Die Maske von Dernau
Eine Anekdote von Theodor Seidenfaden
Die ganze Welt sei Bühne, und Männer wie Frauen, Kinder und Greise, die sich auf ihr bewegten, seien die Spieler eines Dramas in Jahrhunderten: so pflegte der sehr belesene Nades Funder, die Maske von Dernau, zu sagen, wenn er sich und den Gästen die dritte Flasche Ahrbleichart — eigenes Wachstum guter Lage — entkorkte und begann, eine der angeblich selbst er-. lebten Geschichten seiner zahlreichen und bewegten Jahre zu erzählen. Er, der wie Helmut von Moltke, der preußische Feldherr der Kriege 1866 und 1870/71, am 1. Januar 1800 geboren war — jener zu Parchim in Mecklenburg-Schwerin, er auf dem kleinen Weingute seines schon älteren Vaters zu Dernau an der Ahr —, behauptete: daß im selben Jahre die Engländer das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland ausgerufen, die Geldleute zu Paris die Bank von Frankreich gegründet hätten, Oliver Evens, der amerikanische Mechaniker, zur Hochdruck=Maschine, der englische Astronom und Physiker John Frederik William Herschel hinter den ultraroten Teil des Sonnenspektrums gekommen wären, daß gleichzeitig Johann Gottlieb Fichte sein Buch „Der geschlossene Handelsstaat“ herausgegeben und der Bonner Beethoven, der Freund der Ahr, zu Wien sein Klavierkonzert in c moll geschrieben und in der Kaiserstadt mit ihm zum erstenmal öffentlich konzertiert habe, sei gewiß bedeutsam; daß jedoch trotz diesen weltbewegenden Ereignissen auf den Dernauer Hängen Jahr um Jahr der Rote wachse, bedeute ihm, dem Dernau Mitte der Schöpfung bleibe, mehr; denn was Harmonie zwischen Göttlichem und Erdhaftem sei, lasse in vollem Maße nur der Ahrwein spüren, und Harmonie, meine er, sei das allein Lebenswerte!
Nades war das heute vergessene Mundartwort für Bernhard und Funder der Name eines dreihundertjährigen Winzergeschlechtes, dessen letzter Vertreter er war: der Witwer, der nach kurzer, kinderloser Ehe nicht wieder geheiratet, dafür aber einer merkwürdigen Liebhaberei gefrönt hatte — dem Harmonium=Spiele. Jeden Abend saß er, wenn die schwere Arbeit hinter ihm lag, eine Stunde an dem Instrument und spielte Choräle, auch kleine Fugen. Der Vater seiner Mutter, sein Pate, war Küster und Organist zu Dernau gewesen, hatte ihn, den begabten Enkel, unterrichtet, er selber sich aber nach dem Tode seiner Frau, als Dreißigjähriger, eines der neuartigen, erst um 1800 aufgekommenen Instrumente gekauft.
Welches der Dernauer Weingüter er erbbewußt bewirtschaftete, läßt sich nicht mehr feststellen. Wohl aber berichtet das Überliefern: er sei ein heller Kopf gewesen, habe die Kunst des Lesens und Schreibens beherrscht, auch gelehrten Stirnen gegenüber den Blick durchgehalten und sein Wort gefunden; er habe sich während der beiden letzten Jahrzehnte seines neunzigjährigen Daseins zu Berlin, in Wien, auch in Rom, Amsterdam und Hamburg umgesehen; das bartlose Gesicht sei zwar verrunzelt, das Augenpaar in ihm jedoch ein ständiges Glühen dunkelbrauer Tiefen gewesen, und die Lippen hätten jeden Betrachter spüren lassen, wie der Ahrwein Jahr um Jahr bei entsprechender Zungenspitze ihre Empfindsamkeit zu steigern vermöge!
