Ein Feldpostbrief aus Orel
Ein Feldpostbrief aus Orel
P. Dr. Emmanuel v. Severus OSB
Im Sommer des Jahres 1857 weilte in Sinzig am Rhein der russische Dichter Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883) wegen seiner Rückenbeschwerden zur Kur. Über seinen Aufenthalt und seine Eindrücke im damaligen mittelrheinischen Kurort hat Karl Deres im Heimatjahrbuch des Kreises 1990 (S. 76f.) berichtet. Der Name Turgenjew, von dessen Werken eine deutsche Gesamtausgabe sich gegenwärtig in Vorbereitung befindet, hat freilich in mir Erinnerungen ganz anderer Art wachgerufen. Lag das Landgut derFamilie Turgenjew doch in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt Orel. Im dortigen Stadthaus der Familie Turgenjew hatte die von der deutschen Wehrmacht eingesetzte Stadtverwaltung das schon früher dort bestehende, von den Sowjets jedoch geschlossene Turgenjew-Museum wiedereröffnet. Sie war auch sonst bemüht, das Leben in der Stadt zu normalisieren, war die Stadt ja 1941 fast kampflos in die Hände der Wehrmacht gefallen. Zur Normalisierung gehörte auch die Freiheit der orthodoxen Kirche, wieder Gottesdienst zu feiern. Einen solchen besuchte ich, als ich Ende 1942 als Melder von Brijansk nach Orel geschickt wurde, und berichtete darüber in einem Brief an Abt lldefons Herwegen (Abt von Maria Laach 1913-1946). Ihn holte ich hervor, als Karl Deres‘ Bericht mich an Turgenjew und Orel erinnerte. Ich gebe diesen Brief wörtlich wieder, nur einige Fachausdrücke des klösterlichen Jargons sind gestrichen. Einen Besuch des Turgenjew-Museums hatte ich mirfür Januar 1943 vorgenommen, als ich für 6 Wochen nach Orel abkommandiert wurde. Aber dazu kam es nicht. Das Museum hatte für den Winter geschlossen, und „die Lage“ hatte sich infolge der Abwehrkämpfe östlich Orel und im berüchtigten Bogen von Kursk grundlegend verändert. Das Leben in Orel war bei weitem nicht mehr so „friedlich“ wie im Sommer 1942. Der Gottesdienst, den ich im Sommer 1942, von Brijansk kommend, in Orel erlebte, war „an einer Stelle Sonne“ inmitten einer sehr dunklen Kriegslandschaft.
Der Briefschreiber, P. Emmanuel v. Severus, als „Krankenkrieger“, Herbst 1942.
Im Osten, 27.8.42 „… hochwürdigster Vater!
Wie Ihnen P. Victor schon schrieb, war ich in diesen Tagen als Melder in der Okastadt, und ich benutze die Freiwache gern, um Ihnen ein wenig von meinen interessanten Erlebnissen dort zu erzählen. Die Fahrt war mir eine Freude und Entspannung – die letzten Tage waren für uns so anstrengend, daß wir kaum irgend eines Gedankens mehr fähig, todmüde unsere knappen Stunden Schlaf suchten, um ein Minimum an Kräften zu bewahren. Nun konnte ich mehrere Stunden durch schönes Land fahren, nach so vielen Wochen Wald, Sumpf und Sand wieder fruchtbare Erde sehen. Dann kam ein wenigstens relativ gutes Ausschlafen (die Bomben schlugen „bloß“ ins Nachbargebäude) beim Meldekopf, und am nächsten Morgen eilte ich dann sofort zu der kleinen Kirche am Okafluß, die P. Victor mir genannt hatte. Sie war mit Leuten so überfüllt, daß ich nur von der Seite eintreten konnte und mich dann sofort einer kleinen Ikonostase gegenüber befand, an die sich links die Hauptikonostase unter der Kuppel anschloß. Die rechte Türe dieser großen Ikonostase war geöffnet, außer einem Diakon in blauen Gewändern stand einer in Goldbrokat gekleidet vor der Ikonostase und trug mit gleichmäßiger gedämpfter Stimme einen Text vor. Der mittlere Teil der Ikonostase war hinter den heiligen Bildern mit Glas ausgefüllt, das aber nur einen sehr dürftigen Durchblick zum Altarraum gestattete. Ich konnte nichts erkennen und war zunächst auch ganz von der Menge der Gläubigen gefangen, die offenbar weniger dem Diakon zuhörte, als sich dauernd verneigte und das Kreuz schlug. Dies alles geschah in größter Stille und mit einer Inbrunst, die mich tief ergriff, so daß ich zunächst kaum wagte mich umzusehen. Plötzlich erhob sich nun hinter mit ein wunderbarer Gesang. Eine Frauenstimme sang Im Sopran in edler Reinheit einen cantus firmus, der von dem übrigen