Ein kurzes Verweilen in Schlesiens Wallfahrtsorten

VON HEINRICH O. OLBRICH

„Es reisen seine Gedanken zur Heimat ewig fort“ (Frh. v. Eichendorff). Die unumstößliche Tatsache läßt uns immer wieder das Bild unserer ostdeutschen Heimat in unseren Herzen aufblenden mit all der Zärtlichkeit und Wärme, die uns gefesselt und eingefangen hält. Es ist dies unser seelischer Besitz, der gewachsen ist in dem Erlebnis der Heimat.

So wandern häufig unsere Gedanken der Erinnerung und Liebe landauf und landab in unserem einstigen Schlesierlande und suchen alles, was uns einst glücklicher und tröstlicher Besitz war. Zu diesen gehörten unter vielen anderen Erinnerungsbildern auch Schlesiens Wallfahrtsorte, von denen uns einige zu einem kurzen Verweilen einladen, und dies um so mehr, als ihre Geschichte Jahrhunderte zurückreicht. Und wir wollen sie betrachten im Sinne Eichendorffs, der uns hierbei zur Innerlichkeit aufruft: „Die mit ihrem Gram und Glücke will ich, ein Pilger, frohbereit, betreten nur wie eine Brücke zu Dir, Herr überm Strom der Zeit.“

Wir verweilen zunächst in Trebnitz und seinem Heiligtume, dem Grabe der hl. Hedwig, der Mutter des schlesischen Landes. Als Herzogin von Schlesien, seit 1186 Gemahlin des Herzogs Heinrich I., trug sie durch die Gründung des Zisterzienser-Klosters entscheidend zur Christianisierung und Kultivierung des Landes bei. Am 15. Oktober 1243 starb sie und wurde in der Klosterkirche beigesetzt. Zahlreiche Besucher ihres Grabes fanden hier Genesung von seelischen und körperlichen Gebrechen. Die Chronik von Trebnitz berichtet uns, daß die Heiligsprechung Hedwigs am 12. August 1268 erfolgt ist. König Ottokar von Böhmen, die Herzöge von Pommern und Polen, die Ritterschaft von Thüringen, Franken und Bayern sowie der hohe Klerus nahmen an den Feierlichkeiten teil. Die Gebeine der Heiligen wurden von Zisterziensermönchen in eine Kapelle übertragen und zur Verehrung ausgestellt. Seit diesem Geschehen nahmen die Wallfahrten nach Trebnitz von Jahr zu Jahr zu. Besonders in den Notzeiten Schlesiens strömten die Gläubigen zur „Mutter des schlesischen Landes“.

Der Sankt-Annaberg

ist der größte Wallfahrtsort Oberschlesiens. Hier erhebt sich aus einer ruhigen Hügellandschaft ein Basaltkegel, „der Annaberg“. Er bildet bereits in altersgrauer Zeit ein heidnisches Heiligtum, was hier aus zahlreichen Ausgrabungen und Funden zu deuten war.

Mit dem Einzug des Christentums in Oberschlesien wurde auf dem Berge zunächst eine Kapelle errichtet, die dem hl. Georg gewidmet war. Durch Beschluß einer Diözesansynode in Breslau wurde hier 1509 eine St.-Anna-Kirche erbaut, die auch dem Berg von nun an den Namen gab und zum Mittelpunkt der Sankt-Anna-Verehrung Oberschlesiens geworden ist. Der St.-Anna-Tag, der 26. Juli, war früher gebotener Feiertag.

Die Geschichte berichtet uns, daß die St.-Anna-Verehrung durch Kreuzfahrer heimgebracht wurde. Sie lernten in Konstantinopel die herrliche St.-Anna-Basilika kennen, die Kaiser Justitian erbauen ließ. Kreuzfahrer brachten von hier Reliquien der Heiligen zunächst ins Kloster Ville bei Lyon, und der sächsische Herzog Georg der Bärtige brachte sie nach Schlesien. Eine Reliquie kam nach Mainz, die in der Stefanskirche verwahrt wurde. Ein Steinmetz, der ein großer St.-Anna-Verehrer war, stahl die Reliquie und brachte sie nach Düren, wo sie im Franziskaner-Kloster aufbewahrt wurde. Es entspann sich zwar zwischen Mainz und Düren ein heftiger Streit; doch die Reliquie verblieb in Düren und gab der St.-Anna-Kirche den Namen. Düren wurde Mittelpunkt der S t.-Anna-Verehrung im Rheinland und in Westfalen, und rund 60 bedeutende Kirchen tragen ihren Namen. Die schlesischen Grafen von Gaschin pflegten Wallfahrtskirche und Kloster Trebnitz besonders das Heiligtum auf dem St.-Annaberge und veranlaßten auch, daß ein Partikel der St.-Anna-Reliquie von Düren nach Oberschlesien überführt wurde, wo es in der neuerbauten Klosterkirche nun Aufnahme gefunden hat. Zu den St.-Anna-Feierlichkeiten im Juli erschienen alljährlich bis zu 100000 Pilger.