Maske nannte man den sonderlichen Mann, weil sein Gesicht im Werktag unbewegt blieb, sich jedoch, sobald er erzählte, verwandelte und den Ausdruck der von ihm beschworenen Gestalten annahm, den schöpferischen Zauber demnach erfuhr, der in den Winzerstuben an Rhein, Nahe, Mosel und Ahr selbstverständlich ist. „Sankt Burkhardi Sonnenschein, schüttet Zucker in den Wein. Ich war zweiundfünfzig alt, und Bad Neuenahr gab es noch nicht, nur die drei Dörfer Beul, Wadenheim und Hermessen, die nicht älter und jünger sein mögen als Dernau: da ging ich, am elften Oktober, dem Burkharditage, kurz nach Mitternacht aus dem Walporzheimer St. Peter auf Dernau zu, und der Wein war gut gewesen.“ So begann der Nades am Silvesterabend des Jahres 1880, an dem er, den Achtzigsten zu feiern, mit dem noch jungen Lehrer des Dorfes, dem graubärtigen Förster und zwei ihm besonders geneigten Winzern in der Wohnstube seines Fachwerkes unter dem Licht der hängenden Öllampe saß und die siebte Flasche mit der Geschicklichkeit des erprobten Schenkmeisters öffnete.
Die Runde sah ihm an, daß der Schelm seines Wesens sich diesmal einem Prophetischen paare, demnach seine Erzählung mehr als das Gewohnte verspreche. Der Nades goß ein, und als er die leere Flasche zu den sechs vorangegangenen links neben seinen Sessel gestellt hatte — rechts warteten die nächsten Flaschen —, fuhr er fort: der volle Mond habe über den Bergen gestanden, wie wenn er dem ruhigen Wellengange der Ahr gelauscht hätte — da sei, gleich hinter Walporzheim, der Bischof Willibrord neben ihm auf Dernau zu geschritten, gleich lang und hager wie er, doch im Ornat und golden bestabt, und das sei ein Leuchten gewesen, dergleichen er nie gesehen habe; er, der Nades, gehe lieber mit den Geheimnisvollen um, die gewohnt seien, in mindestens drei Jahrtausenden zu denken und deshalb weise wären Wie Rotspon bester Lagen! „Ihr wißt um diesen Kelten“, erhob der Nades die immer noch valltönige Stimme, „den Patron der zehnhundertjährigen Pfarrkirche auf dem Beuler Hügel. Seine Wiege stand in Irland, und die Mutter war eine Frau stillen Schauens, der Natur eigenartig verbunden, überzeugt davon, daß sie mehr sei als Stoff, daß durch sie wie durch das Menschliche eine höhere Wertewelt wirke. Vor der Geburt des Sohnes träumte sie, ein Mond nähere sich schnell und entschieden ihrem Hause, trete ein und erfülle die stattlichen Räume mit unsäglichem Lichte! Sie erwachte, scheute sich jedoch, den Traum ihrem Gatten, dem hochmögenden Herrn, zu berichten, ließ sich dafür einige Tage später vom Schloßgeistlichen beraten, einem Greis zwischen alten Pergamenten, und wunderte sich, als der nach einer Weile stummen. Sinnens ihre Rechte nahm, sie küßte und beteuerte: der Traum deute darauf hin, daß sie einen Sohn gebäre, der gesegneter Lichtträger werde!“
Er habe, sprach der Nades, nachdem er den nächsten Schluck genommen hatte, den neben ihm Schreitenden genau beobachtet, sich über d«n Adel seines Profiles und die großen graublauen Augen des bartlosen. Gesichtes gewundert, so daß er gleich gewußt habe, die Legende sage wahr und sei darum Dichtung; diesem Manne müsse der Krist Bildner gewesen sein, weil ihm das Unendliche mit den zahllosen Weinbergen, Wäldern und Äckern, den Meeren und Flüssen, den nicht erkennbaren Sonnen unbedingt Bild, näm* lieh „Vater“ gewesen sei!
