Ein Held, ein richtiger Held aus Remagen

Remagener Originale

Seltsame Heilige sind sie allesamt gewesen, komische Typen, jeder für sich nach Art und Erscheinung wunderlich geprägt. Und Namen waren ihnen verpasst worden, deren Herkunft und Bedeutung bereits zu ihren Lebzeiten kaum mehr auszuloten gewesen sind. Heute kann man sie sich allenfalls noch vom Hörensagen her in dämmernde Erinnerung rufen. Oder wem mögen „Familien-Spitznamen“ wie Jondesse, Blaubart und Mimiche, – wie Schnatzer oder Läbberich noch etwas zu sagen haben?

Und dennoch waren der „Mahlde“ und „Locherbär“, der „Hille Wellem“, Stübbs Juhann“ und auch der Karl Neumann Mitmenschen, die einmal am Rheinufer in Remagen ihr Pfeifchen schmauchten, die Neipen- oder Frongasse hochstelzten und an der neuesten Errungenschaft, dem Bahnhofsgebäude miteinander palavert haben.

Heutzutage scheint es Sonderlinge solchen Schlages überhaupt nicht mehr zu geben – oder doch?

In einer Art rheinischer Schwejkiade soll nachfolgend vom Wirken des „braven Soldaten Neumann“ berichtet werden.

Ein Original aus Remagen: Wilhelm Hillen „Hille Wellem“ aus der Milchgasse

Karl Neumann

„uns ist in alten maeren wunders vil geseit
von helden lobebaeren von groszer arebeit“

Man muss nicht mehr als 800 Jahre rückwärts schauen, um einen – nach eigenem Bekunden – wirklichen Held aufzuspüren. In unserem Städtchen am Rhein lebte er bis weit nach Ende des Zweiten Weltkrieges und seine stets mit tiefem Ernst und unzweifelhafter Wahrheitsliebe vorgetragenen Taten und Abenteuer sind mündlich überliefert und unvergessen.

„Arbeits-Verhältnisse“

Heutzutage findet man in aller Regel im Angebot einer Bäk­kerei neben den Backwaren u.a. auch Geldbörsen, künstlerisch gestaltete Wandteller, Bettbezüge und Mini-Radios, Pulswärmer und Messgeräte für diesen, kleine Fußbadewannen u.ä., also alles das, was der eingerichtete Bäckermeister so aus dem Backofen herauszuholen weiß. Das war früher keineswegs so. In der Bachstraße, nahe dem gleichnamigen Standort des nördlichen Stadt­tores von ehedem, der „Baachportz“, führte ab den frühen zwanziger Jahren eine ehrsame Jungfer die kleine Bäcker- und Konditorei, in deren Regalen sich ausschließlich Brot, Brötchen und gebackene Süßigkeiten präsentierten. Christine hieß die Dame, et „Birlos Tinche“, stets freundlich und zuvorkommend, bis auf gewisse schlechte Tage, – die auch jeden von uns zuweilen heimsuchen. Dann allerdings war das ältliche Fräulein – man darf das nicht verschweigen – arg herb, geradezu spitzig und mit dem versehen, was man gemeinhin als „Haare auf den Zähnen“ zu bezeichnen pflegt.

Die Backstube selbst blieb dunkel, außer Betrieb, verwaist. Die Waren wurden nämlich von Neuenahr geliefert, d.h. dorten mehrmals täglich abgeholt, auf dass die Wannen und Körbe, Regale und Thekenaufbauten immer frisches Zeug im Angebot enthielten. Zu dem Transfer, Neuenahr – Remagen und leer zurück, beschäftigte das Tinchen einen Junggesellen mit Schnauzbart, auch er nicht mehr ganz frisch, dessen genaue Dienstbezeichnung, Rechte und Pflichten im Laden sich niemals haben einwandfrei aufklären lassen. Dieser Angestellte hieß Karl Neumann und er war, wie schon der Name sagt, kein Hiesiger, „en Imi“ also, ein Zugereister, um Anerkennung der Einbürgerung bemühter und um der Chefin Gunst dienender Fremdling.

