Ein langer Weg nach Deutschland
Als Übersiedler von Premnitz in den Kreis Ahrweiler
Rolf Plewa
Geschichte haben sie geschrieben. Geschichten können sie erzählen, die Menschen, die dabei waren, als nach mehr als 40 Jahren Trennung Deutsche wieder zu Deutschen fanden. Einer von ihnen ist Holger Wiese. Der 31jährige Kfz-Schlosser war einer der ersten, die den Kreis Ahrweiler erreichten, und ist einer der letzten, die hier wieder weg wollen.
15. September 1989: Unruhe liegt in der Luft. Auch in dem kleinen Örtchen Premnitz im Land Brandenburg. 60 Kilometer von Berlin entfernt. Nur nicht auffallen ist die Devise. Der Entschluß für Holger steht fest: „Ich mach in den Westen“. Ganz normal geht er seiner Arbeit in der Speditionsfirma nach. Innendienst. Zwei Stunden früher Feierabend. Da fragt keiner nach. Sein Bruder wartet vor dem Werkstor. Er ist der einzige, der weiß, Holger will über die „Grüne Grenze“. Mit dem Trabi geht es nach Schönefeld. Ein Seesack mit Klamotten ist alles, was der Deutsche mit nach Deutschland nimmt. Das Visum nach Budapest schlummert in der Anoraktasche.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker besuchte am 8. Oktober 1989 die Ubersiedler in der Katastrophenschutzschule Bad Neuenahr-Ahrweiler.
Die Eltern sind in Urlaub in Ungarn. Holger hat den Behörden angegeben, er wolle sie besuchen. Die „Grüne Grenze“ ist genau seit zwei Tagen offen. Die Eltern wissen nichts von seinem Trip. Der Zug nach Budapest ist relativ leer. die Fahrt angenehm.
In der Stadt an der Donau warten vor dem Bahnhof schon die Taxen. „Sollen wir sie nach Österreich fahren“, kommen die Ungarn ohne Umschweife auf den Deutschen zu. Ehrlichkeit oder Trick. Angst macht sich breit. Sie verstärkt sich. als der Mann am Steuer endlos durch die Brückenstadt kurvt. Er muß telefonieren. Eine lange Wartezeit. Doch endlich geht es weiter. Drei bis vier Stunden dauert die Fahrt in dem alten Wartburg bis zur Grenze. Die 1200 Forint, die der Fahrer für seine Dienste haben will. fressen die 300 Mark Barschaft von Holgerauf. An der Grenze verläuft alles reibungslos. Auswelskontrolle, das Deutsche Rote Kreuz hat Auffangstellen eingerichtet. Übergangspapiere werden ausgehändigt. Passau ist das nächste Ziel der Reise zwischen den Staaten, Eine Zeltstadt auf einem Sportplatz erwartet den Flüchtling, der von einem Pärchen im Trabi mitgenommen worden ist. Er ist nicht mehr alleine, hat neue Freunde gefunden. Das gemeinsame Ziel schweißt die jungen Menschen zusammen.
Massenandrang, ein stetiges Kommen und Gehen. Die warme Suppe aus der Gulaschkanone tut gut. Vier Tage verbringen Holger und sein neuer Freund Jürgen Fuchs mit Freundin Marita in der Zeltstadt. Dann machen sie sich mit den 250 Mark Empfangsgeld in der Tasche auf den weiteren Weg. Unterwegs in Richtung Osthofen wechselt der altersschwache Trabi den Besitzer. Trabis sind im Westen „in“, er wird gegen einen Lada eingetauscht. Ein gutes Geschäft. In Osthofen erhält das Trio einen Laufzettel an den Rhein. Remagen soll die Endstation im Westen sein.
Im Namen vieler Übersiedler übergab Gerhard Frehde bei der zentralen Einheitsfeier am 2. / 3. Oktober 1990 ein Stück „Mauer“ als Dankeschön.
Heute ist Holger Wiese glücklich über seinen Schritt in die Freiheit. Heute fällt es ihm schwer. die Ängste zu beschreiben, die er ausgestanden hat. „Das Schwierigste verdrängt man, nur das Schöne bleibt in Erinnerung“, erzählt er. Zu den schönen Erinnerungen gehört die Freundlichkeit der Menschen, die ihm an Rhein und Ahr bei seiner Ankunft entgegenschlug. Besonders ist ihm da die Hilfestellung des DRK-Mannes Peter Backes in Erinnerung. Besonders bedanken möchte er sich bei dem Remagener Pastor Klaus Birtel, der ihm in schwierigen Stunden mit Rat und Tat zur Seite stand. Arbeit fand Holger Wiese sofort, bei den Remagener Stadtsoldaten außerdem eine gesellschaftliche Bleibe.
Einen gebrauchten Kadett konnte er sich schnell zulegen, den Besuchen im Osten steht heute nichts mehr im Wege. Seine Motivation zur Flucht verschweigt er auch nicht: „Der Goldene Westen hat mir keine Ruhe gelassen“. Und so wie Holger ging es zahlreichen Bürgern der ehemaligen DDR. Genaue Zahlen, wieviele im Jahre 1990 im Kreis Ahrweiler Quartier gefunden haben gibt es nicht. Aber alleine in der Katastrophenschutzschule des Bundes (KSB) in Bad Neuenahr-Ahrweiler fanden mehr als 13.000 Übersiedler vorübergehend eine Unterkunft,
Am 3. Oktober – ein Jahr danach – zeigte der Verwaltungsleiter der KSB. Hartmut Hoffmann. in einer Fotoausstellung, was es in der Schule zu leisten galt. Bilder von erschöpften, verunsicherten Menschen, weinende Kinder und ängstliche Jugendliche. Tränen der Freude und Hoffnung in den Augen, alles wurde noch einmal lebendig. Die Ankunft des ersten Zuges am Ahrweiler Bahnhof, Menschen, die die Ankommenden mit Blumen begrüßten, sie auf den Weg in die Schule begleiteten. Ein unvergessenes Erlebnis für die Bürger aus der ehemaligen DDR, der Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der erste Mann des Staates scheute sich nicht, jedem die Hand zu schütteln, zu fragen, zuzuhören, Hilfe zu versprechen, wo Hilfe gegeben werden konnte. An diese erste schwere Zeit der Übersiedler, an die mehr als 40 Jahre geteiltes Deutschland sollte nicht zuletzt die kreisweite Feier erinnern, die in der Nacht zum 3. Oktober auf dem Ahrweiler Marktplatz stattfand. Spontan hatte Landrat Joachim Weiler die Feierstunde organisiert, spontan kamen die Menschen. Eng wurde zusammengerückt, als um Mitternacht die Nationalhymne erklang, die schwarz-rotgoldene Fahne im Wind flatterte, die Nacht durch das Flammenmeer des Höhenfeuerwerks erhellt wurde. Der Gedanke der Leipziger Montagsdemonstrationen wurde in der Menge der Menschen in die Kreisstadt übertragen:
„Wir sind ein Volk“.