„Ich ging“, habe der Schreitende geflüstert, „durch die Schule des Klosters Rathmalsigi, ließ mich im dreiunddreißigsten Lebensjahre vom Bischof Egbert zum Priester weihen und blieb erfüllt von dem, was sich Freude an der Religion nennt: dem schöpferischen Drange jenes Heiligen Geistes, der stets neue unbetretene Wege suchen muß. Mir war die All-Fähigkeit des Irdischen, Wein und Brot ewigen Lebens sein zu können, Kraft der Wertewelt, die spürt, immer stärker sich mehrende Verwandlungen seien der Geschichte Stoff. Der Glaube an den Krist, dessen Mutter und die Heiligen überzeugte mich von der Tatsache, daß nichts vergänglich ist, was sie ergreift. Ich fuhr über Meer, dem Festlande zu, Sachsen und Friesen, denen die alten Götter noch lebten und nicht mehr zeugten, die für sie neue Kunde des Krist zu bringen Die Wasser, denen ich mich auf dem Wikingerschiff anvertraute, erschöpften sich mir nicht, wie es den Menschen deiner nüchternen Gegenwart geschient, lieber Nades, in chemischen Formeln. Daran hinderte meiner Mutter Erbe mich, die dem Jungen einmal gesagt hatte, wer ins klare Bachwasser spucke, der spucke Gott ins Auge. Ich hatte das in ihrer Gegenwart versucht, erfuhr mit ihrem Worte die grundlegende religiöse Belehrung meines jungen Lebens und war durch sie fortan „im Bilde“, dem Anschauen Gottes. An ihm aber lag es, daß ich die Wasser der Erde, Bach, Strom und Meer, die unscheinbare Quelle des Waldes, des Bergsumpfes als Göttliches verehrte und hütete. Die Sprache der Stürme, die meine Meerfahrt begleiteten, verstand ich als Kunde des Ewigen, das mich bestimmte, nicht Genießer väterlichen Reichtumes, sondern Gestalter, Aufbruch innerhalb einer Zeitenspanne zu sein, in der eine alte Welt versinkt und eine neue sich gebiert.“
So habe er, dämpfte der Nades die Stimme, den Stableuchtenden auf dem Nachtwege gehört und von ihm erfahren: um die Mitte des achten Jahrhunderts sei er gelandet, den Rhein hinauf nach Aachen gewandert und habe dort mit Pipin dem Kleinen, dem Frankenherrscher aus dem Geschlechte der Karolinger, verhandelt, sich seiner und des Papstes Sergius versichert und sei dann mit seinen Jüngern, dem kleinen Kreise Entflammter, der allein das Künftige trage, ins Herz der Götterländer vorgedrungen; der dänische König Ngantyr habe ihn, wiewohl er selber beim alten Weltbilde geblieben sei, wirken lassen und erfahren müssen, wie dreißig Jünglinge, Söhne alter Geschlechter, sich ihm, dem Schreiter über die Schwelle, im Wandel angeschlossen hätten; daß alles Bilden Sämannsarbeit sei, die langer Fristen bedürfe, bleibe Tragik und Größe dessen, was neues Leben des Geistes zeugen wolle! „Bei einer der Fahrten“ — mit der wörtlichen Rede verwandelte der Nades sich für seine Lauscher völlig in den flüsternden Bischof — „bei einer der Fahrten warf der Nordsturm mich mit den dreißig adligen Jünglingen auf die Insel Helgoland, die damals nach ihrem Quellengott Fortitesland hieß. Lebengläubigen Zeiten sind die Quellen stets heilig, behütet von Überirdischen. Ich hatte von der Inselquelle gehört, auch erfahren, aus ihrem Wasser dürfe nur der Kranke schöpfen, der gesunden wolle und werde, wenn er den Trunk wortlos nehme.