Er genoss bald in nahezu allen städtischen Kneipen beträchtliches Ansehen und stand kurz vor der uneingeschränkten Aufnahme in die Remagener Bürgerschaft. Dieser Neumann fronte also im Wortsinn. Er fuhr jeden Tag, – nein:jeden Werktag, einige Male mit leeren Henkelkörben, kleineren Rucksäcken, auch mit einer auf der Schulter zu tragenden „Mang“, (d.i. ein länglicher Weidenkorb größeren Ausmaßes) nach Bad Neuenahr und holte dort Fourage. Der Teufel weiß, was genau im Einzelnen er da alles schleppte, wenn er, beladen wie ein Lasttier, die Bahnsteigtreppe von Gleis 4/5 „eraf“ und die zum Bahnsteig 1 „erop“, sowie alsdann in Richtung Baachportz lief. Zuweilen war er bereits so erschöpft, dass er wankte und schwankte oder torkelte.

Genau dies war dann regelmäßig Veranlassung und Grund für die keusche Jungfrau Christine ihre spitze Zunge – behaart oder auch nicht – laufen zu lassen wie eine Spieluhr. Es kann hier vernachlässigt werden, warum die unberührte Alt-Meisterin jetzt besonders übellaunig und boshaft gewesen ist. Vermutet werden darf allerdings, dass einer der Gründe hierfür der vorgenannte biologische Status sein könnte. Von Medizinern ist des öfteren schon behauptet worden, dass solche Personen innerlich irgendwie gegerbt seien! Sicher scheint indessen, dass der Karl einer intimen Beziehung zur Chefin stets geschickt hat ausweichen können.

Insofern bedeuteten ihm die nunmehr schon recht groben Attacken und endlich auch Beschimpfungen wie „Ahler Saufsack“ oder „Versoffsky“ und dergleichen nur wenig, kümmerten ihn eigentlich überhaupt nicht. In aller Regel machte er in solchen Fällen unter Mitnahme der aufgebürdeten Lasten eine glatte Kehrtwendung und verschwand stante pede in die unmittelbar benachbarte Rats­schenke des legendären Martin Clemens, wo immer mal wieder seine Berichte von den ihm wiederfahrenen Abenteuern und deren heldenhaftes Bestehen ihren Anfang nahmen. Soweit die Vorgeschichte.

Heldentaten

Ein bewegtes Leben hatte der Immigrant schon hinter sich. In den Irrungen und Wirrungen seiner Jungmännerzeit nahmen die Wende ins 20. Jahrhundert, und hier insbesondere die Jahre 1898 bis 1901/02 eine herausragende Stellung ein, bei deren erregter Wiedergabe der Neumann mit gerötetem Antlitz oft zu zittern begann. Was ihn hier fast zu Tränen rührte, muss gewissermaßen als Rahmen kurz aufgezeichnet werden. Es waren die Boxer und der Boxeraufstand. Bei den Aufständischen handelte es sich um einen Chinesischen Geheimbund, der sich um 1900 an die Spitze einer gegen Christen und Europäer gerichteten großen Militäraktion setzte. Diese versuchten die europäischen Mächte durch militärisches Eingreifen zu zerschlagen.

Karl Neumann, das ist gesichert, nahm an dem Feldzug des internationalen Expeditionskorps unter dem Grafen Waldersee teil, in dessen Verlauf der sogenannte Boxeraufstand blutig niedergeschlagen worden ist. Dass es dabei wild zuging, ist in jedem Geschichtsbuch nachzulesen. Die Besonderheit der hierbei von unserem Freund geschilderten persönlichen Heldentaten scheint freilich in den Abfalleimer der Geschichte gefallen zu sein. Näheres über sie ist bislang nicht zu eruieren gewesen.

Der letzte Rheinschiffer von Remagen: „De Ühm Blaubart“

Sei es drum, der tapfere Soldat K. N. war, seinem erlernten Beruf entsprechend, der Feldbäckerei zugeteilt. Deren ruhmreiche Devise, unübersehbar auf die Trainfahrzeuge aufgemalt lautete: „Sieg oder Tod, – wir fahren das Brot“.

Bei der Erwähnung solch bewegend-anfeuernder Losung wurde des Erzählers Stimme schrill, was verständlich ist.

Was nun folgt, ist allerdings mehr als bemerkenswert: Der Verfasser, der die Kunde mehr als ein Dutzendmal aus dem Heldenmund selbst vernommen hat, musste sie für wahr halten. Wäre dem nicht so, gehörte sie in den Bereich der Fabel!

