Die Triumphkreuzgruppe in St. Peter, Sinzig. Von der „Wiederauferstehung“ einer spätmittelalterlichen Kreuzigungsgruppe
Über viele Jahrzehnte hinweg wurde die Bedeutung zweier mittelalterlicher Skulpturen in der Sinziger St. Pfarrkirche rundweg verkannt. Obgleich sich beide Figuren für Jahrhunderte bis zur Innenrenovierung von St. Peter im Jahr 1964 im zentralen Blickfeld der Gottesdienst- und Kirchenbesucher befanden, war weder die herausragende Qualität noch die kunsthistorische Bedeutung der beiden Skulpturen richtig gedeutet worden. Gleiches gilt auch für die zur Skulpturengruppe gehörende dritte Figur, den am Kreuz hängenden Jesus Christus, die fast 40 Jahre „unauffindbar“ war.
Historische Photografien sowohl aus den 1920er und 1930er Jahren als auch aus der Zeit unmittelbar vor der „bereinigenden“ Renovierung des Kircheninneren von 1964 belegen, dass sich die Kreuzigungsgruppe im Bereich des Triumphbogens (d. i. der westliche Gurtbogen zwischen Vierung und Chorhaupt bzw. dem die Apsis vorbereitenden Chorquadrat) befand.1) Dort war sie im Scheitelpunkt des Triumphbogens an einem aus dem Gurtbogen bzw. dem Gewölbe herausragenden eisernen Gestänge aufgehängt bzw. befestigt.2) Der Kreuzesstamm mit dem lebensgroßen Kruzifixus war mit der geschmiedeten Eisenstange direkt verbunden. Am Fußende des Kreuzes war ein geschmiedetes Blattrahmenwerk befestigt, das jeweils rechts und links vom Kreuz diagonal aufsteigend knapp unterhalb der Füße Jesu’ Christi in Postamente bzw. geschmiedete Plinten überging und als Standfläche für die beiden Assistenzfiguren endete: Maria zur Rechten Christi und Johannes der Evangelist auf der linken, der Herzseite des Gekreuzigten.
Bei der Betrachtung historischer Aufnahmen von der Figurengruppe wird die stilistische und insbesondere sehr innige Beziehung der einzelnen Skulpturen zu- und untereinander deutlich.
Die vorletzte Renovierung des Inneren der St. Peter Pfarrkirche im Jahr 1964, die innerhalb nur eines (!) Jahres abgeschlossen wurde, hinterließ unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils und damit im Sinne einer zweifelsfrei gut gemeinten „stilistischen Bereinigung“ einen Raum, der nichts mehr von der Farbigkeit und Ausstattung des 19. Jahrhunderts oder der vorangegangenen Epochen verspüren ließ.3)Offensichtlich störte die Initiatoren dieser Renovierung, die aus heutiger Sicht als äußerst problematische „Teilzerstörung“ einzustufen ist, auch das Skulpturenensemble der spätmittelalterlichen Zeit, das aufgrund seiner Farbfassung und der auffallenden Form des Lendentuches des Gekreuzigten fälschlicherweise als Werk des 19. Jahrhunderts interpretiert wurde. Dem Gedanken der Purifizierung folgend wurde alles, was nicht als wirklich mittelalterlich erkannt wurde, konsequent aus St. Peter entfernt – so auch die beinahe 450 Jahre im Triumphbogen hängende Kreuzigungsgruppe.
Nach der Abnahme der Figuren im Jahr 1964 wurde der Kruzifixus im Heizungskeller des Pfarrhauses aufbewahrt, wo er in Vergessenheit geriet und erst im Jahr 1996 in Folge von Inventarisationsarbeiten „wiederentdeckt“ wurde. Maria und Johannes standen in den Folgejahren beziehungslos mal hier mal dort im Kirchenschiff. Der Verbleib des Kreuzes, das ebenso wie die Skulpturen der künstlerisch hoch stehenden Qualität des sie schaffenden Bildhauers zuzuordnen war, ließ sich leider nicht mehr rekonstruieren. Auch die mittelalterliche Schmiedearbeit des Gespränges blieb bis heute verschollen.