Ich ließ uns hingeleiten, die uns folgenden Friesen den Beginn einer neuen Weltstunde erleben zu lassen! Ich sah das reine Wasser, sah, wie die Jünglinge an meinen Blicken hingen, sah die Schar der Friesen, die ringsum stand und wartete, ob der Gott mich nicht zerschmettere, weil ich wagte, seine Quelle zu stören. Ich aber winkte dem ersten der Jünglinge, von denen keiner getauft war, näher zu treten, und als er neben mir, dicht an der Quelle stand — die Sonne leuchtete durch wolkenwandernden Meerhimmel —, sprach ich: reiner sei nichts als Wasser aus Quellen, und wie auch die Namen ihrer Götter wechselten — das Reine sei allen heilig ,und verbürge das ewige Leben der Seele! Dann beugte ich mich, schöpfte mit beiden, zur Schale gewölbten Händen Wasser und goß es dem Jüngling über das blonde Haupt, indem ich nun die Worte sprach, die zur Taufe gehören, das Unendliche als Vater, die Sohnschaft des neuen Lebensträgers und den Heiligen Geist des Schöpferischen beschwören. Da ich das dreißigmal wiederholen und der verehrte Gott sich nicht gewehrt, kein Abgrund sich geöffnet hatte, mich zu verschlingen, liefen die Friesen zu Radbaud, ihrem König, und meldeten ihm: der Fremde, den der Sturm auf die Insel gefegt habe, müsse ein Mächtiger sonderbarer Art sein! An drei aufeinanderfolgenden Tagen warf der König dreimal das Los über mich. Weil jedoch das Todeslos nicht fiel, ließ er mich rufen. Ich beherrschte die friesische Sprache wie das Irische meiner Heimat und das Lateinische. So konnte ich ihm dergestalt von dem ,Herrn der Elemente‘ und der Allmacht des Wassers sprechen, daß der König ausrief: ‚Trotz unserem Drohen sehe ich dich unerschrocken. Deine Worte sind Taten!‘ Seitdem durfte ich ungehindert zu allen Friesen kommen, wo sie auch an den Küsten des Nordmeeres wohnten. Die Quellen sind Bilder des seelischen Strömens meiner Botschaft, die dem Menschen unvergängliche Werte verbindet, damit er im Werktage nicht dem Teufel, dem Zerstreuenden, anheimfalle, sondern für immer die Kraft gewinne, sein Seelisches zu sammeln! Ich wirkte hinfort in den niederen Landen und am Rheine und ward der Schutzherr des heilenden Wassers. Der blieb ich, auch als mein Sterbliches sich auflösen mußte. Als dann das Jahr tausend vorüberging, ohne daß es dem Untergänge der Welt, dem Verschwinden des bekannten Planeten=Systems stattgab — die Dichtung meines Wirkens lebte wundersam zwischen den Völkern des Abendlandes —, weihte der Kölner Erzbischof die Kirche des Beuler Hügels auf meinen Namen und bestimmte, er solle hinfort dem Ahrtale bei allem Gestaltwandel ein Dauerndes verkünden, darin Erde und Himmel, das Unendliche als Einheit und unentrinnbare Gegenwart Gottes lebten; dazu müsse er die Quellwasser rings um den Hügel einem Segnenden entgegenführen. So sagte der Kölner am Tag der Weihe!“ Der Nades, der nicht vergessen hatte, trinken zu lassen und selber zu trinken, der sich an der Art freute, in der die Gäste seinen Wein und sein Wort ehrten, öffnete die achte Flasche. Er hielt es für natürlich, daß die gespannte Wißbegierde der Gäste bei einer solchen Pause nicht abfiel, sondern wuchs, und fuhr, als die Gläser neu gefüllt waren, fort, wie wenn er den Fluß seines Erzählens nicht unterbrochen hätte.
„Silvester 1880! So sagte der Leuchtende, stapfte den Stab auf die Erde, blieb stehen und forderte mich auf, schnell himmelwärts zu sehen: da werde ein Künftiges erscheinen! Erst einundzwanzig Jahre sei Neuenahr alt, das Bad der von ihm gehüteten Quellen; es werde wachsen und seinen Namen durch die Völker tragen; dann werde es Weltbad und einen Saal haben, darin Musikanten täglich, mitunter auch nachts wundersam musizierten, den Männern und Frauen, die kämen, in dem Heilwasser zu baden, den Frohsinn zu wecken, ohne den es unmöglich bleibe, gesund zu werden! Der Bischof schwieg, wies geradezu herrisch gegen Himmel — und gleich geschah, was ich nun erzählen werde — zum ersten= mal, dreiundzwanzig Jahre, nachdem es sich vor mir vollzogen hatte!“ Noch einmal hob der Nades das Glas, und die Gäste taten es ihm gleich: sie spürten, in dem, was folge, werde er sich nicht mehr unterbrechen.