Wallfahrtskirche und Kloster Trebnitz
Foto: Bilderdienst Burda-Verlag

Das Kloster Grüssau,

ein Kleinod des Barocks, ist als weltberühmtes Bauwerk bekannt. Es barg einst das Gnadenbild der „Immerwährenden Hilfe“, das seit längerer Zeit in Rom aufbewahrt wird.

Die Geschichte des Klosters Grüssau ist aufs engste mit der Geschichte Schlesiens und mit seiner Christianisierung verzahnt. Das Kloster wurde 1242 von Benediktinern gegründet, später vom Zisterzienserorden übernommen, der es bis 1810 verwaltet hat. 1426 wurde Grüssau von Hussiten gebrandschatzt, wobei 70 Mönche ihr Leben lassen mußten. Das im neuen Glanz erstandene Kloster wurde erneut im Dreißigjährigen Krieg schwer heimgesucht, wobei die überaus reiche Bibliothek vernichtet wurde. Erst einige Jahrzehnte nach dem Westfälischen Frieden konnte der Wiederaufbau der Gnadenkirche und des Klosters vollendet werden. Über das bauliche Kunstwerk berichtet die Kunstgeschichte, „von einem quirlenden Reichtum figuralen Schmuckes“ mit dem grandiosen Orgelprospekt, von der Kanzel und den Altären sowie von der Fürstengruft hinter dem Hochaltar.

Im Jahre 1919 übernahmen wieder Benediktiner das Kloster, das 1924 eine Abtei wurde. Der tatenfrohe und kluge erste Abt — Schmidt — erlebte 1947 die jähe Unterbrechung des kirchlichen Wirkens, als er mit seinen Ordensbrüdern vertrieben wurde. Sie fanden Aufnahme in dem verlassenen Ritterstift Wimpfen am Neckar, wo der Ordensobere, der Abt Schmidt, 1964 sein 40jähriges Abtjubiläum in der siebenhundertjährigen Geschichte des Klosters Grüssau begehen konnte.

Zahlreiche Schlesier nahmen an den Feierlichkeiten teil.

Wartha,

die Gnadenstätte „Unserer lieben Frau“ mit dem berühmten Gnadenbild liegt in einer malerischen Talenge an der Glatzer Neisse und kann auf eine neunhundertjährige Geschichte zurückblicken. Hier, in dem Paß von Wartha am Tor zur Grafschaft Glatz, erhebt sich die zweitürmige Wallfahrtskirche, die jahrein jahraus von zahlreichen Pilgern besucht worden ist. Auch die Geschichte dieser Gnadenkirche ist ein Teil der Geschichte Schlesiens. Die Tartaren, die 1241 ins Land einbrachen, zerstörten das erste Gotteshaus von Wartha. Vom Jahre 1292 an sind die geschichtlichen Ereignisse der Gnadenstätte lückenlos aufgezeichnet. So haben die Äbte Johannes und Nikolaus vom Kloster Kamenz 1421 eine stattliche Kirche errichtet, die aber bereits 1428 von den Hussiten verbrannt worden ist. Das Gnadenbild konnte gerettet werden. Als die Schweden im Dreißigjährigen

Krieg auch Wartha heimgesucht haben, konnte das Gnadenbild gleichfalls in Sicherheit gebracht werden. Der Bau der neuen Gnadenkirche konnte erst 1704 vollendet werden. Während des 7jährigen Krieges stiftete König Friedrich II. die herrliche Orgel, die damals 21000 Taler gekostet hat. Das Kircheninnere erfüllt eine barocke Pracht, und der Pilger, der vor dem Gnadenbild betete, schaute durch ein mächtiges, kunstvolles schmiedeeisernes Gitter auf den Altar. Das Kloster Wartha, das seit 1249 die Zisterzienser verwaltet haben, wurde gleichfalls 1810 säkularisiert. Die Weltgeistlichen von Wartha übernahmen jeweils das Gnadenbild in ihre Obhut, bis im Jahre 1900 die Redemptoristen die Betreuung der Gnadenstätte übernehmen konnten. Auch sie wurden aus ihrer so schönen Heimat vertrieben.

