Die Vinxtbachtaufe
Der sonntägliche Spaziergang führte von der Feuerwehrhütte in Mittelvinxt nach Schalkenbach zurück. In Untervinxt gesellte sich ein Spaziergänger hinzu. Nicht Gott und die Welt wurden Gesprächsthemen, sondern Land und Leute. Zumal sich bald weitere Gemeinsamkeiten heraus stellten: beide stammten wir nicht aus dieser Region, beide glaubten wir mit dem Engagement für die Dorfgemeinschaft ein wenig im Rückstand zu sein. Allerdings, so wurde uns bewusst, können örtliche Organisationen und Vereine nicht die Interessen jedes Einzelnen abdecken. Wir trösteten uns in der Erkenntnis, dass nur all jene ohne Eingliederungswünsche sind, die den Heimvorteil als echte Vinxtbacher haben, also sprichwörtlich „mit dem Wasser des Vinxtbaches getauft“ sind. Dieses geflügelte Wort führte zur Diskussion darüber, ob in früheren Zeiten in den Kapellen in Vinxt und Schalkenbach mit Vinxtbachwasser getauft worden sein könnte. Wasserleitungen bescherten die Segnungen der modernen Zeit in Vinxt und Schalkenbach erst Mitte des vorigen Jahrhunderts. Davor war Bachwasser für alles die Versorgungsquelle, gefolgt von Einzelbrunnen und Handpumpen im Einzugsgebiet der Bachläufe. Das im Vinxtbachtal aus mehreren Bächen und Rinnsalen zusammen fließende Nass ernannten wir zum „Vinxtwasser“. Weitere Betrachtungen führten über die Jahrhunderte hinweg gut 2 000 Jahre zurück in die Zeit der hier weilenden Römer. Sie trennten das eroberte Gebiet zuerst militärisch in Nieder- und Obergermanien durch den Vinxtbach, zumindest in seinem unteren Teil. Spätere Grenzfunktionen festigten ihn zusätzlich als ein herausragendes Merkmal dieser Region. Das römische Ereignis der militärischen Grenze zwischen Nieder- und Obergermanien jährt sich in wenigen Jahren zum zweitausendsten Mal. An Gesprächsstoff auch darüber mangelte es wahrlich nicht. Am Ende unseres gemeinsamen Weges fanden wir den ironisch gemeinten Schluss, dass uns einzig die fehlende Taufe mit Vinxtwasser daran hindere rechte Schalkenbacher zu sein. Damit glaubten wir unsere Zurückhaltung geklärt und die Ursache auf einen imaginären Schuldigen abgewälzt zu haben! Nun, damals ahnte ich nicht, dass mir diese lockere Betrachtung über die Taufe mit Vinxtwasser wenige Wochen später schreckhaft in Erinnerung kommen sollte. Es war einer jener Sonntagmorgen, wie ihn Petrus nur selten mit strahlender Sonne und wohltuenden bis drückend heißen Temperaturen für uns bereit hält. An diesem Tage führte mein Spaziergang mit Castor, unserem Hund, über Königsfeld nach Schalkenbach zurück. Um den großen Bogen um die Werkhallen abzukürzen, überquerten Herr und Hund den Vinxtbach im freien Gelände. Der Vierbeinige bewältigte dies nach erfrischendem Wasserschlecken stets ohne Mühen. Mein Überqueren des geschichtsträchtigen Vinxtbaches erforderte dagegen volle Konzentration. Der folgte ein kühner Sprung von einem Ufer zum anderen. An jenem herrlichen Sonntagmorgen sprang ich am „obergermanischen“ Ufer auch sehr gut weg, kam am heimischen „niedergermanischen“ Ufer jedoch wider Erwarten schlecht an. Irgendein römischer Geist, der den auch als Schwarzbrotgrenze bekannten und im Bereich einer Sprachgrenze liegenden Vinxtbach immer noch bewachte, hatte mich wohl aus dem Tritt gebracht. Sie ahnen es: anfangs wild mit den Armen um Gleichgewicht ringend landete ich doch der Länge nach auf dem Rücken im Vinxtbach. Sofort hatte Castor das als neue Spielsituation erfasst. Freudig sprang er neben und auf mir herum und saute