Ein ehemaliger Schüler erinnert sich an den 1. September 1939
Zur Vorgeschichte
Die Volksschule in Müllenbach, die ich 1939 als 12-jähriger Schüler besuchte, war für die damalige Zeit eine der fortschrittlichsten Schulen im Kreis Ahrweiler. Ausgestattet mit den modernsten Lehrmitteln wie Filmvorführgerät, Rundfunkempfänger und mit stets aktuellen Wandkarten galt sie im weiten Umkreis als vorbildlich. In der Schule befanden sich zwei Klassenräume, in denen jeweils mehrere Schuljahrgänge untergebracht waren. Unser Klassenlehrer unterrichtete das 5. bis 8. Schuljahr in allen Fächern, wobei ihm besonders der Geschichtsunterricht am Herzen lag.
Von einem baldigen Krieg ausgehend, der nach seiner Meinung zwingend erforderlich war, unterrichtete uns der Lehrer im Frühsommer 1939 mit Schilderungen über polnische Überfälle auf deutsche Zollstationen und schlesische Einwohner im deutsch-polnischen Grenzgebiet.
In Wahrheit – diese Tatsache sollte ich erst einige Monate später erfahren – wurden die erwähnten Überfälle jedoch von deutscher Seite vorgetäuscht. Die Sondereinsätze wurden von polnisch sprechenden und in polnische Uniformen gekleideten SS-Angehörigen durchgeführt, um die von den deutschen Machthabern erwünschte kriegerische Auseinandersetzung zu begründen.
Einquartierung: Soldaten vor dem Sport-Hotel am Nürburgring
Ein mir naher Verwandter, der bereits im Juni 1939 als aktiv dienender Soldat mit seiner Panzer-Division an die polnische Grenze verlegt wurde, wußte von diesen Täuschungsmanövern. Während eines Heimaturlaubes kurz nach Kriegsbeginn erzählte er meinen Eltern von den Grenz-zwischenfällen und dem drohenden Krieg, der hierdurch provoziert werden sollte.
Bereitstellung des Ersatzheeres
Ab dem Frühjahr 1939 verschickte das Kreiswehrersatzamt Erfassungsformulare an ehemalige Kriegsteilnehmer des l. Weltkrieges. Davon betroffen waren die Geburtsjahrgänge 1892 bis 1900. die einen Bereitstellungsbefehl erhielten und sich im Falle einer Mobilmachung in den vorgegebenen Kasernen oder Truppenunterkünften einzufinden hatten. Auf uns Schüler machte das Geschehen an der polnischen Grenze großen Eindruck und neugierig verfolgten wir im Geschichtsunterricht die neuesten Meldungen vom Tage. Besonders interessant fanden wir die vielen militärischen Manöver, welche während des Sommers rund um unseren Heimatort Müllenbach stattfanden.
Im Spätsommer des Jahres 1939 wurde für die im aktiven Wehrdienst stehenden Männer eine allgemeine Lirlaubssperre verhängt. Alles deutete auf einen unvermeidlichen und nahen Kriegsbeginn hin. Die sich abzeichnende Entwicklung wurde am 1. September 1939 zur Wahrheit: noch in der Nacht wurde die Mobilmachung verkündet.
Etwa ein Dutzend Männer des Dorfes erhielten durch Postboten den Gestellungsbefehl. In diesem Schreiben wurden die Betroffenen aufgefordert, sich innerhalb von wenigen Stunden in den entsprechenden Standorten einzufinden. Auch unsere Familie war von der Mobilmachung betroffen. Mein Vater wurde zu einer Sanitätsstaffel nach Bad Kreuz-nach einberufen. Am 1. September, bereits morgens um 6.00 Uhr, wurde mein Vater von der Mutter, meinen jüngeren Geschwistern und mir unter Tränen verabschiedet. Im Hof wartete bereits ein Mietwagen, weicher die Einberufenen zum Bahnhof nach Ade-nau bringen sollte. An diesem Tag wußte meine Mutter nicht wie es weitergehen sollte, denn neben dem Haushalt war nun auch das Vieh im Stall zu versorgen und im Herbst stand schwere Feldarbeit bevor. Ein Teil der Last wurde uns genommen, denn Verwandte und Nachbarn boten sich an. bei den anstehenden Erntearbeiten mitzuhelfen.
Der Beginn des Krieges
Nur wenige Haushalte im Dorf besaßen ein Radio und konnten sich somit glücklich schätzen, Informationen über die aktuelle Lage zu erhalten. Die Tageszeitung „Das Natio-naiblatt“ berichtete an diesem l. September 1939 noch nicht über den Ausbruch des Krieges, sondern lediglich von Schießereien polnischer Grenzkommandos in Gleiwitz. Neuigkeiten kamen daher nur spärlich in Umlauf. Kurz vor Schulbeginn um 8.00 Uhr stellten wir uns wie üblich in geordneter Formation auf dem Schulhof auf und warteten auf die Anweisung des Lehrers, in das Schulgebäude einzutreten. Der Lehrer, der sich im Vorraum der Schule aufhielt, ermähnte uns erregt und nervös zur Ruhe und verkündete noch bevor er uns in die Klassenräume eintreten ließ: „Endlich ist es nun soweit“.
In unserem Klassenzimmer stand der Volksempfänger bereits auf einem Tisch bereit. Am Kartenständer neben der Tafel hing auch schon die große Europakarte, an der uns der Lehrer die aktuelle geographische Lage anschaulich darstellen wollte.
