Die Sprache des Rheinschiffers
Dr. Heinz Weber
Sechs Nationen teilen sich in das Stromgebiet des Rheins und seiner schiffbaren Nebenflüsse, mehr als ein Dutzend europäischer Flaggen flattert auf diesen Wasserstraßen von den Schiffsmasten. Der holländische Schiffer ist heute in Straßburg und morgen in Basel, der deutsche Kapitän heute in Rotterdam und morgen in Antwerpen. In der Rheinschiffahrt lebt Europa. Wie verständigt man sich? Welche Sprache spricht der belgische Schiffer im Hafenbüro zu Ludwigshafen? Oder wie ist die Verständigung, wenn in einem Hafengebiet drei Schiffe verschiedener Nationen nebeneinander liegen und verholen müssen? In der internationalen Rhein-Schiffahrt gibt es keine »Amtssprache« wie etwa die englische in der See- oder Luftfahrt. — Als Norm kann man feststellen, daß jeder seine Heimatsprache spricht, ohne daß jedoch ein Sprachenbabel entsteht. Bei näherer Untersuchung ergibt sich nämlich, daß sich aus den sechs Nationen, die Rheinanlieger sind, zwei Sprachen als Schiffer-Umgangssprache herausgeschält haben: die deutsche und die holländische. Die Besatzungen der schweizerischen und deutschen Schiffe sprechen deutsch, ebenso die der wenigen luxemburgischen. Holländisch spricht nicht nur das holländische Schiffspersonal, sondern auch das belgische. In Belgien wird die Binnenschiffahrt nämlich vorwiegend von Flamen betrieben, die nach Herkunft Niedertranken sind und deren Sprache ein Zweig des Niederdeutschen, also mit der holländischen Sprache identisch ist. Die Besatzungen der vielen französischen Schiffe, die den Rhein befahren, sprechen im allgemeinen kein Französisch, da sie überwiegend aus dem Elsaß stammen. Auch Niederländer und Deutsche (aus dem früheren Saargebiet) sind auf französischen Schiffen tätig. Auf den wenigen österreichischen Schiffen ist teilweise schweizerisches Personal. Englische und skandinavische Küstenfahrer sowie polnische Binnenschiffe, die gelegentlich auf dem Rhein zu sehen sind, führen einen Lotsen an Bord, der auch die sprachliche Verständigung im Rheingebiet herbeiführt. Weder die holländische noch die deutsche Sprache werden in der Rheinschiffahrt rein gesprochen. Der Niederländer bemüht sich, bei der Begegnung mit einem deutschsprechenden Schiffer deutsche Redewendungen anzubringen, während der deutschsprechende Schiffer zur Förderung der sprachlichen Verständigung holländische Brocken ins Gespräch bringt. Aus diesem Aufeinander angewiesen sein und Verständigungswillen hat sich im Laufe der Zeit auf deutscher Seite ein selbständiges Sprachgebilde entwickelt, das man schlechthin als Schiffersprache bezeichnen kann. Das Grundelement dieser Schiffersprache ist die deutsche Sprache in der heimatlichen Färbung des Sprechers, die sich, je länger desto stärker, mit Bestandteilen anderer Dialekte des Rheingebiets und seiner Nebenflüsse sowie mit Einflüssen der holländischen Sprache und mit Fachausdrücken der Rheinschiffahrt anreichert. Bei manchen Schiffern ist nach 20 oder 30 Jahren gesprochener Schiffersprache der Heimatklang nicht mehr erkennbar, manche behalten bis ins hohe Alter den Heimatton, je nach dem Grad der subjektiven Aufnahmefähigkeit des Sprechers und der Urteilsfähigkeit des Gespächspartners. Bekanntlich sind in der Rheinschiffahrt nicht nur Schiffer aus den herkömmlichen Städten Mannheim, Sankt Goar oder Duisburg tätig, sondern auch vom Neckar, vom Main, von der Mosel, aus der Eifel, vom Hunsrück und vom Odenwald, vom Niederrhein und aus dem Ruhrgebiet. Die Teilung Deutschlands hat Berliner, schlesisches und ostpreußisches Personal in die Rheinschiffahrt gebracht. Auch Gastarbeiter — Spanier, Italiener, Griechen, Jugoslawen, Algerier und Tunesier — sind auf Schiffen des Rheingebiets anzutreffen. Was die Herkunft des Personals betrifft, so ist die Rheinschiffahrt an
Vielfalt und Buntheit höchstens noch von der Seeschiffahrt zu übertreffen. Oft sind unter der zwölfköpfigen Besatzung eines Schubbootes auch zwölf verschiedene Dialekte zu hören, die sich nach Jahrzehnten Bordgemeinschaft zur spezifischen Schiffersprache artikulieren.