Die Kreuzigungsgruppe in der Sinziger Kirche St. Peter im Bereich des Triumphbogens, vor 1926
Zwischenzeitlich war durch eine Expertise des Kölner Kunsthistorikers und Skulpturenspezialisten Holger Kempkens M. A. die herausragende Bedeutung der Kreuzigungsgruppe hervorgehoben geworden. Bereits in dem 1938 von Paul Clemen herausgegebenen Inventarverzeichnis „Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz“ wurde zutreffend darauf hingewiesen, dass die Skulpturen Maria und Johannes der Zeit des beginnenden 16. Jahrhunderts und damit der Spätgotik zuzuordnen seien.4)
Nach einer intensiven Diskussions- und Beratungsphase mit den kirchlichen Gremien und dem Diözesandenkmalamt im Jahr 2001, entschied der Kirchbauverein St. Peter Sinzig e.V. die Restaurierung und „Wiederauferstehung“ der Kreuzigungsgruppe umzusetzen und dabei die ideelle und finanzielle Verantwortung zu übernehmen.
Die Sinziger Triumphkreuzgruppe
Entstehungsgeschichtlich betrachtet gehört die Darstellung der Kreuzigung Christi – von den Kunstwissenschaften zutreffend mit „Christus am Kreuz“ bezeichnet – zu den ältesten bekannten Darstellungen der christlichen Kunst überhaupt.5+6)
Die im Dezember 2002 wiedererrichtete Sinziger Kreuzigungsgruppe befindet sich heute vor der Innenwand im Obergeschoss des nördlichen Querhauses von St. Peter. Vor der vom Kirchbauverein St. Peter Sinzig initiierten Maßnahme musste die Figur des Gekreuzigten restauriert werden. Die hierfür erforderlichen Arbeiten wurden im Sommer 2002 durch den Burgbrohler Restaurator Wolfgang Kaiser an der relativ gut erhaltenen Substanz ohne größere Komplikationen durchgeführt. Die Postamente für die beiden Assistenzfiguren wurden von dem Kunstschmied Sebastian Hoppen aus Leubsdorf angefertigt, der auch alle übrigen Arbeiten zur Anbringung des Figurenensembles mit hoher Sensibilität ausführte. Das nach der Abnahme der Figuren nach 1964 verloren gegangene Kreuz wurde durch den zwischenzeitlich verstorbenen Bildhauer Mathias Esser aus Jülich-Kirchberg unter Berücksichtigung historischer Vorlagen gefühlvoll nachgearbeitet.
Mit der Zufügung des Kruzifixus erhalten die beiden trauernden Assistenzfiguren Maria und Johannes ihren ursprünglichen Mittelpunkt zurück. Ihre Blicke und die auf den Gekreuzigten bezogenen Trauergesten werden jetzt wieder in einen gestalterischen Gesamtzusammenhang gebracht, die den Betrachter sowohl die Körperhaltung als auch die Expressivität der Figuren erst verstehen lässt. Nachdem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das wahrscheinlich sehr knappe Lendentuch der spätgotischen Zeit durch einen größeren, alle Körperlichkeit negierenden Lendenschurz ersetzt wurde, führte gerade dieser stilistische Eingriff zu dem späteren Missverständnis, dass die Gesamtfigurengruppe möglicherweise erst aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte. Nicht zuletzt hat auch die heutige Farbfassung der beiden lebensgroßen Assistenzfiguren, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die während der Barockzeit weiß geschlemmten Skulpturen entstanden ist, zu diesem Eindruck beigetragen.
Die Kreuzigungsgruppe im nördlichen Querhaus der Sinziger Kirche, 2005
Wie die Untersuchungen von Kunsthistoriker Kempkens jedoch ergaben, handelt es sich sowohl bei der Christusfigur als auch bei den beiden Assistenzfiguren um Schnitzarbeiten des frühen 16. Jahrhunderts.7)Alle drei, die nach seiner Auffassung seit jeher als Einheit zusammengehören, zeigen Stilformen, die charakteristisch für die Formensprache der in Köln um 1500 führenden Werkstatt des Bildhauers „Meister Tilman Bildensnytzer“ sind. Dieser Bildschnitzer stammte vom Niederrhein und war vermutlich zwischen 1475 und etwa 1513 in Köln mit einer eigenen Werkstatt tätig. Kempkens kam weiter zu dem Schluss, dass die bereits weit entwickelten Stilformen und besonderen Eigenheiten der Sinziger Kreuzigungsgruppe erkennen ließen, „dass sie nicht mehr unter der Ägide Meister Thilmann selbst, sondern bereits von seinem Hauptmitarbeiter und Werkstattnachfolger, dem „Von-Carben-Meister“ (benannt nach einer Skulpturengruppe in der Marienkapelle des Kölner Doms) gefertigt wurde. Aus dessen kaum weniger umfangreichen Oeuvre bieten sich die Kreuzigungsgruppen von St. Johann Baptist und St. Mauritius in Köln zum Vergleich an. Erstere ist dabei unmittelbar an einen Stich Albrecht Dürers von 1516 angelehnt. In abgeschwächter Form zeigen auch die Gruppen von St. Mauritius und Sinzig den Einfluss dieses Stiches.“8)
Holger Kempkens geht davon aus, dass die beiden verwandten Kreuzigungsgruppen beinahe gleichzeitig mit einem etwa 5 Jahre dauernden Abstand zur Gruppe von St. Johann Baptist entstanden sind. Berücksichtigend, dass die Triumphkreuzgruppe von St. Johann Baptist etwa um 1520 entstand, kann für die Anfertigung und Errichtung der Sinziger Gruppe das Jahr 1525 zweifelsfrei angenommen werden.