Der Höhepunkt der Schlächterei im Fernen Osten schlechthin war, – nach Kämpfer Neumanns Erklärung – der Tag, an dem der Kaiser von China von ihm, dem Remagener Helden aus höchster Todesnot eigenarmig gerettet wurde, d.h. er schleppte die ohnmächtig gewordene Hohe Majestät – ähnlich wie jetzt Brotkörbe und Säcke – auf seinen Armen aus der Schlachtenzone heraus in rettende Sicherheit.

Das muss nun geglaubt werden. Einzelheiten sollen hier ausgespart bleiben. Zum Beweis sozusagen ließ K. N. an-schließend ein niemals preisgegebenes Geheimnis verlauten: Er sei später für seine Tat fürstlich mit Gold und einem Seesack voll Pretiosen belohnt worden. Nebenbei bemerkt, Tinchen hat jahrzehntelang in allen Nischen und Ecken, auf dem Boden und im Keller, – insbesondere beim Hausputz, – sowie in Kisten und Kasten emsig und ausdauernd, aber vergeblich danach gesucht.

Sollte diese letzte Anekdote der Wahrheitsfindung gedient haben, so wird dies durch den Fortgang der Berichtserstellung erneut auf harte Probe gestellt. Neumann fuhr nämlich, die logische Chronologie völlig außer acht lassend, unmittelbar fort. Als Überleitung in das dramatische Finale folgte zunächst die Schilderung fernöstlich-erotischer Abenteuer: „Ihr habt ja keine Ahnung, Freunde“, so rief er aus. „Ihr könnt Euch ja nicht vorstellen, wie im Reich der Mitte die Weiber aussehen, wenn sie nackisch sind…“

Und dann der ganz große Auftritt, völlig jugendfrei, aber erschütternd: „Ich lag schließlich mutterseelenallein am Eingang der Schlucht (in den gelben Bergen, Anmerkung d. Verf.), in der unser gesamter Proviant gestapelt war und verteidigte Hab und Gut und mich selbst gegen 100fache Übermacht, ich darf sagen: Fast verzweifelt, aber todesmutig!Und als der letzte MG-Gurt leer, die letzte Patrone verschossen war, floh ich in die Schlucht hinein, in der Hoffnung, dort einen Ausgang zu finden. – Vergebens, den gab es nicht. – Und dann fielen sie über mich her, haufenweise – und so fingen sie mich ein … ja –, ja…“

Er versank in Schweigen. Jedermann kannte nun den Ausgang der Geschichte. Jedermann schwieg mit. Schließlich der obligate Zwischenruf in Remagener Platt:„On dann?Wat hann se dann met de jemaach?“

„Dann“, sagte der tapfere Soldat, und dies mit tieftraurigem Ernst, „dann haben sie mich, bei Gott, – dann haben sie mich umgebracht…“.

Keine weiteren Fragen. Man nahm es hin.

Einmal allerdings setzte Karl N. noch eins drauf. Er betrauerte den Fortgang des Geschehens nach seinem Tode und sagte leise: „Danach haben sie mich verbrannt. Die Urne mit meiner Asche hat lange bei meinem Vater auf dem Vertiko gestanden; und immer mit ein paar Blümchen geschmückt. Erst in den Bombennächten 1943/44 ist dann alles in den Eimer gegangen…“

Falls es eines Abschlusses noch bedürfen sollte, so sei auch der Sinnspruch festgehalten, mit dem sich K. N. in die Remagener Stadtgeschichte eingeschrieben hat. Eines Nachts nämlich, es war sternenklar und der gerundete Mond sah auf die Baachportz herab und geradewegs in die Bachstraße hinein, als der Karl aus der Ratsschenke heraus-torkelte. Die riesige sanft-gelbe Scheibe am Himmel war nicht zu übersehen und der weinselige Heimkehrer richtete an sie – stockend und immer wieder nach dem Vers suchend – eine Ansprache und sagte „Guter Mond, wenn ich dich seh/bedenk ich meine Plage;/du bis im Jahr nur zwölf mol voll/on ech fass alle Dage.“

Irgendwie muss ihm der „gute Mond“ die Melodie des bekannten Liedes zugeflüstert haben, den K. N. intonierte sie und schrie schließlich in die Nacht: „Ge-he-st soo stil-le…“, worauf sich das Fenster der Dachluke bei Hallerbachs öffnete und et Kättche erbost über die Störung mit ähnlicher Lautstärke meinte: „Jo, jo ahn demm kannste de emol e Beispill nemme!“