Die Wallfahrt zum Apollinarisberg in Remagen
Dem Leben nacherzählt von Werner Keller
Anfang 1919, noch in feldgrauer Uniform, ohne Rangabzeichen, habe er seinen Dienst als Lehrer an der katholischen Volksschule aufgenommen, erzählten die Älteren des Dorfes. Ein Lehrer und zwischen 40—45 Kinder in 8 Klassen in einem Raum, wer kann sich das heute noch vorstellen? Dennoch, die Kinder wurden streng erzogen, aber sie lernten viel. Schule, Kirche und Elternhaus bildeten noch eine erzieherische Einheit. Der Dorfpfarrer, Doktor und Orgelsachverständiger für die rheinische Kirchenprovinz handelte nach dem Grundsatz, „durch freies Predigen und Verkünden des Wortes Gottes, namentlich durch Unterweisen des einfachen Volkes“ Wissen zu vermitteln.
Die Erziehung und Bildung der ihm anvertrauten Kinder nahm der Lehrer sehr ernst. Liebe zu Gott, den Eltern und Mitmenschen pflanzte er in die Seelen der Kleinen ebenso, wie die Vaterlands- und Heimatliebe.
In der Heimatkunde erzählte der Lehrer Jahr für Jahr der im Lehrplan vorgesehenen Klasse, daß Reinald von Dassel, der von 1159— 1167 Erzbischof von Köln war, am 23. Juli 1164 die Gebeine der hl. Dreikönige nach Köln gebracht hat. Nach der Legende seien die Reliquien des hl. Bischofs und Märtyrers Apollinaris von Ravenna gleichzeitig mit den Leibern der hl. Dreikönige von Mailand nach Deutschland gebracht worden. Bei Remagen habe das Schiff, das den Kanzler nebst den Heiligtümern nach Köln bringen sollte trotz der günstigen Strömung und Witterung solange unbeweglich gestanden, bis Reinald die Gebeine des hl. Apollinaris gelandet und auf dem nahen Martinsberge habe beisetzen lassen.
Es gehörte zum Jahreskreis des kirchlichen Lebens im Dorf, alljährlich zum Haupte des hl. Apollinaris nach Remagen zu wallfahren. Soweit erinnerlich, wurde die Wallfahrtszeit am Sonntag nach Jakobus (25. 7.) eröffnet. Sonntag für Sonntag zogen dann die Prozessionen zu Fuß vom Dorf nach dem Apollinarisberg und zurück. Der Rosenkranz wurde gebetet. Auf dem Weg nach Remagen betete man dazu „Hl. Apollinaris zu Dir kommen wir, Deine Fürbitte begehren wir“ und auf dem Heimweg „Hl. Apollinaris von Dir scheiden wir, Deine Fürbitte begehren wir“.
Die Kinder und Jugendlichen hatten länglichovale Blechbüchsen umhängen, die als Vorratsbehälter für Butterbrote dienten. Das Geld war knapp in den Nachkriegsjahren, aber die Kinder sparten schon lange vor Beginn der Wallfahrtszeit, denn was am Rande der Wallfahrt in Remagen, in den Straßen unterhalb des Bahnkörpers geboten wurde, war etwas besonderes.
An vielen Ständen und in vielen Buden wurden Gebrauchsgüter des täglichen Lebens, ebenso Süßigkeiten und Spielwaren feilgeboten, wie man zu dieser Zeit sagte.
Die Sensation aber war der wahre Jakob mit einem erhöhten Standort. Seine große Verkaufsrede eröffnete er stets mit den Worten: „heute ist der Jakob noch hier, morgen ist er schon in Trier“, obwohl er an den Hauptwallfahrtstagen in Remagen an der gleichen Stelle zu finden war.
Der wahre Jakob hatte eine besondere Verkaufstechnik. Er bot einige Artikel zu einem hohen Preis an. Mit reißerischer Rede erhöhte er das Warenangebot zu einer Kollektion zu dem genannten Preis. Die Umstehenden, die die Taktik des wahren Jakob kannten, zeigten Zurückhaltung. Der wahre Jakob, ein tüchtiger Verkaufspsychologe, wußte genau, wann Angebot und Preis ausgereizt waren. Bis das erreicht war, erhöhte er das Warenangebot zu gleichem Preis oder je nach Lage ging er bei gleichbleibendem Warenangebot nach und nach zurück mit der Preisforderung. War der Endpreis gemacht, dafür hatten auch die Umstehenden ein Gespür, ging Kollektion um Kollektion zum gleichen Preis weg. Zeigten die Menschen keine Kauflust mehr, begann der wahre Jakob von neuem mit seiner Schau, wie man heute sagen würde. Der Endpreis, zu dem der wahre Jakob eine Kollektion verkaufte, war immer ein runder Betrag z. B. 1,- oder 2,- RM.
Apollinarisberg bei Remagen
Foto: Kreisbildstelle
Die Verkaufsdemonstration verknüpfte er stets mit kleinen Kunststücken, die Kauflustige oder Zuschauer von der Qualität der angebotenen Ware überzeugen sollten. Diese Kunststücke führte er im richtigen Zeitpunkt mit nur wenigen Artikeln abwechselnd vor. So machte er z. B. aus einem Regenschirm einen Blitzableiter, aus Hosenträgern eine Schleuder.
