabtei Oliva bestand von 1170 bis 1832. Den damaligen Pommernherzögen lag es sehr am Herzen, durch den Orden Lehrmeister für die damals sehr rückständigen Bauern Westpreußens zu erhalten. Der deutsche Bischof Otto von Bamberg unterstützte dieses Unternehmen des Ordens.
So gelang es Herzog Sambor, durch ein großzügiges Angebot die Mönche aus dem mecklenburgischen Stammkloster Doberau für sein Land zu gewinnen. In wenigen Jahren entstanden in den ausgestreuten Klostergütern von Oliva und den Tochtersiedlungen Pelplin und Krone an der Brahe bäuerliche Lehr- und Musterbetriebe. Berühmt war schon damals die Schönheit des Klostergartens von Oliva, dessen Anlage bis in die Gegenwart beispielhaft war.
Als 1926 das Bistum Danzig für den neuen Freistaat gegründet wurde, rückte das Kloster erneut in den Blickpunkt der Zeit, denn die uralte Klosterkirche wurde Kathedrale der neuen Kirchenprovinz.
Nun wenden wir uns unserem Endziel, der Perle des Ostseestrandes, Zoppot, zu. Bei der Rückschau über das nunmehr hinter uns liegende Weichsel- und Nogatgebiet müssen wir eines Volksteiles dieses Ländchens gedenken, der sich um die Kultivierung der Weichsel- und Nogatufer große Verdienste erworben hat. Es sind dies die Mennoniten, die bereits eingangs genannt sind, und deren Erfolgsarbeit, aber auch ihre Tragik nur wenigen bekannt sind. Hören wir kurz ihre Geschichte:
1525, also in der Frühzeit der Reformation, entstand in der Schweiz die religiöse Bewegung der Taufgesinnten, die sich in den Gebirgstälern Österreichs und entlang der großen Verkehrsstraße des Rheins auch nach Norden ausdehnte und in den Niederlanden eine große Anhängerschaft gewann. Das Bestreben dieser Bewegung war, in Liebe und Brüderlichkeit die urchristliche Gemeinde zu erneuern und nur die Erwachsenen auf das Bekenntnis ihres Glaubens zu taufen.
Diese religiöse Auffassung breitete sich rasch aus und erhielt einen besonderen Auftrieb, als der katholische Priester Menno Simonis seinen Beruf aufgab, um sich als führende Persönlichkeit diesen Bestrebungen anzuschließen. Er verfaßte das Werk „Fundamentbuch von dem rechten christlichen Glauben“. Seitdem heißen die Anhänger dieser Bewegung Mennoniten.
Gegen sie entbrannte in den Niederlanden bald ein heftiger Kampf der spanischen Inquisition. In Cent, Brügge, Brüssel, Amsterdam und vielen anderen Städten wurden Scheiterhaufen oder auch Richtblöcke errichtet, um die Mennoniten vor der weiteren Verbreitung ihrer Ideen abzuschrecken. Trotz dieser greuelhaften Bestrafungen ertrugen die Glaubenseiferer den Tod. Die Zahl der Opfer wird von Chronisten mit etwa 2000 bezeichnet.
In dieser außerordentlichen Notzeit erreichte die bedrängten Mennoniten eine Einladung aus Ostpreußen, die durch die Vermittlung der Stadt Danzig erfolgt war. Herzog Albrecht von Preußen brauchte dringend die Erfahrung der Mennoniten auf dem Gebiete der Entwässerung und Kultivierung von Sumpfgebieten. Er sicherte den Mennoniten völlige religiöse Freiheit des Glaubens und Befreiung vom Soldatendienst zu. Also scharten sich die Mennoniten von Flandern, Holland, Friesland und dem deutschen Niederrhein zusammen und zogen gen Osten.
