Die Situation des Arztes – Ein Beruf in der Krise?

VON DR. NORBERT NIKOLAI

Am Ende des Jahres 1973 wurde Herr Dr. med. Dr. phil. Erich Both als langjähriger Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Maria Hilf in Bad Neuenahr verabschiedet. Bei der Würdigung seiner Arbeiten als Physiker und Arzt kamen Gedanken auf, die den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaften und Medizin aufzeigen. Einige Gesichtspunkte zur Problematik des modernen Arzttums sollen hier ausgeführt werden.

Die Medizin als Wissenschaft hat in den letzten hundert Jahren einen ungeheuren Aufschwung genommen. Über drei Jahrhunderte war die Anatomie, die Kenntnis vom festen Aufbau des menschlichen Körpers, Grundlage der Medizin und Ausgangspunkt jedes ärztlichen Studiums. Im 19. Jahrhundert kamen mehr und mehr die Erkenntnisse aus Physik und Chemie der Medizin zugute, die technische Entwicklung gestattete den Einblick in bisher verborgene Details, so daß zunehmend die funktionellen Abläufe im menschlichen Organismus begriffen wurden. Mit diesem Begreifen erweiterten sich die Möglichkeiten der Diagnostik, und das Erkennen der Krankheitsursachen ermöglichte die Therapie. Der Nachweis von Bakterien als Krankheitserreger, die Entwicklung der Narkose, die Möglichkeit der Röntgenuntersuchung sind markante Meilensteine auf diesem Weg im letzten Jahrhundert. Wenn wir die Nachkriegsentwicklung mit dem Aufkommen neuer, hochwirksamer Arzneimittel, mit der Nutzbarmachung von Elektronik und radioaktiven Stoffen hinzunehmen, so hat sich in der Medizin ein solcher Wissenstoff angesammelt, daß er von keinem auch nur annähernd übersehen werden kann. Die notwendige Folge war die immer mehr ins Detail gehende Spezialisierung der medizinischen Wissenschaft. Diese Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften sind die Voraussetzung für jegliche Diagnostik und Therapie, ohne diese Kenntnisse wäre der Arzt ein Kurpfuscher. Andererseits ist hier die Grenze, die den Naturwissenschaftler und Techniker vom Arzt unterscheidet. Es kann nicht die Krankheit behandelt werden, die in technischer Perfektion durch das Zusammensetzen der Mosaiksteinchen moderner Diagnostik erkannt ist – vor dem Arzt steht vielmehr der Mensch, der „patiens“ als derjenige, der durch seine Krankheit leidet. Und diesem Leidenden ist der Arzt konfrontiert, ihm soll er helfen in seiner Angst, seinem Schmerz und vielleicht seiner Auswegslosigkeit. Diese Hinwendung zum Mitmenschen, seine Humanitas, setzt voraus, daß der Arzt selbst in einem inneren Gleichgewicht steht, daß er seine Emotionen und Leidenschaften beherrscht. Und sie setzt einen festen Standpunkt voraus, der ihm Autorität verleiht, sei die Grundlage seiner Humanität mehr vom Christentum, mehr vom Sozialismus oder aus anderer Weltanschauung begründet. Es ist einleuchtend, wie sehr sich das Bild des Arztes im letzten Jahrhundert gewandelt hat – aber auch beim Patienten haben sich tiefgreifende Wandlungen vollzogen. Zunächst nimmt der Patient Anteil an den Errungenschaften der Naturwissenschaften und der Technik, er ist mehr und mehr orientiert über Gesundheit und Krankheit, über Medikamente, Diät und Lebenserwartung. Auf Grund seines Wissens verlangt er Aufklärung über seinen Gesundheitszustand – und das mit Recht. Er will nicht nur den Segen der Therapie, er will die Diagnose. Er sucht sich seinen Spezialisten aus, und seine erfreuliche Aufgeschlossenheit zur Vorsorge von Krankheiten mündet leider schon zu oft in der „Generalüberholung“ als Lebensversicherung für die nächsten zwei Jahre.

Hinzu kommt ein Weiteres: der Mensch trug früher allein das Risiko von Gesundheit und Krankheit, mit ihm trugen es allenfalls Familie und Sippe. Die Gesellschaft spielt heute eine sehr viel stärkere Rolle. Die Krankheit trifft nicht nur das Individuum, sie trifft den Betrieb des Kranken genau so wie die Versicherung, in der sozialen Verflechtung aller Bürger trifft jede Krankheit des einzelnen die Gemeinschaft aller. Es genügt nicht „krank zu sein“, der Patient muß auch „krank geschrieben werden“.

In diesem Spannungsfeld steht heute der Arzt: Er soll immer mehr wissen, er muß viel mehr Psychologe sein als ein patriarchalischer Lehrer, und er übernimmt nicht nur die Sorge für seinen Patienten, sondern auch eine zunehmende Verantwortung für die Gemeinschaft. Andererseits gibt es kaum ein Berufsbild, das emotional so unterschiedlich beurteilt wird wie das des Arztes.