Chor mit leisen Summen begleitet wurde, während dann 8stimmig das Fiesponsorium ertönte. Der Gesang griff eigenartig ans Herz – die wunderbaren russischen Bässe orgelten abgrundtief und bildeten das Fundament für das strahlende Getöne der Sopran- und Altstimmen. Ein alter zitternder Pan in blütenweißem, blaugesticktem Hemd dirigierte das Ganze. Der Diakon war unterdessen hinter die Ikonostase zurückgegangen, von dort ertönte dann auch Gesang, nur Männerstimmen, offenbar der Klerus – bald darauf wurde die Ikonostase geschlossen, aber der mittlere Teil wurde durch einen Purpurvorhang bedeckt. Nun gab es eine eigenartige Bewegung. In einer Art Prozession begaben sich die Gläubigen zu den heiligen Bildern der kleinen und großen Wand, um sie in ehrfürchtigster Weise durch das Zeichen des heiligen Kreuzes, Kuß und Proskyne-sezu verehren. Ich sah nun, daß vor der kleinen Ikonostase prächtige Ikonen standen, deren Vorhänge und Lampen allerdings vom übelsten Papierblumenkitsch waren. Auch lag dort auf tuchumhülltem Tisch ein großer Codex mit metallgetriebenem und emailgeschmücktem Einband. Die Ikonen der Hauptwand waren dagegen modern und sehr schlecht, sie waren wie die Fresken der barock anmutenden Kuppel von einem renaissancehaften Charakter und ganz und gar westlich-italienisch empfunden.
Ich hatte inzwischen immer in meiner Seele einen Kampf auszufechten: Sollte ich jemanden fragen, ob man etwas „besichtigen“ könnte?
Würde ich damit Ärgernis erregen? In Erinnerung an Szenen bei Dostojewski] fragte ich schließlich einen Herrn in blau-weiß-gestreiftem Hemd und Brille,‘ der sich nicht an der Verehrung der Bilder beteiligte: „Ist es erlaubt, hinter die heilige Bilderwand zu treten?“ Er sagte: „Für Männer ja, für Frauen nicht.“ Ich wartete zunächst ab, weil ich mir den liturgischen Vorgang nicht erklären konnte.‘ Plötzlich sah ich, wie tatsächlich ein Mann durch die rechte Türe der Ikonostase ging. Ich wandte mich wieder an meinen Herrn und bat ihn, mich gleichfalls dorthin zu führen – aber nun gab es sprachliche Schwierigkeiten, die aber dann durch eine alte Dame überbrückt wurden. Freilich hieß es da auch: „Wer sind Sie?“ – „Ein katholischer Mönch und Priester aus Deutschland. “ – „Das ist nicht möglich – ein Mönch kann nicht Soldat sein.“ – „Doch, ich stehe im Sanitätsdienst. “ – Soweit war mein Mann nun beruhigt, er ging mir voraus durch die heilige Bilderwand, wir traten ein,ich verneigte mich tief und machte das Kreuz, dann legte ich meine Warfen ab. Vor mir war nun dieses Bild: auf buntem, schönen Teppich stand der purpurumhüllte heilige Altar, auf dessen Rückseite gleichfalls metallglänzende Ikonen standen, überragt von einem griechischen Kreuze ohne Corpus. Um den Altar, zu dessen rechter Seite auf kleinerem Tisch ein heiliges Buch lag, standen, in wunderbaren Goldbrokat gekleidet, etwa sechs Presbyter, ehrwürdigste Gestalten, offenbar conce-lebrantes, daneben noch etwa acht Diakone, ebenso prächtig gekleidet. Von diese kam sofort einer auf mich zu, und nach einigem Geflüster führte er mich zu einem ikonengeschmückten, an der Seite aufgestellten Tisch, auf dem in seidenbedeckten Metallschüsseln Ketten aus Eisen, Pektoralien und Rosenkränze und ähnliche Gegenstände lagen. Er bedeutete mir, dort stehen zu bleiben. Die Presbyter waren fast alle in einer versenkten Haltung, nur der Celebrans bereitete in einem großen emailgeschmückten Kelch die heilige Euchahstie, die er dann den Diakonen reichte. Schon bei meinem Eintritt hinter der Ikonostase war mir links neben der Tür ein Lehnstuhl aufgefallen, vor dem wie leblos erstarrt, in vollkommenes Schwarz gehüllt, eine ehrwürdige Frauengestalt stand, um die Hände eine Gebetsschnur geschlungen. Ein Diakon holte sie nun mit einer sehr ehrfurchtsvollen Verneigung ab und führte sie bis
