Distel und Ähre

VON LEO STAUSBERG

Am Ende des Roggenfeldes spreizte sich eine stolze Distel. Es war eine von der vornehmen Art mit dickem, nickendem Kopfe. Weithin leuchtete, von der sinkenden Sonne beschienen, ihre rosarote Korbblüte. „Wie schön bist du doch!“ sagte in ehrlicher Bewunderung eine schlichte, schlanke Kornähre, die dicht neben ihr stand. „Muß man nicht schön sein?“ entgegnete die stachelige Nachbarin. „Wie könnten sonst die Bienen und Hummeln wissen, daß ich süßen Saft zu verschenken habe?“ — „Du schenkst den bösen Bienen Süßigkeit? Da wüßte ich doch, was ich lieber täte!“ rief die Ähre erstaunt. „Klug muß man sein“, flüsterte die Distel wichtig, „weißt du, es ist wegen der Befruchtung!“ „Ah! ich verstehe! die tollpatschigen Hummeln sollen dir in ihrem Pelz den Blutenstaub zutragen und auf den Griffel streuen.“ „Ja, gewiß“, fiel die Distel ein, „sonst bekäme ich ja keinen Samen und unser tapferes Geschlecht würde bald ausgestorben sein!“ „Es ist wahr“, bestätigte die Roggenähre, „die Samenkinder sind unsere größte Sorge.“ „Dich wird wohl niemand besuchen; du hast weder ein buntes Kleid noch birgst du duftenden Nektar. Kein Insekt sieht sich nach dir um. Ich möchte gern wissen, wie d u es anfängst mit der Befruchtung.“ „Der Wind! Der Wind! Das himmlische Kind! Der ist mein Freund. Wir Ähren halten ihm die Staubbeutel an feinen Fäden hin. Nun braust er daher und zaust und rüttelt uns, daß der Blutenstaub in gelblichen Wolken über das Halmenmeer zieht und auf die Stempelfäden rieselt. Dann können unsere Körner schwellen und reifen. Und er verlangt nicht einmal Lohn wie deine Insekten!“ „Der Wind! Der Wind! Das himmlische Kind!“ rief nun auch lachend die Distel und wackelte dabei vor Freude mit ihrem schweren Blütenkopfe. „Ist er etwa auch dein Freund?“ früg die Ähre. „Und ob! Wenn der gute Wind nicht wäre, wo sollte ich da mit meinen hundert Samenkindern hin, die im Herbst auf meinem Kopfe hocken? Alle würden sie rund um mich her zur Erde fallen. Ein Keim nähme dem ändern Licht, Luft und Nahrung weg. Und alle müßten dann bald elendig ersticken und verhungern. Nun trägt jedes Samenkind auf seinem Köpfchen ein zierliches Schirmchen aus zarten Seidenfäden. Sind die Samenkörner reif, so spannen sie allesamt ihre Schirmchen auf und warten auf den lustigen Herbstwind. Der kommt dahergetollt, bläst sie hoch in die Lüfte und trägt sie weit, weit fort über Berge und Täler, über Ströme und Seen. Da kann sich jedes ein passendes Plätzchen aussuchen.“ „Ja, ja, der Wind! Er ist halt ein herzensguter Kerl“, pflichtete die Ähre eifrig bei, „er ist mir fast so lieb wie die Mensche n.“ „Schweig mir von den Menschen !“ schalt die Distel zornig und zeigte drohend ihre nadelspitzen Stacheln. „Sie morden uns, wo sie nur können. Es sind unsere Todfeinde!“ „Uns lieben die Menschen sehr und pflegen uns in jeder Weise. Zwar verzehren sie unzählige Körnerkinder, nachdem sie diese zuvor zerquetscht und gebacken haben. , B r o t‘ nennen sie das und machen viel Wesens davon. Aber sie geben ängstlich acht, daß das Geschlecht der Roggenähren nie ausstirbt und streuen Jahr für Jahr unsere Körner in das sorgfältig bereitete Feld. Mehr können wir doch nicht verlangen! Unsere Samenkinder kann ja der Wind nicht fortblasen, da ihnen solch kunstvolle Flugschirme fehlen, wie die euren sie haben. Nicht immer haben die Menschen uns gepflegt. In unserem Volke geht eine alte Sage:

,Es war eine Zeit, wo noch keine Menschen lebten, Da wuchsen unsere Vorfahren wild in weiten Ebenen. Wer sollte uns da helfen, die Samenkörner zu zerstreuen? Viele Tiere schweiften damals in den Steppen: zottige Pferde und Rinder, wollige Schafen und Ziegen, langhaarige Riesenelefanten und Nashörner und noch andere Mähnen=, Pelz= und Schweifträger. Auf sie hatten unsere Ahnen es abgesehen; sie sollten die Körner forttragen. Die Hülsen, in denen unsere Körner wie in einer Wiege eingebettet sind, endigen in einer spitzen Lanze, die mit Widerhäkchen besetzt ist. Damit krallten sich die Samenkörner in dem Fell der Weidetiere fest und wurden so in alle Länder verbreitet. Heute noch tragen wir diese Lanzen als Zier. Grannen nennen die Menschen sie und finden sie höchst überflüssig‘.“

„Ich kann nun mal die Menschen nicht leiden“, beharrte die Distel, die aufmerksam zugehört hatte, „und auch die Weidetiere nicht. Sie alle wollen uns vertilgen und verzehren mit Stumpf und Stiel. Nicht umsonst trage ich diesen stacheligen Panzer. Den scheuen sie und machen einen Bogen um uns. Nur das Dümmste unter ihnen wagt uns zu fressen und schätzt uns gar als Leckerbissen: der Esel !“ Beide. Nachbarinnen mußten herzlich lachen. Unterdessen war die Sommernacht herabgesunken, und unzählige Sterne glommen am Himmel auf. Schlaftrunken wiegten sich Distel und Ähre im Nachtwind und nickten bald ein.

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