„Über mir schwebte“, sprach er, nun völlig ein Winzer, der sich, erzählend, in einen prophetischen Dichter verwandelt, „mit gläsernen Wänden eine mächtige Trinkhalle. An der Rückwand glühten helle Lettern: drei Worte Goethes. ,Es liegen Kräfte in der Ruhe, im Wasser und in der Atmosphäre!‘ ,Geist und Körper: innig sind sie verwandt. Ist jener froh, .fühlt sich dieser frei und wohl — und manches Übel flüchtet vor der Heiterkeit.‘ ,Wie es Vater und Ahn erprobt: Gott, die Natur und das All sei gelobt!‘ Ich konnte sie deutlich lesen. Als ich den letzten Spruch hinter mich gebracht hatte, saß auf der erhöhten Bühne unter buntem Kuppeldache ein kleines Streichorchester, und der vor ihm stand —‘ o, es ist ein Wunder um die Kunst des Eräugens —, der vor ihm stand, es zu führen, war Johann Strauß Sohn, der Walzerkönig, den ich drei Jahre zuvor im Theater an der Wien gesehen und gehört hatte. Es war am 1. April des Jahres 1874 gewesen, und er dirigierte seine Operette „Die Fledermaus“, das Hohelied des Leichtsinnes und der Lebensfreude!
So wahr ich hier sitze, der Letzte meines Geschlechtes: der Strauß stand vor dem Trinkhallen=Orchester und spielte mit ihm die schmiegsamste Musik, die ich kenne — den Walzer ,An der schönen blauen Donau‘, den er 1867 gelegentlich der Pariser Weltausstellung an der Seine in den Räumen der österreichischen Botschaft gespielt : hatte, indes ihm Kaiser Napoleon III., dessen Gemahlin Eugenie, die Venus unter den Frauen Frankreichs, der König von Hannover, der preußische Prinz Friedrich, der Prinz von Wales, der Kronprinz Italiens sowie erste Politiker, Gelehrte und Künster Frankreichs lauschten. Mit den einleitenden Klängen — Ihr mögt es glauben oder nicht: es geschah, was ich berichte — drängten von allen Seiten durch die Glaswände Unsterbliche als Paare in den Kostümen ihrer Zeit herein, und sobald der Schmelz dieses Lockens auf seiner Fermate geruht hatte und das Wunder der Walzermelodie sich entfaltete, begannen die Paare, im Tanze hin- und herzuwiegen. Keineswegs hatte der Walporzheimer mir die Sinne verrückt. Was ich sage, sah ich.
Die Paare tanzten, sprachen jedoch nicht miteinander. Wohl hielten ihre Blicke sich, und mitunter glaubte ich, sie seien kreisende Sterne. Sophokles, der griechische Dichter, hielt die sagenhafte Antigone, der Oden=Schreiber der olympischen Spiele, Pindar, die Dichterin Sappjio, und der blinde Homer tanzte mit der schönen Helena, deretwegen der trojanische Krieg sich entzündet hatte. Der Meister Eckehart, der Dominikaner, führte Elisabeth von Thüringen, Dante die edle Beatrice und Walter von der Vogelweide die von ihm geliebte Kaiserin.“
Das sei, dämpfte der Nades seine Stimme, ein Blitzen und Glimmern gewesen, wie wenn die Diamanten der Schatztruhen von, achthundert Jahren sich ein Stelldichein gegeben hätten, zur Musik des Wieners die gebändigte Glut ihres Innern zu offenbaren. Der Michel Angelo sei mit jenem zärtlichen römischen Mädchen erschienen, dessentwegen ein Eifersüchtiger ihm beim Faustkampfe das Nasenbein zertrümmert habe. Lionardo da Vinci habe die rätselhafte Morta Lisa im Arm gehalten, und sein Vollbart habe Glitzerwellen geworfen. Sebastian Brant, der Straßburger Dichter des ersten Narrenschiffes, habe eine lebenslustige Nonne, der tolle Grimmeishausen aus dem Dreißigjährigen Kriege eine pralle Bauernmagd gehalten, Sebastian Bach jedoch mit seiner zweiten, so jungen Frau getanzt.
