Die mißglückte Ahrfahrt
von Heinz Graef
Nachdem die Düsseldorfer Landschaftsmaler das Ahrtal zu ihrer Studienkammer gemacht und mit Hilfe ihrer Leinwände die geheimen Reize der wildzerklüfteten Gegend aller Welt gerühmt hatten, bemächtigten sich die Bonner Studenten des weinseligen Erdenwinkels, die ausklingende Malerromantik durch die Burschenromantik abzulösen. Sie pflegten, da sie zuweilen nichts besseres zu tun wußten, ihre Kneipfahrten in das Tal des Ahrbleicharts zu machen, von dem schon der Dichter des Oberhof in seinem Reisetagebuch schmunzelnd verzeichnet hatte, daß er dem stärksten Burgunder an Feuer und Schwere nichts nachgebe.
So rumpelte denn auch an einem Pfingstmontag — im Kurpark von Neuenahr ergingen sich die ersten Panamahüte und roten Sonnenschirmchen — ein mit baumelnden Beinen und winkenden Armen beladener Landauer die Grafschaft herunter. Die beiden Pferde, ein Schwarzer und ein Brauner, trugen nickende Fliederzweige im Kummet, während die goldverschnürten Pekeschen und seidenen Mützen der Musensöhne in der Sonne funkelten und blitzten und übermütiges Singen, zu dem Arme und Beine den Takt schlugen, die leisbewegte Luft erfüllte. Da es in jenen Jahren der allgemeine Brauch war, die Illusion für die Wirklichkeit zu nehmen, obwohl die Wirklichkeit im achtundvierziger Jahr, zwar zaghaft noch, aber doch schon mit Flintenschüssen gegen dieses Mißverständnis aufbegehrt hatte, hätte man den seidenen Herrchen ihren Übermut gerne gegönnt, wäre er nicht zur Demütigung für die rissigen Hände und krummen Buckel der Winzer geworden. Es mochte also keiner von den feudalen Korpsbrüdern ahnen, daß sie, noch ehe die müdgewordene Sonne hinter den Ahrbergen zur Ruhe ging, eine Lektion mit nach Hause nehmen würden, die ihnen sehr handgreiflich zeigte, daß auch der einfache Mann eine Ehre hat, die selbst der Schnürenrock und das Einglas nicht antasten dürfen. Das singende Gefährt, dem die Neuenahrer lächelnd oder kopfschüttelnd nachsahen, ratterte bald darauf durch eines der mächtigen Tore von Ahrweiler, vor dem zwei altertümliche Geschützstücke wie verlorene Spielzeuge herumstanden. Da eben das Hochamt mit vollem Orgelschwall zu Ende ging und der Marktplatz sich mit Menschen füllte, erregte es auch hier nicht geringes Aufsehen. Inzwischen wartete im Wirtsgarten von St. Peter, den Kinkel in seinem Ahrbuch übers Bohnenlied gepriesen hatte, geduldig das schimmernde Festtagsgedeck, von dem das zarte Fleisch der frischen Forellen in die hungrigen Mägen der Bonner Herren wandern sollte. Bald klapperten denn auch die Gabeln und klangen die Gläser, in denen der Rote wie flüssiger Rubin funkelte, und als sie die von Gesang und Staub heiseren Kehlen mit beträchtlichen Mengen „Walporz-heimer Himmelchen“ befeuchtet hatten, stiegen ihnen Wein und Willkür gleichermaßen in die erhitzten Köpfe, so daß nichts mehr vor ihnen sicher war und die nicht eben prüde Kellnerin sich vor ihren losen Spaßen und derben Liebkosungen keinen Rat mehr wußte. Erst als sie noch einige leere Flaschen an der Gartenmauer zerschellt hatten und der herbeigeeilte Wirt in Begleitung des sehnigen Hausknechts zur Zahlung aufforderte, bequemten sie