Die Schiffersprache selbst hinwiederum ist nicht einheitlich. Auf der deutschen Rheinstrecke gibt 65 drei markante Schwerpunkte: Die niederrheinische Färbung, hörbar am Duisburger Tonfall, die mittelrheinische, stark hessisch ausgeprägte Färbung, erkennbar am Kauber Akzent, die oberrheinische, überwiegend badensische, feststellbar am Mannheimer Einschlag. — Von den Einflüssen der niederländischen Sprache sei an Stelle vieler ein typisches Beispiel herausgegriffen: das Wort »enkelt«. Es bedeutet so viel wie »einzeln«. Der Holländer sagt: »En en-kelde Man« — ein einzelner Mann oder ein Mann allein. Das Wort »enkelt« ist in der gesamten Rheinschiffahrt von Basel bis ins Meer gebräuchlich. »Mit der enkelte Boot« bedeutet: Mit dem einzelnen Boot, mit dem Boot allein, also ohne Anhang, ungekoppelt, nicht im Schubver-band. Wie universell dieser Begriff sich eingebürgert hat, zeigt allein der ständige Gebrauch dieses Wortes bei den Kauber Lotsen, die ihr Leben lang zwischen Bingen und Sankt Goar fahren, also nie mit dem Ursprungsland des Wortes »enkelt« in Berührung kommen, sondern lediglich mit den holländischen Schiffern.
Wer als Außenstehender mit der Sprache der Rheinschiffer zu tun hat, begegnet oft scheinbar unerklärlichen Formulierungen in Wort oder Schrift. Zum Beispiel: »Über Stur sein merg’schweit«. »Stur« ist eine Verstümmelung von Steuer, Steuerruder. Schweien ist eine Abwandlung von Schwoien, das in der Rheinschiffahrt gebraucht wird für Drehen im stillen (stromlosen) Wasser. Wörtlich übersetzt heißt der Satz: Übers Ruder haben wir gedreht. Es soll damit ausgesagt werden, daß das Schiff in einem Hafenbecken oder sonstigen, stromlosen Wasser, mit dem Heck beginnend, sich gedreht hat:
Oder: »Kopp op Kopp hamer gehalde«. Dieser Satz bedeutet, daß das zur Verfügung stehende Fahrwasser so eng war, daß zwei sich begegnende Schiffe sozusagen Bug auf Bug gerichtet hatten und ganz nahe aneinander vorbeigefahren sind. Oder: »Met enem schwere Schwall Wasser vorm Kopp sein mer noch bes Sang Goär kumme«. Das bedeutet: Obwohl das Rheinwasser stark im Steigen begriffen war, sind wir noch bis Sankt Goar. gekommen. Oder: »Als noch fiere, als noch fiere!« Das heißt: Der Kapitän eines Schleppers gibt den Matrosen die Weisung, beim Aufnehmen eines Anhangs die Drähte (oder Trossen) noch weiter ablaufen zu lassen. Oder: »Voll die Gert!« Das ist der Ruf des Matrosen, der vom Bug des Schiffes aus in regelmäßigen Zeitabständen eine lange Stange mit Meter-Skala (eine Gerte) ins Wasser fallen läßt, um die Wassertiefe zu loten, aber keinen Grund berührt, also reichlich Wasser am Schiffskörper feststellt. Und ein Flieger ist in der Sprache des Rheinschiffers kein Pilot oder Flugzeug, sondern ein Nachen.
Die Sprache als Mittel der Verständigung ist organisch, d. h. sie lebt, sie bröckelt ab und wächst an. Je verschiedenartiger die Beteiligten sind, desto bunter wird das Sprachbild. Zwei Jahrtausende Rheinschiffahrt, der rege Verkehr von und zu den Ufern und der wache Sinn der Fahrensleute haben in der Schiffersprache ein etymologisch eigenartiges Gebilde geschaffen. Für Sprachforscher dürfte es ein ebenso interessantes wie verdienstvolles Werk sein, die Schiffersprache am Rhein nach Herkunft, Entwicklung und Umfang zu ergründen.