Hier wird er in den Illustrierten gefeiert wegen größter operativer Leistungen – wiewohl dem kritischen Blick solch heroische Taten bisweilen fragwürdig erscheinen -, dort wird er als „Halbgott in Weiß“ verschrien. Hier erwartet man, daß er immer und überall bereit ist zu helfen, dort wird Stück um Stück seiner beruflichen Freiheit abgebrochen, und dies obwohl man weiß, daß Hilfe nicht befohlen werden kann und daß die Humanitas die freie Entscheidung voraussetzt. Wir wollen keine weiteren Emotionen wecken, der Arzt ist kein Übermensch, und es soll nicht geleugnet werden, daß es bessere und schlechtere Ärzte gibt und daß nicht jeder jederzeit bereit ist, auf verdiente Ruhe und Freizeit zu verzichten.

Auch der Arzt unterliegt – mehr oder weniger – dem Zeitgeist und ist mitgeprägt von seiner Umwelt.

Die Spezialisierung führt mehr und mehr zum Einsatz der Technik. Über Gesundheit und Krankheit sollen Listen mit Daten und Kurven entscheiden, Detailfotos und Stapel von Röntgenbildern – mit der diagnostischen Ausweitung steigen die Risiken der Untersuchung für den einzelnen, und es steigen für die Allgemeinheit die Kosten sprunghaft an, daß bei gleichem Wachstum der finanzielle Zusammenbruch errechenbar ist. Die Technik überwacht bei Schwerkranken Atmung, Puls, Blutdruck, die Herz- und Gehirnfunktion – alle Parameter können bereits vor der Tür des Krankenzimmers am Schaltpult abgelesen werden. Der Mediziner ist beruhigt, der Patient nicht. Ihm ist die Hand der Schwester, die den Puls fühlt, lieber. Und der Arzt selbst – er untersucht den Patienten fünf Minuten, er braucht aber das Mehrfache an Zeit, um alles genau aufzuschreiben, zu beurteilen, mitzuteilen, zu bewerten und zu verrechnen. Jede Leistung muß nachprüfbar sein, denn jede Leistung ist versichert, und alles und jedes muß bescheinigt werden. Diese Arbeiten steigen mit der Ausweitung der Praxis, und sie übersteigern sich mit der Größenzunahme unserer Krankenhäuser. Je moderner und größer ein Krankenhaus, um so mehr bedient man sich technischer Neuerungen, organisatorischer Planung, kurz allem Perfektionismus moderner Betriebsführung. In diesem Management wird der Arzt verwaltet, und er verwaltet selbst.

Man mag dies bedauern, aber können wir diese Entwicklung ändern? Können wir noch ein Menschenbild vertreten, das geprägt ist vom humanistischen Ideal, in einer Zeit, in der Schulen und Universitäten Wissen oft als wertfreie Information vermitteln, in der die altruistischen Ideale der Jugend umfunktioniert werden zur Systemüberwindung, in der die Hilfeleistung allzuoft bemessen wird nach dem zu erwartenden Vorteil, und in einer Zeit, in der die Keimzelle der Humanitas, die Familie, in ihrem Zusammenhalt immer früher auseinanderfällt.

Die soziale Gesundheitspolitik legt Wert auf bestmöglichste Ausbildung von Ärzten und Schwestern, auf exakte technische Leistung, sie betont die Vorsorgemaßnahmen zur Erhaltung der Arbeitskraft und sorgt sich darum, daß alle medizinischen Möglichkeiten allen zugute kommen. All das ist gut und wünschenswert. Der Gesunde sieht hierin die Priorität, der Ruf des Kranken geht aber nicht nach demjenigen, der sich um bestmögliche medizinische Technik und Rezeptur bemüht, sondern nach dem, der sich für ihn engagiert, der um sein Leid weiß und der ihm durch seine Autorität den Halt gibt, nicht nur die Krankheit zu überwinden, sondern auch die veränderte Situation, die durch die Krankheit entstanden ist, zu meistern. Deshalb genügt es nicht, wenn Spezialisten immer mehr wissen, aber nur deshalb, weil ihr Fach immer kleiner und ihr Blickwinkel immer enger wird. Deshalb nützt es nichts, wenn der Patient von einem Spezialisten zum anderen geht, um zu erfahren, daß von „seinem Fachgebiet aus“ alles in Ordnung sei. Die Erfahrung lehrt ferner, daß die bestmögliche Versorgung der Kranken durch angestellte Schwestern und Ärzte im Schichtdienst der Ambulatorien keineswegs gewährleistet ist. Was wir brauchen sind Ärzte, die mit guten und soliden naturwissenschaftlichen Kenntnissen sich das Humanum bewahrt haben. Humanitas aber bedeutet die Fähigkeit, Beziehungen an bahnen zu können zwischen den innersten In halten zweier Persönlichkeiten (Dörr und Quadbeck).

„So steht das ärztliche Handeln auf zwei Säulen: einerseits der naturwissenschaftlichen Kenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität. Der Arzt vergißt nie die Würde des selbstentscheidenden Kranken und den unersätzlichen Wert jedes einzelnen Menschen.“ Aus diesen seinen Gedanken heraus glaubt Karl Jaspers, daß „die mögliche Erneuerung der Idee des Arztes ihren bevorzugten Ort heute beim praktischen Arzt hat, der ohne Autorität von Klinik und Amt mit dem Kranken in dessen wirklichem Leben zu tun hat“.

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