Der Stand des Jakob war meist von einer Menge Leute umstellt, angefangen von Kindern bis zu älteren Menschen. Das Repertoir an Schlagworten, Witzen sowie Wortspielereien schien bei dem wahren Jakob unerschöpflich zu sein. Er verstand sein Geschäft. Vieles was er anbot, war sogenannte Ramschware, die gerade in schlechten Zeiten ihre Käufer findet. Der Gewinn an jedem verkauften Artikel war sicherlich unterschiedlich, meist jedoch nach Pfennigen kalkuliert. Er mußte also viel umsetzen, wenn er einen guten Gewinn machen wollte. Es war damals eine schlechte Zeit, die gegen Ende der 20er Jahre und zu Anfang der 30er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Im Deutschen Reich gab es 6 000 000 Erwerbslose. Der Staat Preußen hatte mehr als 3000 Sparkommissare in Großstädten eingesetzt. Die Armut war groß, die Menschen bescheiden und anspruchslos.
Dann kam das Jahr 1933 und die Eröffnungsfeier für die Wallfahrtszeit zum Apollinarisberg nach Remagen im Jahre11934, die für viele Teilnehmer zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurde. Zunächst schien es, als sollte es eine Wallfahrt wie jedes Jahr werden. Man war ein Jahr älter geworden. Aber davon nahm man keine Notiz, es ging ja so langsam und immer war man noch kein Erwachsener.
Am Sonntag nach Jakobus im Jahre 1934 fand die feierliche Eröffnung der Wallfahrtszeit im Freien statt, soviele Menschen hatten sich auf dem Apollinarisberg versammelt, daß der Berg überfüllt war von Pilgern.
Die Festpredigt hielt der Franziskaner Pater Dionysius Ortsiefer (gestorben am 19. 1. 1946), der 28 Jahre Domprediger am hohen Dom zu Köln war.
Er stand mit seinen Orden dekoriert in seinem braunen Ordenskleid innerhalb der Kreuzigungsgruppe erhöht über der dichten Menschenmenge.
Dem Pater, einem kräftig gewachsenen Mann, stand kein Mikrophon zur Verfügung; er mußte seine starke Stimme voll einsetzen, um von der Mehrzahl der Pilger verstanden zu werden.
Pater Dionysius wartete mit Geduld bis Stille eintrat, dann begann er: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes! Meine lieben, im Herrn versammelten Christen!
Es war im Weltkriegsjahr 1916, als ich als Feldgeistlicher an der Balkanfront stand. Eines abends wurde ich an das Sterbebett eines schwer verwundeten Kameraden gerufen. Als ich an das Feldbett des Soldaten trat, sah ich, daß er vom Tod gezeichnet war. Ich beugte mich zu dem schwer atmenden Verwundeten und sagte zu ihm: .Söhne Dich aus mit Deinem Schöpfer. Er verkündet den Frieden, einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. Der Friede sei mit Dir. Es gibt ein Mittel, diesen Frieden zu erleben; welchen ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen.
Gott besiegelt die Versöhnung mit dem Sünder, wenn er seine Schuld bereut und sie aufrichtig bekennt!
Da beugte der mit dem Tode ringende Kamerad sich auf und sagte, .geh weg du Pfaff, ich habe in diesem Leben nur mit Lumpen verkehrt und will auch in einem anderen Leben nur mit Lumpen verkehren‘! Dann sank er zurück in sein Feldbett und hauchte sein Leben aus.“
Schweigen trat ein. Es war still auf dem Platz, nach einer kurzen Pause fuhr Pater Dionysius fort:
„Dieser Mann, der sich für ungläubig hielt, war es nicht. Für ihn war Gott kein Lump. Er hatte in diesem Leben nur mit Lumpen verkehrt und wollte das auch in einem anderen Leben. Er glaubte also an das „andere Leben‘. Vielleicht war das der letzte Funke an den christlichen Glauben, den er aus der Jugend in sich trug.“
In diesem Zusammenhang unterschied der Domprediger zwischen dem Glauben, der in der Summe jener Wahrheiten besteht, die von Gott geoffenbart sind und von der Kirche zu glauben vorgestellt werden, und dem Glaubensakt des einzelnen Christen, der kraft der Gnade Gottes im Willen des Menschen vollzogen wird.
Über den Glauben im Sinne von Glaubensinhalt wacht das Lehramt der Kirche. Zum Vollzug des Glaubensaktes hat der Mensch die helfende Gnade Gottes nötig; denn „Gott ist es, der das Wollen und das Vollbringen bewirkt.“
Gott wirkt durch den Priester, der in seinem Auftrag das wirksame Wort der Lossprechung sagt. So wird die Begegnung des Sünders mit dem Vertreter der Kirche zum Zeichen der siegreichen Gnade Gottes, die das Böse überwindet.
Pater Dionysius warnte dann vor den falschen Propheten und schloß seine Predigt mit einem leidenschaftlichen Apell, dem Worte Gottes und der Kirche zu folgen.1)
Zu einer solchen Predigt gehörte zu damaliger Zeit schon viel Mut.
Der akademische Lehrsatz „Jeder irdische Vorgang muß im Rahmen von Zeit und Raum verstanden werden“ schien damals wie eine Offenbarung.
Insbesondere rückblickend auf die Kriegsjahre von 1939—1945 ist diese Predigt im Verständnis für viele Gläubige, die sich am Sonntag nach Jakobi 1934 auf dem Apollinarisberg versammelt hatten zu einem lebensbestimmenden Element geworden; sicherlich bei den Menschen, bei denen der Funke übergesprungen war, „verstanden im Rahmen von Zeit und Raum“.
1) Theologische Beratung, Dechant M. Tummer, Neschen/Ww.