Maria Schnee

auf dem „Spitzen Berge“ war eine in verträumter Landschaft gelegene Gnadenstätte des Glatzer Berglandes, jenem Ländchen, dessen Hügel und Täler von lieblichen Städten und Dörfern, wie von Juwelen erfüllt waren. Wer diese Gegend besucht hat, der hastete nicht, sondern verweilte gern in der anmutigen Landschaft. Angelehnt an beachtliche Höhenzüge, erhebt sich als Berglehne der Spitzberg, der in das Tal vorgeschoben ist. Er gestattet daher einen einmaligen Rundblick über das weite Tal, wobei zu erwähnen war, ob man der Sommer- oder Winterlandschaft den Vorzug geben sollte. Der Name „Maria Schnee“ hat wohl eine besondere Berechtigung gehabt; denn wer wohl die Gnadenstätte mit der malerisch gelegenen Kirche inmitten von bewaldeten Höhen im Schnee genießen konnte, hat etwas Schöneres wohl selten erlebt. Die Wallfahrtskirche behütet ein altes Gnadenbild, das im Jahr 1750 von Maria Zell, dem berühmten Wallfahrtsort in der Steiermark, von einem Marienverehrer nach Schlesien getragen worden ist. Man baute zunächst für dieses Gnadenbild eine hölzerne Kapelle, bis schließlich 1782 die schmucke Kirche erbaut werden konnte. Vor dem Gnadenaltar knieten oft die Beter aus ganz Schlesien. Während in den anderen Wallfahrtsorten meist große Prozessionen eintrafen, blieb „Maria Schnee“ vornehmlich kleineren Gruppen vorbehalten, die hier in der Stille der Abgeschiedenheit die innere Sammlung zu Gebet und Besinnung fanden und gleichzeitig den herrlichen weiten Ausblick in die Glatzer Landschaft genießen konnten.

Die Wallfahrtskirche „Maria Schnee“
Foto: Krafft

Die Besucher von „Maria Schnee“ empfanden rasch die Ströme von Kraft und Tröstungen, die hier ausgingen, wenn sich sein geplagtes Menschenherz vertrauend in Gottes Hand begeben und sich der Madonna im gläubigem Vertrauen genähert hat.

Albendorf,

das „Jerusalem des Glatzer Landes“, kann im Rahmen unserer Betrachtung nicht Übergängen werden. Im Lexikon von Herder ist zu lesen, daß Albendorf „wegen seiner vielen biblischen Stellen und Namen das Jerusalem des Glatzer Landes“ genannt wurde. Zwölf Tore führten in den Ort hinein, welchen der Bergbach Kidron durchströmt. Das Seltsamste aber ist der Kalvarienberg, den der Ritter Daniel von Asterberger, ehedem Besitzer von Albendorf, herstellen ließ. Die Sage berichtet, daß Albendorf schon 1218 genannt wird. Die Geschichte des Gnadenorts wird seit 1695 lückenlos geführt. In diesem Jahre wurde der Grundstein zu einer der schönsten Barockkirchen gelegt, die zu einer berühmten Wallfahrtsstätte der kommenden Jahrhunderte werden sollte.