sich, dieser Pflicht nachzukommen. Dann stolperten sie schimpfend wie die Rohrspatzen auf die Straße. Sie lümmelten sich, schon ein wenig unsicher, auf den Landauer und hieben dem eingenickten Kutscher den Zylinderhut in den Kopf, daß der erschreckt auffuhr, die Zügel ergriff und auf die Pferde lospeitschte, die, wie von Bremsen gestochen, durch die schmalbrüstigen Gassen davonrasten. Erst hinter der Felsnase der Bunten Kuh, der sie mit dreimaliger Verbeugung und einem im Chorus gebrüllten „Muh“ ihre Reverenz erwiesen, fielen die Gäule wieder in gemächlicheren Trab und trotteten nun eine geraume Weile dicht am Ufer der Ahr entlang, deren von Forellen durchspieltes Blau in der Pfingstsonne glimmerte und blitzte, als sei es aus blankem Schmelzglas. Sie fuhren am barocken Äbtissinnenhaus von Marienthal vorbei und hatten nun die breiten Flußaue zu ihrer Linken, auf der die Weiden ihre silbrigen Blätter schüttelten und die schlanken Flammen der Napoleonspappeln ihre Wipfel in einer goldklaren Luft schwankend bewegten. In Dernau hängte sich dem Gefährt ein Schwärm von Kindern an, denen das trunkene Gebaren der Studenten fröhliches Lachen und Jauchzen entlockte. Einer der Bacchusbrüder, dem ein Einglas im Auge klemmte, bedeutete dem Faktotum, er möge halten. Er fuhr sich darauf in die Taschen und brachte eine Handvoll Kupfermünzen zu Tage, die er auf die Köpfe der Kinder herabregnen ließ. Jubelnd und schreiend machten sich die Kleinen darüber her, und bald, im Schmutz und Staub der Landstraße rollend, kämpften sie um die armseligen Pfennige, mit denen sich Obermut und Dünkel ein Schauspiel gaben. Ob dieses Gaudiums waren die mittagsmüden Schnürenröcke wieder munter geworden, und während der mit dem Einglas eine halbvolle Rotweinflasche über die Rücken der Balgenden ausschwenkte, lehnten sich andere über den Wagen hinaus und entleerten den schalen Inhalt ihres Mundes auf das emsige Gekrabbel da unten, daß der Sonntagsstaat der Mädel Sprenkel und Tupfen zeigte, als stäken sie in Forellenhäuten. Schon liefen einige Männer, von ihren Frauen verständigt, schimpfend und fluchend herbei, um den Frevel gebührend zu vergelten, als die Pferde plötzlich davongaloppierten und den Geschädigten nichts blieb als ein paar lange Nasen und ein schallendes Hohngelächter, das vom Rattern der Räder verschluckt wurde.
Bis Rech liefen die Pferde im leichten Galopp, denn die seidenen Herrchen fürchteten nun doch, mit den Fäusten der Winzer oder den Nägeln ihrer Frauen Bekanntschaft zu machen. Aber als sie auf der Recher Bogenbrücke den steinernen Nepomuk so still und steif stehen sahen, da meinten sie, er böte doch einen gar zu traurigen Anblick, und da sie des weiteren der Ansicht waren, der Brückenheilige habe in seinem Leben Wassers genug geschluckt, sprang der mit dem Einglas schnell vom Wagen und legte ihm die leere Pulle in die verschränkten Arme, daß es aussah, als gelte der inbrünstige Blick des Heiligen der Rotweinflasche statt des darunterliegenden Kruzifixes. Lautes Hallo begrüßte den Zurückeilenden, der von vielen Händen wieder auf den Wagen gelupft wurde, indes der steinerne Mann im Zwielicht frommer Heuchelei weiter dazustehen hatte.
