Die Mistel
– ein unliebsamer Baummieter unserer Heimat
Von Heinrich Thiebes
Im Spätherbst, Winter und Frühjahr, wenn die Bäume ihres Blätterschmuckes beraubt sind, fallen auch dem ungeübten Beobachter die grünen, runden Büsche im kahlen Baumgeäst auf. Es ist die Mistel, die auch in unserer Heimat noch zahlreich vorkommt. Sie erreicht bisweilen einen Durchmesser von vier Metern und ist kaum zu übersehen. Mistelbüsche mit armdickem Stamm sind keine Seltenheit. Die Mistel ist eine immergrüne Pflanze, deren Blätter lederartig und von dunkelgrüner Farbe sind. Die dicke Oberhaut der Blätter schützt vor zu starker Verdunstung. Im Winter ist dieser Schutz von besonderer Wichtigkeit. Bringt man abgeschnittene Mistelzweige ins warme Zimmer, so behalten die Blätter wochenlang ihr frisches Aussehen. Nur langsam werden sie gelblich und vertrocknen. Im Frühjahr und Herbst werden Blätter abgeworfen, jedoch nicht alle. Die gegenüberstehenden Blätter an den Enden der Zweige überdauern meist den Winter und den folgenden Sommer.
Die Mistel hat sich in ihrer Lebensweise den verschiedenen Wirtspflanzen angepaßt. Danach sind drei Arten zu unterscheiden:
a) LAUBHOLZMISTEL (viscum album) Sie befällt Apfelbaum, Pappel, Ahorn, Linde, Eberesche, Salweide, Robinie. Auf Birnbäumen ist sie selten geworden, während sie im Mittelalter hier häufig angetroffen wurde. (Die hl. Hildegard von Bingen erwähnt die „birnboummisteln“.) Auch auf Eiche und Kirschbaum ist die Mistel sehr selten. Bäume mit glatten Rinden befällt sie fast nicht: Birke, Platane, Hasel. Noch nie wurde sie auf Rotbuche und Ulme gefunden.
b) FÖHRENMISTEL (viscum pini) Sie befällt in der Hauptsache die Waldkiefer und Fichte.
c) TANNENMISTEL (viscum abietis) Sie kommt auf der Weißtanne vor. Eigentümlich ist, daß jede Rasse nur auf einer bestimmten Gruppe von Bäumen zu finden ist. Ihre Samen können nicht auf den Wirtspflanzen der ändern keimen. Verschleppt also eine Misteldros-, sel Samen einer Föhrenmistel auf einen Apfelbaum, so besteht keine Anstek-kungsgefahr.
Dem Beobachter drängt sich die Frage auf: Wie kommt die Mistel auf den hohen Baum? Unsere Vorfahren, denen das Wachstum der Pflanze noch ein Geheimnis war, meinten, die Büsche seien vom Himmel in die Bäume gefallen. Dies werden heute selbst unsere Kinder nicht mehr glauben. Wie können die Büsche aber dort oben wachsen, wo sie doch keine Wurzeln haben, die zum Erdreich führen, wie etwa der Efeu? Wer gibt ihnen Nahrung? Wer hat sie da oben in die höchsten Wipfel gepflanzt? — Die Frucht ist eine erbsengroße, weiße Beere, die im Winter von den Drosseln, insbesondere den Misteldrosseln, gerne gefressen wird. Der Samen ist in einen zähen Schleim eingehüllt. Die Vogelfänger früherer Zeiten stellten aus diesen Beeren den Leim für die Fangruten her. Streicht ein Vogel den beschmutzten Schnabel an einem Ast ab, so leimt er den Samen gleichsam dort an, wo er sich entwickeln kann. Auch durch den Kot der Vögel werden die harten, unverdaulichen Samen auf die Baumzweige gebracht, und selbst der Regen vermag den Samen nicht wegzuspülen. Früher war man der Meinung, die Samen könnten nur