Gespannt saßen wir in unseren Bänken und „flüsterten“ aufgeregt miteinander in einer Lautstärke, die selbst die Marschmusik aus dem Äther übertönte. Plötzlich wurde die Musik unterbrochen und es meldete sich der Großdeutsche Rundfunk aus Berlin. Ich erinnere mich noch deutlich an die Sondermeldung, die mit folgenden Worten begann: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“.
Der Rundfunk übertrug die Reichstagsrede Hitlers, in der er den Angriff auf Polen ohne vorherige Kriegserklärung begründete. Schon um 4.45 Uhr hatte ein Schiff von See her das Feuer auf polnische Befestigungsanlagen bei Danzig eröffnet.
An diesem Morgen fiel ein Teil des regulären Unterrichtes aus. Aufgeregt und neugierig zugleich hörten wir stattdessen den Nachrichten aus dem Radio zu. Der begeisterte Lehrer zeigte uns auf der Karte, an welchen Stellen die deutschen Truppen die polnische Grenze überschritten hatten.
In den folgenden Tagen und Wochen überschlugen sich die Ereignisse. Am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Wenige Tage später eröffnete die französische Armee einen begrenzten Angriff an der Saar, doch niemand glaubte an eine ernsthafte Gefahr. da der in den Jahren zuvor gebaute Westwall als unüberwindlich galt. Anfang September wurde auch unser Lehrer einberufen. Zum Teil wurde der Unterricht von der Lehrerin der unteren Klassen übernommen, ab und zu mußten die älteren Jahrgänge jedoch auch in die Schule des Nachbarortes Rothenbach ausweichen. Hier herrschten dann natürlich beengte Verhältnisse und nicht selten verbrachte man den Unterricht auf dem Fußboden sitzend.
Am 27. September kapitulierte die polnische Armee bedingungslos vor den deutschen Truppen. Doch der Krieg ging an anderer Stelle weiter und die an der Ostfront entbehrlichen deutschen Streitkräfte wurden in das Aufmarschgebiet gegen Frankreich, also in die Eifel, an die Saar und in die Pfalz verlegt.
Nachdem der Polenfeldzug beendet war, kamen Quartiermeister verschiedener Waffengattungen und beschlagnahmten Privatunterkünfte, Fahrzeuge und sonstige kriegsnotwendige Gegenstände. Da die vorhandenen Unterkünfte im Dorf nicht ausreichten, wurden von der „Organisation Todt“ eilends noch zwei große Holzbarackenlager aufgebaut. Den ersten Einquartierungen von Pioniereinheiten und ostpreußischer Kavallerie folgte dann im Winter 1939/40 eine Division Gebirgsjäger. Von Ahrweiler kommend wurden die Gebirgsjäger mit ihren „Mulies“, Tragtieren, Pferden und Geschützen nach Müllen-bach und Umgebung verlegt. Die bereits beschlagnahmten guten Stuben wurden von den Soldaten als Quartier genutzt und in den Stauungen und Scheunen waren die Tiere und die dazugehörende Heu- und Haferverpflegung untergebracht.
Schon nach kurzer Zeit entwickelte sich zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern ein freundschaftliches Verhältnis. Insbesondere die Schuljugend hatte einen nahezu kameradschaftlichen Kontakt zu den Gebirgssolda-ten und so erlebten wir den Krieg für einige Monate sogar von einer guten Seite. Nach Schulschluß führte unser Heimweg oft zu einer der Gulaschkanonen, wo für uns häufig ein Teller Suppe übrig geblieben war. Aus dem Kochgeschirr der Soldaten schmeckte es uns besser als zu Hause am Mittagstisch. Oftmals gab es viel zu lachen, wenn uns die „Kraxler“, wie die Gebirgsjäger auch genannt wurden, Glühwein aus der Feldküche anboten. Die Abende endeten häufig mit dem gemeinsamen Singen von Liedern über die Berge und das Edelweiß.
Aufgrund dieser Freundschaft bekamen wir vom Futtermeister oder Sattler der Kompanie Lederriemen vom Pferdegeschirr, die wir als Bindungen für unsere Skier benötigten. Die Skier hatte ein Schreiner des Dorfes angefertigt. Zur vollständigen Wintersportausrüstung fehlte uns nur noch die nötige Bekleidung. Hierzu waren die ausgemusterten Keilhosen der Soldaten bestens geeignet und stellten deshalb auch einen begehrten Artikel dar. Die zusätzlich noch benötigten Wickelgamaschen fertigten wir aus den Gurten vom Sattelzeug der Pferde an.
Für uns Kinder war die schöne Zeit mit den Soldaten jedoch bald zu Ende.
Am 10. Mai 1940 wurden unsere Freunde Richtung Ardennen und Vorgesen in den Frankreich-Feldzug abkommandiert. Aufgrund der geknüpften Beziehungen fiel der Abschied allen sehr schwer. Ein in unserem Haus einquartierter Soldat, Bernhard war sein Name, übergab mir sein Akkordeon und sagte zu mir: „Ich kann das Akkordeon jetzt nicht mehr gebrauchen, an der Front spielt eine andere Musik“. Weiter sagte er zu mit: „Bub, auch du mußt noch als Soldat an diesem Weltkrieg teilnehmen“. Er sollte Recht behalten.