mich zusätzlich ein. Klatschnass entstieg ich den Vinxtbachfluten. Und sofort fiel mir das frühere Gespräch über Taufe mit Vinxtwasser wieder ein. War ich nun für die damals etwas lästerliche Betrachtungsweise über die Taufe quasi an Ort und Stelle bestraft worden? Oder sollte das etwa meine verspätete Vinxttaufe sein. Nun, damit ließ sich natürlich nicht das Verwachsensein in einer seit Kindheitstagen prägenden Dorfgemeinschaft ausgleichen; auf diese Art entsteht weder ein gebürtiger noch ein geborener Vinxtbacher. Solches muss auch nicht sein. Denn wer sich in den Dörfern des Vinxtbachtales voll integrieren will, kann dies auf andere Weise erreichen. Bei den Alteingesessenen und in den dörflich erhalten gebliebenen Betätigungsfeldern sowie den Vereinen sind Neubürger, Seiteneinsteiger, stets herzlich willkommen. Dieses Einbinden klappt natürlich nur, wenn ein aktives Mitwirken und Mitgestalten von einem selbst gewollt wird. Nach der feuchten Bekanntschaft mit dem Vinxtbach an jenem Sonntagmorgen wollte ich den restlichen Heimweg verständlicherweise ohne menschliche Kontakte bewältigen.
Der Vinxtbach – kleiner Bach mit großer Bedeutung
Dazu wurde ein Umweg zum rückwärtigen Grundstückseingang gewählt. Doch hier schlug das Schicksal ein zweites Mal zu. Ich lief einer Wandergruppe in die Arme. Aus Köln, wie sich bald herausstellte. Und die frotzelten gleich los: Wo denn der Badesee liege, dem ich ja gerade entstiegen sein müsse, dem Aussehen nach könnte ich in einem Entenpfuhl gewesen sei“, und so weiter. Wer den Schaden hat, braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen. Zum Glück war Hund Castor des kölschen Platt nicht mächtig. Sonst hätte er ob der deftigen Frotzeleien verteidigungswillig sicherlich mehr als die Stirn gerunzelt. In dieser Situation war gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Zum Ausgleich gab ich in heiterer Runde eine völlig andere Version über meinen momentanen Unstand ab. Nämlich, dass wir mangels einer Gaststätte zum sonntäglichen Frühschoppen stets ein Fass Bier -natürlich Kölsch – im Dorfbrunnen kühlen. Um es heraus zu holen müssten alle Stammtischbrüder abwechselnd einmal in das Vinxtwasser tauchen. Genau wie bei einer vollen Körpertaufe nach frühchristlichem und heutzutage noch in einer der Ostkirchen üblichen Ritual. Diesesmal wäre ich an der Reihe gewesen, sei in dieser heißen Witterung auch völlig erfrischt worden. Die übrigen Stammtischler genössen nun am Dorfbrunnen das kühle Blonde. Offenbar habe ich diese Geschichte überzeugend rüber gebracht. Denn Wochen später, als ich mein Missgeschick vom Vinxtbach in geselliger Runde zum Besten gab, erfuhr ich von einer Wandergruppe, die an jenem Sonntagmorgen im Dorf mehrfach nach dem zugegeben erfundenen Bierbrunnen gefragt hatte. Wiederum Wochen später erreichte ich beim Spaziergang mit Hund Castor erneut die Stelle meines Grenzfalles am Vinxtbach. Er postierte sich gleich auf der gegenüberliegenden Böschung. Offensichtlich wartete er auf meinen Sprung. Den wollte ich zur Stärkung meines Selbstwertgefühls auch ausführen. „Jetzt erst recht“ war die Devise. Doch Castors geradezu provozierendes Grinsen, das ich in dem ausdrucksstarken Boxer-Gesicht zu erkennen glaubte, ließ mich einen Moment stocken. Ich meinte zu hören: „Na Alter, diesmal will ich aber genau sehen wie Du da rein plumpst“. Das nahm mir glatt den Mut zum Sprung. Und so blieb es bei der einen Vinxtbachtaufe – und dem seit dieser Zeit etwas längeren Heimweg.