zu etwa drei Schritten Entfernung vor den Altar, wo ihr gleich falls die heilige Eucharistie gereicht wurde. Danach trat nun so etwas wie eine „Pause“ ein. Während der Celebrans mit der Eucharistie am Altare blieb und mit Hilfe des Diakons weiter Brot zerteilte und in den Kelch warf, kamen die übrigen auf mich zu. Wieder wurde ich nach meiner Person befragt, nach meinem Orden, nach der Stadt, bei welcher mein Kloster gelegen sei, denn ich hatte, um allen Zweifeln zu begegnen, ein Foto von mir im Habitus und eine Ansicht von Laach gezeigt. Alle Zweifel schienen nun behoben, alle außer den am Altar Tätigen kamen, um mir unter Verneigung die Hand zu geben. Die meisten setzten sich nun mit einer an Italien (und P. Prior Albert)erinnernden Zwanglosigkeit auf Stühle oder gingen auf und ab, ein Presbyter blieb bei mir und erklärte mir mit Hilfe meines Laienfüh-rers, daß heute das Fest des heiligen Tychon sei. Dieser sei Erzbischof in der Nähe von Woronesch gewesen und ein Märtyrer der russischen Glaubenskämpfe – auf dem Tische neben uns stehen sein Reliquien. In der Kirche lägen seine Gebeine, von den Sowjets ins Stadtmuseum in den Saal für antireligiöse Propaganda gebracht, von der neuen Stadtverwaltung wieder zurückgegeben. Heute könne man zum ersten Male wieder sein Fest feiern. Jene Frau sei eine Nonne, welche die Verfolgung überstanden habe und nun bei ihrer Familie in der Stadt lebe, jedoch den ganzen Tag in der Kirche zubrächte. Als Nonne dürfe sie den Altarraum betreten und die Eucharistie nach dem Klerus empfangen. Die beiden Ikonostasen seien Provisorien, stammten wie die Paramente usw. z. T. aus antireligiösen Museen, die kostbareren Stükke seien jedoch alle versteckt gewesen. Ebenso hätten die Presbyter und Diakone im Verborgenen gelebt, auf dem Büro und auf Arbeitsstellen, meist unter irgendeiner deshalb ersonnenen Angabe bei den Parteistellen selbst, weil das der einzige Ort gewesen sei, wo man wenigstens zu 10% sicher gewesen sei, und weil die Parteiführer am leichtesten die Gesetze umgehen konnten.
Mein Führer war ein Arzt, 68 Jahre alt, hatte 1892 Abitur gemacht, aber sein Deutsch und Französisch fast ganz vergessen. Unterdessen tönten aus der Kirche wieder herrliche Gesänge, ein Diakon trug allein eine Lesung vor, dann wurde die Ikonostase in der Mitte geöffnet, und während man das „das Heilige den Heiligen“ sang, brachten die drei Presbyter und ein Diakon die heilige Eucharistie hinaus, um sie dem Volke auszuteilen. Die Schar der Kommunikanten war sehr groß, allerdings keiner der anwesenden wenigen Männer, auffallend viele Mütter, deren Kleinkindern auf dem Arme die Eucharistie gegeben wurde. Über allem, dem Klerus und dem Volke, lag ein Ergreifendes, Österliches, Freudiges und doch noch unbeholfen Zögerndes – es war in allem wie bei einem Kranken, der die ersten Schritte der Genesung unternimmt, dem Wanderer, der nach langem Dunkel ins Helle tritt – überall die Spuren eines unermeßlichen überstandenen Leids, verklärt von der neuen, noch nicht recht erfaßten Gegenwart. Nun mußte ich gehen. Wieder machte ich meine Profunda, die tiefe Verneigung, und stammelte mein „spassiwa“. „Swidanja“, sagten die Alten freundlich, „swidanja – auf Wiedersehen, Väterchen, kommen Sie wieder in unsere Stadt!“ Auch ich stammelte etwas, als ich wieder auf die Straße trat, auf der gerade ein Bataillon Infanterie frontwärts marschierte und über der Stukas zum Einsatz brausten.
Das war die andere Welt, und als ich mich am anderen Morgen wieder bei unserer leidvollen Arbeit war, dachte ich mir inmitten der duldenden und blutenden Kameraden, daß wohl nur in einem Volke von so großer Leidens fähigkeit wie dem russischen ein solches Schicksal zur Läuterung führen könne. Ob auch uns dies gegeben sein wird?
Für heute muß ich schließen, hochwürdigster Vater, nicht ohne für Ihre lieben Zeilen vom 14. und 22. 8. herzlich zu danken. Gerne will ich ihre Mahnung, mit meinen geringen Kräften hauszuhalten, befolgen. Aber angesichts dessen, was uns umgibt, kann man, glaube ich, nur helfen, wenn man gern und freudig alles gibt, was man hat. Esistsoviel, was wir an Furchtbarem sehen und das uns ganz fordert.
Mit der Bitte um Ihren väterlichen Segen bleibe ich Ihr treuer in XPO filius Emmanuel.