Nun geschieht es meist, daß uns das Schicksal dort beim Kanthaken nimmt, wo wir uns längst außerhalb seines Bereiches wähnen. Als nämlich der Landauer vor der Lochmühle anlangte, saß in dem vollen Tanzsaal, dessen Fenster wegen der Hitze weit offen standen, der Josef Pfahl aus Ahrweiler, dessen muskulöse Arme an Werktagen die Säcke aus seines Vaters Mühle schulterten. Heute allerdings hatte er seinen Arm zärtlich und behutsam um die braune Gudula gelegt, die in einem Kreis gleichaltriger Mädchen und Burschen saß und sich an ihn kuschelte wie ein feines Kätzchen an einen gutmütigen Bernhardiner. Glühten die Backen der Schönen vom Tanz, so war es nicht auszumachen, auf wessen Konto die roten Köpfe ihrer Kavaliere zu setzen waren. „Auf das der Liebe“, meinten die einen; „auf das des Weines“, die anderen. Recht aber hatten vermutlich jene, die beides als Ursache gelten ließen.
Eben hatten die schwitzenden Musikanten die Blasinstrumente vor die prallen Backen gesetzt und die Tanzlustigen zu einem Rheinländer Aufstellung genommen, als plötzlich die Studenten, Stöcke und Mützen schwingend, hereinbrachen und unter Führung des Monokelträgers im Gänsemarsch mitten durch den Saal marschierten, so daß die Tanzpaare wie von einem fühllosen Keil auseinandergetrieben wurden. Hinter der ausgelassenen Schar trottete verdrießlich, den speckigen Zylinder in der Linken, die geschenkte Zigarre in der Rechten, das Faktotum, dessen äußere Haltung sich im Laufe wechselvoller Jahre dem Bewußtsein drückender Abhängigkeit angeglichen hatte.
Mit der rechten Lust am Tanzen war es nun aus; denn wenn auch die Mädchen ihren Kavalieren noch im Arm lagen und sich herumschwenken ließen, ihre heimlichen Blicke hingen doch mehr an den bunten Röcken der Studenten, die mittlerweile an einem leeren Tisch Platz gefunden hatten. Ja, dem Josef Pfahl schien es, als halte er statt der geschmeidigen Gudel eine starre Puppe im Arm; er mochte sich noch so drehen und wiegen, die Gudel blieb steif wie ein Stück Holz. Was, zum Henker!, war denn so plötzlich in die Mädel gefahren? Fast war es wie eine Erlösung, als die Blechmusik ausgeschrummt hatte und man sich verdrießlich wieder an den Tisch begab.
Da saßen sie nun mit hochroten Köpfen. Die Burschen vor sich ins Glas stierend, die Mädchen nach den Bonner Herren äugelnd, die ihnen heimlich Kußhändchen zuwarfen. Die grobtuchenen Kittel ihrer Liebhaber schienen allen Glanz zu verlieren vor den schnittigen Pekeschen und bunten Mützen, und sie überlegten im stillen, ob nicht ein Tänzchen mit den Studenten vorzuziehen sei, da sie ein solches Vergnügen ja nur einmal, das andere aber alle Tage haben konnten. Gesagt, getan! Als die Musik einen Walzer intonierte und die Bonner wie von der Armbrust geschossen auf sie zuflitzten, taten sie mit Eva-schlaue, als sähen sie die verdrossenen Gesichter ihrer Liebhaber nicht und gaben sich dem größeren Vergnügen mit Leidenschaft hin. Während die Mädchen mit glänzenden Augen und glühenden Backen an den bunten Röcken klebten wie Gimpel an der Leimrute, mußten die ergrimmten Burschen einen Tanz um den anderen auslassen. Sollten sie untätig zusehen, wie die Felle ihres Sonntagsvergnügens auf dem Wasser der Enttäuschung davonschwammen? Hatten sie sich ihr Vergnügen nicht sauer genug verdient? Sechs harte Werkeltage hindurch sich abgeschuftet und abgerackert? Die bunten Herrchen dagegen — das sah man ja! — die konnten sich sowas alle Tage leisten, sie brauchten nur zu winken. Während so die Eifersucht an ihren Herzen fraß und die düsteren Stirnen Rache brüteten, indes die Ungetreuen wie leichte Frühjahrsfalter im Walzertakt umherschwirrten, hatte der Josef Pfahl aus Ahrweiler seinen Plan bereits gefaßt.