dann keimen, wenn sie durch den Darm eines Vogels gewandert seien. Darin hat man sich aber geirrt. Cornel Schmitt erzählt, daß man in Bayern Misteln auf Weißdorn züchtet, indem man die Samen auf die Rinde klebt. So gewinnt man Mistelzweige für den Weihnachtsmarkt. Bei der Keimung, die im Mai beginnt, weicht die Rinde auf, und ein Senker — eine Art Wurzel — wächst hindurch bis auf das Holz. In jedem Jahr wächst ein frischer Jahresring um den Senker, so daß dieser schließlich tief im Holze steckt. Da die Mistel ihre Senker in den jüngsten Holzschichten, die den Saftstrom führen, hat, fehlt es ihr nie an Wasser und an den aus den Bodensalzen gelösten Nährstoffen. Das ist leicht zu beweisen, indem man einen Wirtszweig mit angewachsener Mistel in rote Tinte stellt. Nur die kleinsten Senker färben sich rot; sie sind also mit den Saftleitungen der Wirtspflanze verbunden. Die Luftnahrung kann die Pflanze mit ihren grünen Blättern selbst aufnehmen. Darin schädigt sie den Baum nicht. Sie ist somit ein Halbschmarotzer.
Die Eigentümlichkeit der Pflanze, hoch oben in den Kronen der Bäume wohnen zu können und sogar im Winter ihr grünes Kleid zu bewahren, hat der Pflanze schon seit undenklichen Zeiten ein hohes Ansehen bei den Menschen verliehen. Die Germanen hielten sie sogar für ein heiliges Gewächs. Baldur, der Lichtgott, schaute einst im Traum seinen nahen Tod. Freia, die Göttermutter, verlangte von Feuer und Wasser, Bäumen, Steinen und Erden und von allen Tieren, daß sie Baldur nichts zuleide tun sollten. Auf das Geheiß der Göttermutter eilten die Götterboten zu allen Geschöpfen und ließen sie den feierlichen Eid schwören. Das rief den Ärger Lokis, des Gottes der Finsternis, hervor. Eilig schlich er sich als altes Weib zu Freia und entlockte ihr das Geständnis, daß der Mistelzweig nicht geschworen hätte, weil er ihr zu unscheinbar war. Loki ging hinaus zur Mistel, streifte einen Zweig ab, spitzte das Ende scharf zu und verwandelte den Mistelzweig durch Zauberspruch in ein todbringendes Geschoß. Im Götterhimmel Walhall prüften die Götter die Unverletzbarkeit Baldurs. Baldurs Bruder Hödur, der blinde Wintergott, stand untätig beiseite. Loki drückte ihm den Mistelzweig in die Hand und sprach: „Wirf auch du nach deinem Bruder!“ Hödur warf, traf — und Baldur sank tot zu Boden. Loki erhielt seine wohlverdiente Strafe. Die Götter aber warfen die Mistel aus dem Himmel, und sie kam auf die Bäume unserer Erde, wo sie als „Heilig Heu“ bis in alle Ewigkeit weitergrünen muß. So war also die unscheinbare Mistel der Tod des Lichtgottes geworden.
Bei den Kelten schnitt der heidnische Priester am Tage von Baldurs Auferstehung (Neujahrstag) mit goldener Sichel vor allem Volke die Mistel feierlich vom Baume. Männer fingen sie in schwarzen Tüchern auf. Wer das Glück hatte, einen Zweig zu erhaschen, hatte im neuen Jahr Glück und Segen zu erwarten. Beim Abschluß der Feier wurden die weißen Stiere, die den Wagen des Priesters gezogen hatten, geopfert. Das Blut wurde mit der Mistel zu einem Heiltrank verkocht, der als sicheres Mittel gegen Krankheit, Gift und Zauberei heilig gehalten wurde.