Sinnvoll schreibt der Volksschriftsteller Josef Wittig, der gleichfalls aus der Glatzer Heimat vertrieben wurde und 1949 in Göhrde bei Lüneburg verstorben ist, über die segnende Kraft der schlesischen Gnadenorte, wenn er sagt; „Wer nicht den feinen, kaum merkbaren und doch das Antlitz verklärenden Schimmer gläubigen Schauens im Auge hat, der dürfte nicht hinein; der Schimmer des staunenden vertrauenden, alles verstehenden, alles liebenden Glaubens muß im Auge sein.“

Deutsch-Piekar

ist ein Heiligtum im oberschlesischen Industriegebiet, das unweit von Beuthen gelegen ist. Zuwanderer, die aus dem deutschen Westen kamen, werden bereits 1277 genannt. Der Ort hieß damals Peckar. Das hier aufbewahrte Madonnenbild in der ersten Kirche, die aus Fichtenholz erbaut wurde, war auf Lindenholz gemalt und übte seit jeher, wie urkundlich bekundet wird, auf den Beschauer eine starke Wirkung aus. Man liest von wunderbaren Heiligungen, die in Piekar geschahen. In einer Akte vom Jahre 1676 ist folgende Begebenheit aufgezeichnet: In der unweit gelegenen Stadt Tarnowitz, dem Sitz der ersten Bergschule Deutschlands, war eine furchtbare Seuche ausgebrochen, welche in kurzer Zeit zahllose Bewohner dahinraffte. In dem großen Jammer machten sich alle Bewohner der Stadt auf, um bei der Helferin der Christen in Piekar Rettung zu erbitten. Das fromme Flehen blieb nicht ungehört; die Seuche wich rasch, und viele Dankopfer kündeten Marias Lob. Der Chronist berichtet uns weiter u. a., daß Kaiser Leopold I. das Madonnenbild 1680 von Piekar nach Prag holen ließ, woselbst die Pest wütete. Es wurde zunächst im Jesuitenkolleg von St. Clement ausgestellt. Da der Andrang von Betern so außerordentlich war, wurde das Heiligenbild in die St.-Salvator-Kirche überführt. Der Chronist berichtet weiter: Als sich der Kaiser, seine Gemahlin, der ganze Hofstaat und sehr viel Volk am 15. März 1680 vor dem Gnadenbild zum flehentlichen Gebet versammelt hatten, wich plötzlich die Pest aus der Stadt. Die Wirkung dieses wunderbaren Geschehens war gewaltig. Die kaiserliche Familie und die Fürsten des Landes haben das Gnadenbild mit Gold und Edelsteinen reich behangen. So geschmückt, kam es nach Piekar zurück. Da bedrohte 1683 der Türkenführer Kara Mustapha Schlesien und die Christenheit des Abendlandes. Der Polenkönig Johann Sobieski zog mit seinem Heer durch Schlesien gen Wien und flehte vorher in Piekar die Hilfe der Mutter-Gottes herbei. Die Türkengefahr wurde zerschlagen.

Seit dem Jahre 1842 behütet die neue stattliche Kirche das Gnadenbild. Auch König Friedrich Wilhelm IV. stattete dem Gnadenort Piekar einen Besuch ab. Wenn wir dieses kurze Verweilen nur einigen Gnadenstätten Schlesiens gewidmet haben, so sagt uns der Heimaterzähler Josef Pucher, wie es tatsächlich dort war: „Was wäre Schlesien ohne die vielen Wallfahrtsorte? Sie sind eine unentrinnbare Bindung an das Einst; sie wirken aus der Vergangenheit in die Gegenwart; sie tragen die frommen Herzen zum Begreifen vom Sinn und Wesen unseres Daseins. Ja, das gibt es, wie nirgendwo, nur in Schlesien. Eine Gnadenstätte grüßt die andere.“

Auf dem 410 m hohen St. Annaberge stehen die Gnadenkirche und das Franziskanerkloster

Und dennoch verloren wir alles? — Mit dem Besuch der eben genannten Gnadenstätten haben wir gesehen, daß die Geschichte dieser Kulturzentren meist 700 und mehr Jahre zurückliegt. Die Steine dieser Kirchen und Klöster sprechen gleichzeitig die deutsche Geschichte dieses Landes. Und dennoch . . . ? Wir können nur still ergeben eine Antwort finden, wenn wir mit dem Scher Jos. v. Eichendorff sprechen:

Die Sterne, die durch alle Zeiten tragen,
ihr wollt sie mit frecher Hand zerschlagen
und jeder leuchten mit dem eigenen Lichte.
Doch unaufhaltsam rollen die Gewichte,
von seihst die Glocken von den Türmen schlagen.
Der alte Zeiger, ohne euch zu fragen,
weist fordernd auf die Stunde der Gerichte.