Mit der Wiedererrichtung der Kreuzigungsgruppe in St. Peter konnte somit eine der weitest entwickelten und qualitativ hochstehendsten Skulpturen- bzw. Figurengruppe aus der Zeit der Spätgotik im gesamten Rheinland erhalten werden. Die „Wiederauferstehung“ der Figurengruppe ist außerdem ein wesentlicher Beitrag zum besseren Verständnis für den religiös motivierten Gestaltungswillen von Stiftern, Künstlern und Klerikern in der Zeit des ausgehenden Mittelalters. Aus Sicht des Kirchbauvereins sollte – auch unter Berücksichtigung der gewandelten Funktionen bei der Nutzung des Kircheninnenraumes infolge erneuerter Liturgieauffassungen – die Zusammenführung der ehemals isolierten Figuren innerhalb der Kreuzigungsgruppe ein wichtiger Beitrag zum hochsensiblen und verantwortungsbewussten Umfang mit dem aus tiefer Frömmigkeit heraus entstandenen kunsthistorischen Erbe sein.
Anmerkungen:
- Der Aachener Kaplan und Kunsthistoriker Franz Bock äußert sich bereits 1868 zwar eher wage zum Ort der Aufstellung, schließt eine Anbringung im Triumphbogen bereits vor (!) der Renovierung im 19. Jh. jedoch nicht aus. Vgl. dz.: Bock, Franz, Rheinlands Baudenkmale des Mittelalters. Ein Führer zu den merkwürdigsten mittelalterlichen Bauwerken am Rheine und seinen Nebenflüssen, Band 2, Die Pfarrkirche zu Sinzig, Köln und Neuß 1868-72, S.15
- Eine der frühesten Abbildungen des Kircheninneren ist die Radierung von B. Mannfeld (20,5 X 17cm) „INNERES DER KIRCHE IN SINZIG AM RHEIN“ aus dem Jahr 1881. Sie zeigt mit Blick aus dem südlichen Seitenschiff nach Osten in das südliche Querhaus und den Chor die im Triumphbogen hängende Kreuzigungsgruppe. Vgl. dz.: schwarz auf weiß, Handschriften und Graphiken aus dem alten Sinzig, Ausstellungskatalog, hrsg. von Agnes Menacher, Sinzig 1989, S.20
- Vgl. Pauly, Stephan, Die Wandmalereien in der katholischen St. Peter Pfarrkirche in Sinzig – Über den Eindruck des romanischen Innenraums nach dem Verlust der mittelalterlichen Wandmalereien. In: Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 1998, S. 82ff.
- Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, hrsg. von Paul Clemen, Die Kunstdenkmäler des Kreises Ahrweiler, Siebzehnter Band, 1. Abt., Düsseldorf 1938, S. 623
- Jahn, Johannes, Wörterbuch der Kunst, Stuttgart 1979 (9.Aufl.), S. 413ff.
- Als frühe und herausragende Beispiele für monumentale Kruzifixe in vorromanischer Zeit seien hier nur der „Gero-Kruzifixus“ (ca. 976) des Kölner Erzbischofes Gero im Kölner Dom sowie der am Kreuz hängende Christus (ca. 1070) aus der ehem. Stiftskirche St. Georg in Köln, dessen Original sich heute im Kölner Museum Schnütgen befindet, genannt.
- Die Expertise von Holger Kempkens M.A. aus dem Jahr 2002 liegt dem Autor vor. Über die Werkstatt des Bildhauers „Meister Tilmann“ vgl. auch: Kempkens, Holger: Hl. Kreuz. In: Kölner Kirchen und ihre mittelalterlichen Ausstattung Bd. 1 (Colonia Romanica X), Köln 1995, S. 269-287 und Kempkens, Holger: Das Hochaltarretabel des Kölner Bildschnitzers ‚Meister Tilman‘ in der Weseler Heilig-Grab-Kapelle. In: Jerusalem in Wesel, Die große Kalvarienbergstiftung des Kaufmanns Hermann Saelen, Wesel 1998, S.44 ff.
- Expertise von H. Kempkens, Köln 2002.