Die Spindel der Magd Lufthildis
Von Walter Ottendorff-Simrock
Das war damals, und tausend Jahre sind es her, als Kaiser Karl von seinem Schloß Tomberg in das Tal der Ahr zu jagen kam. Viele Ritter geleiteten den Herrscher. Aber der Beginn der Jagd wurde um einen Tag verschoben, denn Karl war so von der Landschaft, von Berg und Tal und dem brausenden Fluß entzückt, daß er, nur von seinem Freunde Roland gefolgt, durch die Gegend streifte und mit den Leuten sprach. Von ihnen erfuhr er auch von der frommen Magd Lufthildis, die der Armut gar vieler Menschen in diesem Lande so zugetan war, daß sie alles, was sie vordem besessen, hingab und daß sie in den Dörfern des Aregaues betteln ging, um den Armen und Kranken zu helfen. Allzugern hätte Karl, der Kaiser der Christenheit, die tugendsame Maid gesehen und um ihren Segen gebeten; aber als er von Lufthildis erfuhr, war es zu spät, sie aufzusuchen, denn die Nacht war schon hereingebrochen.
Am nächsten Tag erhob sich der Herrscher früh von seinem Lager und mit ihm sein Gefolge, die ritterlichen Paladine und die große Schar der Knechte. Hifthörner bliesen den morgendlichen Jagdruf über Eifelberg und Tal. Die Waldkundigen, die in diesem Lande wohnten, hatten dem Kaiser berichtet, daß ein gewaltiger Hirsch in den Wäldern hause, ein stattliches Gewild, wie man es seit Hunderten von Jahren noch nie gesehen, höher als ein Mann sei seine Größe, und die Enden seines Geweihes seien so zahlreich und so degenspitz, daß alle Tiere des Waldes, aber auch die Menschen ihm aus dem Wege gingen. Der Hirschschrei sei so gewaltig, wurde dem lauschenden Kaiser berichtet, daß man ihn noch in den fernsten Dörfern vernehme, daß er die Kinder aus dem Schlafe schrecke. Das war eine gar fröhliche Kunde, die Karl da vernahm. Er befahl den Herren, aufzusitzen und dem waldkundigen Führer zu folgen. Tief und tiefer drang der Jagdzug in das Reich der Wälder ein. Und der Wald schien unermeßlich, schien ohne Grenze und Ende zu sein.
Gegen Mittag rasteten die Jäger. Während sie beim Mahle saßen, erscholl mit einem Male aus der Ferne der zornige Ruf des starken Hirsches. Da sprangen sie von ihren Sitzen empor, griffen zu den Waffen und ritten auf schäumenden Pferden dem Kaiser nach, der allen schon weit voraus stürmte. So ging eine halbe Stunde dahin. Dann kamen sie unweit von Walpretishoven, dem heutigen Walporzheim, auf eine Lichtung, durch deren Gefild die Ahr rauschte und wo zur Rechten sich ein Fels erhebt, der einem Herrscherstuhle aus festem Steine glich. Da stand der Hirsch vor ihnen. So groß war ihr Staunen und Erschrecken, daß sie ihre Pferde in den Schatten der Bäume zurückdrängten. Nur Karl, der vom Roß gesprungen war, ging furchtlos dem Tier entgegen. In der Linken hielt er den Schild, in seiner Rechten trug er den funkelnden Speer. Da brach der Hirsch vor. Er senkte den Kopf mit dem Geweih, und die Spitzen waren wie viele scharfe Dolche. Ein erbitterter Zweikampf hub an, oftmals wurde der Leib des Wildes getroffen. Aber auch der Schild des Kaisers riß unter den wütenden Stößen mehr und mehr. Da geschah es, daß der schon ermüdete Herrscher eine ungeschickte Wendung machte. In diesem Augenblick fuhr ihm einer der Geweihdolche in die Brust. Er brach zusammen, und der Hirsch entfloh. Die Paladine hoben behutsam den todblassen Kaiser empor und setzten ihn auf jenen Stein, den die Natur einem Stuhle ähnlich gebildet hat, der seitdem Kaiserstuhl genannt wird. Obwohl Karl ein Sterbender war, schien er auch jetzt noch als Herrscher der Welt zu thronen. Die Ritter beugten sich über ihn, und jeder sah, daß das Leben blutrot verströmte. Karl hatte die Augen geschlossen, und das bleiche Haupt neigte sich an die Felsenlehne. Nun aber öffneten sich seine Lippen und alle vernahmen, wie er nur das eine Wort flüsterte: „Lufthildis ….!“
Da jagten zwei der reittüchtigsten Ritter davon, die heilige Magd zu holen. Es dauerte gar nicht lange, da kam sie auch schon, auf dem Pferd des einen der ausgesandten Herren sitzend. In ihrer Hand trug sie eine Spindel. Denn als die beiden Ritter sie in ihrer Waldzelle fanden, war sie gerade dabei gewesen, Kleider zu spinnen für die Armen. Eilig, aber voller Bescheidenheit trat sie zum Kaiser hin und kniete. Sie sah in sein Gesicht, das schon im Schatten des nahenden Todes lag, sie hörte seinen Atem, auf dem der Name Christus schwang, da kam Gottes Befehl über sie: Sie legte die Spindel auf die furchtbare Wunde, und siehe da: das Blut hörte auf zu fließen und die Wunde ward verschlossen! Der Kaiser wachte auf, das Wunder hatte ihn wieder ganz zum Leben gebracht, er sah die fromme Magd und sagte: „Du hast mir mein Leben gerettet. Zum Lehne will ich dir schenken, was du für deine Dienste an den Armen brauchst: Soviel Land sei dein Eigentum, wie du in der Zeit umschreitest oder umreitest, während ich schlafe. Denn müde bin ich von der schweren Not.“
Da besann sich die Heilige nicht einen Augenblick: Für die Armen galt es zu gewinnen. Sie schwang sich auf den edelsten Renner, den sie sah, sie ließ das Holz der Spindel zur Erde gleiten, und während sie dahinjagte, rollte der Faden, dessen Ende sie in der Rechten hielt, in Eile ab. Sie fürchtete nicht Gezweig und Dorn; sie ritt dahin, als gelte es ihr Leben, aber es ging nicht um das ihre, sondern um das der Armen.
Lange schlief der Kaiser, und just im Augenblick, als er erwachte, kehrte auch Lufthildis vom stundenweiten Ritt zurück. Da war auch gerade die Spindel abgerollt.
„Du hast dir viel durch deinen Ritt gewonnen, Gottesmagd, mehr als einer meiner Ritter sein eigen nennt. Aber ich gab mein Wort, und deinen Armen soll gehören, was du auf heiliger Jagd erritten hast.“
Er kniete und neigte das Haupt. Mit ihrer Spindel zeichnete sie das heilige Kreuz über den Herrn des Abendlandes.