Ehret das „zünftige“ Brauchtum

Ehret das „zünftige“ Brauchtum

VON HEINRICH O. OLBRICH

„Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, 
der ihrem Wesen nachforscht, ihren Sitten, 
die Wege wandelt, die sie einst geschritten, 
zu ihnen rückwärts die Gedanken lenkt, 
dem die Geschichte seines Heimatlandes, 
das Schönste, Wissenswerteste erscheint, 
der nie vergißt des wunderbaren Bandes, 
das ihn mit jenen inniglich vereint.“

Joh. Balte

In unserer so schnellebigen Zeit beobachten wir immer die Gefahr des Vergessenwerdens von all dem, für das man in der Vergangenheit weder Raum noch Zeit mehr hatte. Am ehesten schwindet aus dein Bewußtsein der Gegenwart das früher Alltägliche, Selbstverständliche und wird eben deswegen am wenigsten beachtet, obwohl es so wertvoll ist, der Nachwelt erhalten zu bleiben; denn es verkörpert zunächst ein Stück Kulturgeschichte, das zur Erkenntnis früherer Zeiten, früheren Denkens oder Empfindens von unvergleichlicher Bedeutung ist. Gemeint ist das „zünftige“ Brauchtum, jene Verhaltensmaßnahmen, wie sie besonders von den Zünften, den Vereinigungen der einzelnen Handwerkergruppen., gepflegt worden sind. Das Wort „zünftig“ ist bis zum heutigen Tage gebräuchlich, besonders dann, wenn man damit eine außerordentlich tüchtige Leistung bezeichnen will. Es ist abgeleitet von dem Begriff Zunft.

Zum besseren Verständnis unserer Ermunterung ist es nützlich, zunächst einen kurzen Rückblick über die Entstehung des Handwerks und über das Werden und Wirken und Formen der Zünfte mit ihrem prächtigen Brauchtum zu richten.

In der frühesten geschlossenen Hauswirtschaft spielte der Ackerbau die Hauptrolle. Sämtliche Ansprüche, die der damalige Mensch für sich und für die Ausführung seiner Arbeiten benötigte, vollzogen sich innerhalb der Hauswirtschaft. Also alles, was der damalige Mensch für die Erhaltung seines Lebens brauchte und alle erforderlichen Werkzeuge und Geräte für die Ausübung seiner verschiedensten Arbeiten mußten innerhalb der Hauswirtschaft erzeugt werden. Einzelne innerhalb der Hausgemeinschaften waren besonders anstellig und geschickt für die Herstellung der benötigten Kleidung, andere wiederum zur Verarbeitung des Holzes für allerlei Geräte oder zum Bau von Wohnhäusern mit den erforderlichen Einrichtungsgegenständen, wiederum andere entwickelten besonderes Geschick in der Verarbeitung von Eisen und Metallen zu Gebrauchs- und Ziergegenständen.

Was die eigene Hauswirtschaft nicht verbrauchte, tauschte sie oder verkaufte den Überschuß an Nachbargemeinschaften.

Diese Entwicklungsstufe ist die Geburtsstunde des Handwerks.

Die Hofhaltungen des Adels zogen aus den eben benannten Hausgemeinschaften die geschickten Handwerker heraus und gaben diesen als Hörige Gelegenheit, sich in den verschiedensten Sparten des Handwerks zu betätigen. Die „freien“ Handwerker entwickelten sich im Wettbewerb mit den „Hörigen“ namentlich als Schmiede, Schreiner, Wagenbauer, Weber usw. Sie waren bald so begehrt und so zahlreich, daß sie sich, je nach ausübendem Handwerk eines Ortes zu Vereinigungen, den „Zünften“, zusammenschlössen.

Unter diesen glücklichen. Umständen in der Entwicklung der Städte spielten die Handwerker bald eine bedeutende und in allen Dingen des Gemeinschaftslebens der Stadtbewohner, also der Bürger, eine maßgebende Rolle. Mit ihren geschaffenen Werken trieben sie von Stadt zu Stadt und Land zu Land einen schwungvollen Handel. Manche Handwerkszweige, z. B. Feinweber, Färber, Töpfer, Kunstschmiede u. a. waren nur in größeren Städten seßhaft. Gemeinsame Berufszweige betätigten sich in besonderen Gassen und Straßen, deren Namen als Webergasse, Schmiedestraße, Böttchersteg, Färbergasse usw. bis zum heutigen Tage erhalten sind. Die einzelnen Handwerke emwickelten innerhalb ihrer Berufsparteien starkes Selbstbewußtsein, das sich in familiärer und gemeindlicher Hinsicht bestätigte. Es bestand Zunftzwang, Gehorsams- und Beitragszwang. Die Mitgliedschaft in der Zunft war von einer nachgewiesenen und ehelichen Abstammung abhängig. Die großen und einflußreichen Handwerker-Organisationen haben sich im 11, bis zum 13, Jahrhundert entwickelt und bestritten ihre erworbenen Rechte und die Ehre ihrer Arbeit in langen aufgezwungenen Kämpfen mit dem herrschenden Adel und den wohlhabenden Patriziern der aufblühenden Städte. Diese erstrittenen Rechte gaben erst den Zünften den eigentlichen Inhalt. Das markanteste Merkmal der Zünfte war die eigene Gerichtsbarkeit. Könige und Kaiser verliehen ihnen besondere „privilegierte“ Rechte.