Ihre reichen Erfahrungen und Techniken in der Urbarmachung von Landgebieten wie der Weichsel- und Nogat-Niederungen und der Gestade des Drausensees zeitigten in wenigen Jahrzehnten beste Erfolge. Es war wohl eine schwere und zähe Arbeit zu bewältigen, aber die Mennoniten schufen blühende Dörfer und Streusiedlungen in großer Zahl. Sie dehnten ihre Arbeitsplätze aus an beiden Ufern der Weichsel bis Thorn, Graudenz, ja bis WIoc-lawek. Somit erweiterten sie fortgesetzt ihren Besitz an gewonnenen Ländereien und versorgten damit ihre kinderreichen Familienmitglieder durch Schaffung neuer Dorfsiedlungen. Es blieb nicht aus, daß die einheimische Bevölkerung den Mennoniten die starke Mehrung ihres Landbesitzes und die ihnen zugesicherten Freiheiten neidete. Unter dem Druck der entfachten Feindseligkeiten hat König Friedrich Wilhelm II. die erwähnten Sonderrechte der Mennoniten einfach aufgehoben; eine Auflehnung dagegen war aussichtslos. Diese entmutigende Behandlung durch den König, vor allem aber durch die Nöte infolge des großen Kindersegens, zwang die Mennoniten zu einer teilweisen Auswanderung, zumal ihnen günstige Siedlungsmöglichkeiten in Südrußland angeboten worden sind. Die widerstandsfähigsten Bauern dieser Volksgruppe begaben sich 1787 auf den großen Wegen nach Südosteuropa. In langen Trecks hochbeladener Wagen mit Hausrat, Betten und Möbeln bewegten sich diese Wanderzügc in die weite ukrainische Steppe. Hier begann erneut ein großes Siedlungswerk deutscher Bauern. Durch Anpflanzungen von hunderttausenden Obstbäumen gliederten sie die unendliche sarmatische Weite bis zur Wolga auf. Westpreußische Flur- und Ortsnamen wurden in die neue Heimat übertragen. Es wuchs hier ein neuer deutscher Volksstamm mit etwa 160 ooo Mennoniten auf einer Siedlungsfläche von 15 ooo qkm heran. Diese Friedensarbeit wurde erneut unterbrochen, als sie als Opfer des Zweiten Weltkrieges dieses zu hoher Blüte entwickelte Land unter dem Druck der Russen verlassen mußten. Viele von ihnen kamen nach Sibirien, andere nach Westdeutschland, die meisten aber wanderten nach Kanada und den Staaten aus, wo sie das Werk des Friedens fortsetzen.
Dieser Volksstamm wurde so zäh und stark, weil er gleichbleibend durch die Jahrhunderte hindurch Glaubenstreue, Sparsamkeit und Nüchternheit bewahrt hat.
Nun steuern wir, wandernd durch die lieblichen Wälder von Oliva, auf bestgepflegten Parkwegen dem Endziel unserer Besuchsreise, Zoppot, zu, dessen prächtiges, zur See strahlendes Kurhaus und der nicht minder einmalige Seesteg von 500 m Länge unvergeßliche Bilder hinterlassen. Zoppot war ein aufstrebender Badeort, in dem gute Musik und Sport beste Heimstätte gefunden haben. Es wird uns daher nicht verwundern, daß es plötzlich in den Mittelpunkt des norddeutschen Musiklebens gestellt worden ist.
Es war eine Großtat ersten Ranges des Zoppoter Bürgermeisters Woldmann, als auf seine Anregung die Waldbühne (Waldoper von Zoppot) gegründet wurde; sie fand an den Hängen des Waldes eine ideale Pflegstätte und entwickelte sich zu einer so herrlichen Naturbühne, daß sie zum „Bayreuth des Nordens“ wurde. Hier wurden in den Hochsommermonaten fast ausschließlich Wagner-Opern aufgeführt, die infolge ihrer künstlerischen Hochleistungen bald Weltruf erlangt haben; denn hier gaben sich die besten Wagner-Sänger und -Sängerinnen alljährlich ein Stelldichein. Die Gesamtregie des gewaltigen Klangkörpers lag in den Händen des Generalintendanten Hermann Merz aus Danzig, der es meisterhaft verstand, Massenszenen mit Roß und Reitern und einem Chor von 500 Personen zu lenken. Hier war es möglich, das Mysterium des Waldes in den Werken Wagners in einer Weise lebendig werden zu lassen, wie es kein geschlossenes Theater vermag. Zahllose Ozeanriesen, die zur Sommerzeit in der Zoppoter Bucht Anker warfen, brachten der Waldoper Massen von Besuchern.
Jeder Gast von Zoppot fand beste Erholung in den nächstliegenden bestgepflegten Waldgängen mit reizvollen Ausflugszielen, so dem „Großen Stern“, der „Kaiserhöhe“ oder dem „Kleinen“ und „Großen Gaisberg“. Von der bescheidenen Gebirgskette der norddeutschen Tiefebene hatte man einen herrlichen Ausblick auf das angrenzened weite Flachland Westpreußens, das wir soeben kennengelernt haben.
Rückblickend auf die nur wenigen geschilderten Bilder dieser schönen Landschaft verstehen wir die Worte der westpreußischen Heimatdichterin Anna Wagner umsomehr, wenn sie sagt:
„O Heimat du, voll Sonne, Licht und Glück! Die Sehnsucht brennt in mir: Ich will zurück!“