Als nämlich bei der nächsten Tour das Einglas mit der braunen Gudel am Tisch der mißvergnügten Winzerburschen vorbeiwalzte, geschah es, daß sie mitten im schönsten Dreher über ein Bein stolperten, das weiter als schicklich in den Saal hineinragte, so daß der schwankende Tänzer und seine flatterherzige Partnerin mit unziemlichem Getöse zu Fall kamen, wobei dem Studenten das Glas aus dem weintrüben Auge fiel und auf dem Boden in unzähligen Scherben zerschellte. Die Gudel aber, mit beiden Beinen in der Luft rudernd, verriet von ihren Vorzügen ein wenig mehr, als dies in ihrer Absicht gelegen haben mochte.
Augenblicklich brandete ein schadenfrohes Gelächter durch den Saal, in das die Musik mit schmetterndem Tusch einstimmte. Die Schnürenröcke, die ahnen mochten, daß dem Vorfall eine dunkle Absicht zugrunde lag, ließen ihre Partnerinnen ziemlich unsanft stehen, wo sie gerade standen, und eilten herbei, dem so schmählich zu Fall Gekommenen wieder auf die Beine zu helfen. Der, jählings ernüchtert, erhob sich taumelig und mit blutleerem Gesicht und forderte zornbebend Genugtuung. Genugtuung? — Hatte man ihm denn noch nicht genug getan?, höhnte der Josef Pfahl und wuchtete sich in seiner ganzen Länge vor den Erregten hin. Wenn er aber noch mehr wünsche — gut, könne er haben! Darauf kommandierte er mit lauter Stimme: Tür auf! Packte den Widerstrebenden beim Kragen, warf ihn mit geübtem Griff, nicht anders als sei er ein Sack aus seines Vaters Mühle, über die Schulter, trug den Zappelnden zur Tür und beförderte ihn mit einem Schwung auf die Straße, wo er mitten in einem Haufen Äpfel landete, wie sie für gewöhnlich nicht auf den Bäumen wachsen.
Lautes Lachen und Bravorufen belohnte den gelungenen Apfelschmiß, der den Josef Pfahl zwar nicht zu einem Wilhelm Teil, doch immerhin zum Helden des Tages machte. Nun war die allgemeine Fröhlichkeit wiederhergestellt. Die Musik schmetterte einen Tusch, daß die Wände wackelten, und alles stürzte an die offenen Fenster, um der Schadenfreude noch ein Zipfelchen zuzugeben. Nur die verblüfften Schnürenröcke standen noch da und wußten nicht recht, was zu tun sein. Angesichts dieser Kraftprobe und der nichts Gutes verheißenden Gesichter der Burschen mochten sie, die mit Säbel und Schläger wohl umzugehen wußten, einsehen, daß hier ein Komment üblich war, dem sie nichts entgegenzustellen hatten, und so drückten sie sich schließlich einer nach dem anderen stillschweigend aus dem Saal.
Als letzter folgte das Faktotum. Strahlend wie ein zufriedener Impresario schwenkte er seinen speckigen Zylinder nach allen Seiten, als wolle er für das ergötzliche Lustspiel danken, in dem, vielleicht zum erstenmal in seinem dunklen und verworrenen Leben, nicht er die Rolle des Prügelknaben hatte spielen müssen.
Der nächste Tanz aber blieb als Solotanz und Ehrenrunde dem Josef Pfahl und der braunen Gudula vorbehalten. Zwar hatte die Scham über den davongetragenen Schimpf auf ihren Wangen noch immer eine brennende Röte zurückgelassen, so daß sie am liebsten auf und davongelaufen wäre, aber da langwierige und ernsthafte Konsequenzen weder ihrem leichten Blut noch ihrem klugen Köpfchen lagen, der Josef Pfahl anderseits großzügig genug war, ihr den kleinen Sündenfall nicht weiter nachzutragen, legten die beiden unter dem begleitenden Händegeklatsch der Zuschauer einen Walzer aufs Parkett, von dem die Gudel noch nach vielen Jahren erzählte, daß es der schönste ihres ganzen Lebens gewesen sei.