Die alten Griechen glaubten, mit einem Mistelzweig die Pforten der Unterwelt öffnen zu können.
Im Mittelalter fand die Mistel als Wünschelrute Verwendung. Als glückbringendes Amulett wurden Zweigstücke unter den Kleidern getragen. War ein Mistelbusch am Stallpfosten angebracht, glaubte man, vor Feuer und Tierkrankheiten sicher zu sein. Um die Obstbäume gebundene Mistelzweige sollten vor Raupenfraß und Hagelschlag bewahren und eine volle Obsternte bringen.
Früher fand die Mistel gegen Krämpfe und Epilepsie Verwendung, und heute stellt man aus ihr Präparate gegen zu hohen Blutdruck her.
Seit etwa drei Jahrzehnten werden die Mistelzweige auch in Deutschland auf den Weihnachtsmärkten und in Blumenläden als beliebter Weihnachtsschmuck verkauft. Den Engländern gilt sie noch heute als das Sinnbild des wieder erwachenden Lebens. Sie nimmt bei ihnen die Stelle unseres Weihnachtsbaumes ein. Wie stark die Mistel das Gemütsleben der Engländer beeindruckt, erhellt aus dem Märchen, das die englischen Mütter zu Weihnachten ihren Kleinen erzählen: Es waren einmal zwei Jungen, gleichen Alters und im gleichen Dorfe geboren. Sie waren große Freunde und immer zusammen. In der Schule wurden sie nur „die zwei Freunde“ genannt. John sah blendend aus und hatte schwarzes Haar. Jack dagegen war bleich und blond. Die Jahre vergingen, und die Freunde wurden Männer. Die Geschichte dieser Freundschaft wurde im ganzen Lande bekannt, und sie gelangte auch zu den Ohren des Königs im Märchenland. Eines Tages kam der König mit seinen Elfen und sagte zu John und Jack: „Da ihr die größten Freunde in der Welt seid, will ich einem jeden einen Wunsch erfüllen.“ John und Jack antworteten wie aus einem Munde: „Bitte, König, jetzt noch nicht!“ Also ritt der König wieder zu seinem Lande zurück. Nach zehn Jahren kehrte er wieder; aber die Freunde sagten abermals: „Bitte, König, jetzt noch nicht!“ Alle zehn Jahre wiederholte sich dies. Als sie nun Greise geworden waren, sagten sie zum Märchenkönig: „Unser Wunsch ist, daß, wenn wir gestorben sind, wir immer zusammen bleiben dürfen.“ — „Das kann ich euch nicht gewähren“, entgegnete lächelnd der Feenkönig, „aber einmal im Jahre dürft ihr euch treffen.“ John wurde in eine Stechpalme, Jack in eine Mistel verwandelt. — Die Mutter beschließt das Märchen mit den Worten: „Wenn du, Kind, Weihnachten dein Haus mit Stechpalme und Mistel schmückst, führst du die zwei Freunde zusammen, und dann sind sie so glücklich wie du.“
Erfreut aber sind nicht die Gärtner, Obstbauern und Förster, die die Mistel nicht gerne sehen. Durch Polizeiverordnung wird verfügt, daß die Obstbäume von Misteln freizuhalten sind. Zur Bekämpfung wird der von einem Mistelbusch behaftete Ast abgesägt. Ist er in der Krone unentbehrlich, schneidet man den Busch samt seiner starken Wurzel ab und bestreicht die Wunde. Da aber mit der Entstehung neuer Mistelbüsche an der : gleichen Stelle zu rechnen ist, empfiehlt es sich, den Ast 60—70 cm unter- und oberhalb der Mistelpflanze mit Packleinen i oder Dachpappe recht fest zu umwickeln. So können neue Pflanzen nicht entstehen. Auf den Laubbäumen unserer Anlagen , sollte man jedoch den beliebten Winterschmuck, damit er nicht völlig ausstirbt, in erträglichem Maße wachsen lassen.