Die Aufnahmebedingungen in die Zünfte erforderten den Nachweis redlichen Verhaltens und tadelloser Arbeitsleistung, Absolvierung einer formgerechten Lehrzeit mit dem Abschluß eines Gesellenstückes, Einhaltung bestimmter Wanderzeiten, schließlich das Meisterstück. Der Meisterbrief bestätigte den Abschluß der Ausbildung.

Ein alter Handwerksspruch lautete: ,,Das Handwerk soll so rein sein, als hätten es die Tauben gelesen.“

Die Erfindung der Buchdruckerkunst, des Schießpulvers, des Kompaß — der Forschungen,

kurz, die ganze Technik der Renaissance brachte einen solchen Umschwung in die wirtschaftlichen Lebensbedingungen des Handwerks, daß die Entwicklung auch einen geschriebenen oder gedruckten Niederschlag in den Zunftsatzungen finden mußte.

In diesen schriftlichen Überlieferungen fanden durch die nachkommenden Geschlechter auch die Auslands- und Sittenregeln des selbstbewußten Handwerks eine sorgfältige Pflege und Beachtung.

Diese und andere Urkunden wurden von jedem Verein in der „Lade der Zunft“ sorgfältig verwahrt, die im besonderen Zunftraum oder Zunfthaus aufbewahrt wurden. In der Lade wurden die Satzungen, Mitgliederlisten, Fahnen und Abzeichen der Zunftmitglieder, Wimpel und Siegel, vor allem die „privilegierten Rechte“ in ihren Niederschriften aufbewahrt. Vor der geöffneten Lade wurden die Gelübte der Lehrlinge, Gesellen und Meister abgelegt, die mit einem besonderen Zeremoniell, oft auch mit kirchlichen Handlungen verbunden waren. War die Lade offen, so war gewissermaßen das Gesetz inmitten der Versammlung und zwang zu der erforderlichen Achtung und Haltung. Besondere Anlässe, wie die „Freisprechung der Junggesellen“ oder die „Bestattung der Meister“ wurden meist unter Mitwirkung der Kirche vollzogen. Die Zeremonien des Brauchtums der einzelnen Handwerkszweige waren aufgezeichnet und wurden in der Lade aufbewahrt, um in ihrer Anordnung genau beachtet zu werden.

Ein Stück solchen alten Brauchtums hat die Bürgerschaft von Ahrweiler erlebt als der Sohn des Buchdruckermeisters Warlich, Georg Warlich, am 24. Januar 1968 feierlich den Gesellenbrief erworben hatte. Die Tageszeitungen unseres Kreises haben über diesen interessanten Vorgang illustriert berichtet und gleichzeitig kundgetan, daß das Brauchtum bei aller Besinnlichkeit auch harte Prozeduren zu bestehen hatte. Dieser Brauch geht auf das Jahr 1493 zurück. Das Handwerk ist ein Ruhmesstand, der seit Jahrhunderten, seit der Gewinnung der Freiheit im Mittelalter, sich zum Gemeinwohle von Stadt und Land entwickelt hat. Unsere ältesten Städte künden noch heute vom Handwerk geschaffene Dome, Rathäuser und Patrizierhäuser mit ihren alten Straßen und Gassen. Sie künden gleichzeitig das Sprichwort, das seine volle Berechtigung hatte: „Handwerk hat goldenen Boden.“ Freilich gestatten es Zeitgeist und technische

Entwicklung nicht, um dieses wertvolle Gut des Brauchtums voll aufleben zu lassen. Aber einiges von der werten grauen Vergangenheit sollte mehr gepflegt werden, um die oft recht rein förmlich gehaltenen „Freisprechungen“ und „Meisterberufungen“ mit seltenem Wert sinnvoll zu beleben.