„Georg Friedrich Händel“, erhob der Nades seine Stimme wieder, „schritt würdig mit der Königin von England, die ihn heimlich liebte, und Friedrich der Große, der Flötenspieler und philosophische Feldherr, tanzte mit Maria Theresia, seiner österreichischen Gegnerin. Es war ein Wie» gen und Neigen, ein Schmiegen und Zärteln, dergleichen ich nie für möglich gehalten hätte. Der bärtige Brahms hielt die sensible Clara Schumann, Mozart seine Constanze, Beethoven hingegen die unsterbliche Geliebte, ein hinreißend schönes Weib. An Gottfried Kellers Armen wiegte Annette von Droste Hülshoff, und der herbe Hebbel hielt Christine Enghaus, seine Gattin, im Gewände der Kriemhild. Sie war — müßt Ihr wissen — Burgschauspielerin, und die Wiener verehrten sie sehr. Ich sah, wie Goethe die Frau von Stein als Iphigenie, Schiller seine Charlotte führte, daß keiner der Großen fehlte: die Musik hatte sie geweckt und vereint. Es wunderte mich nicht, daß mit einem Mal auch Willibrord durch das Tor der Halle schritt. Als er deren Mitte erreichte, hob er den Stab und sprach mit durchdringender Stimme: ,Nicht Schöpfer seid ihr — wohl hohe Träger der Beziehung zu Gott!‘ Im selben Augenblick verschwand der Zauber, stand, wo die Trinkhalle sich erhoben hatte, die zwielichtige Dunkelheit dieser seltsamsten Silvesternacht meines Lebens. Auch der Bischof kam nicht zurück, und ich ging allein heim. Die Melodie von der schönen blauen Donau lag mir im Ohr, meine Sinne waren benommen. Wie ich ins Bett kam, weiß ich nicht mehr, wohl aber, daß ich nach abgründigem Schlaf gleich einem Seligen aufwachte.“
Der Nades hatte den letzten Teil seines Berichtes schnell, fast gespenstisch gesprochen, und die Runde war ihm atemlos gefolgt.
Da mit dem letzten Worte der Kirchturm die zwölf Schläge der Mitternacht ins All schickte, taten die Gäste, was der Nades vormachte: sie erhoben sich, nahmen die noch gefüllten Gläser, ließen den Roten im Licht der Lampe glühen und tranken dann langsam, als handele es sich um ein gottesdienstliches Geschehen, das Glas leer. So verabschiedeten sie das alte und grüß= ten das neue Jahr. Dann setzten sie sich wieder: sie wußten, der Nades lasse keinen Gast gehen, ehe die vorgesehene Zahl der Flaschen getrunken war. Es war ihnen selbstverständlich, daß er gleich die nächste Flasche in der Hand hielt und das Geschäft des Gastens besorgte, wie wenn er nicht das Tollste berichtet hätte, was je eine Ahrstube gehört hatte. Der Förster allerdings, ein Mann buschigen Blickes, rief ihm zu: was er erzähle, wirke, daß es eine Taubheit heilen könne! Na ja, lachte er zurück: der alte Shakespeare behaupte, drei Fratzen gäben keinen Kerl! Der Tag, setze er, der Nades, hinzu, würde trocken wie der Rest von Zwieback es nach der Reise zu sein pflege, wenn nicht erzählt werde, wie er es tue. Er glaube an Einhörner, und niemand könne ihm beweisen, sie seien erfunden und nicht wirklich. Allemanns Freund werde jedermanns Geck, und wer mit Hunden schlafen gehe, stehe mit Flöhen auf. Der echte Erzähler bleibe jung, was auch geschehe!
Das Gespräch lotete bald um die Kernfrage: ob die Vollmondnacht dem Nades durch den stableuchtenden Bischof tatsächlich ein Künftiges habe offenbaren und dartun wollen, was bevorstehe, wenn das noch so junge Bad sich weiter entwickle!
Niemand konnte die Frage lösen, auch nach der letzten Flasche nicht, die der Nades einschenkte – trotz seinen achtzig Silvesternächten immer noch, ohne mit der schenkenden Hand zu zittern. Wenn er heute wirkte, würde er sich wundern, in welchem Maße das Trinkhallenbild sich verwirklichte. Doch eine Lebensdauer soU eher Spanne vermag selbst der beste Ahrburgunder nicht zu spenden; denn der Nades müßte einhundertundsechzig Jahre alt sein, wenn er die Goethesprüche an der Trinkhallen-Rückwand wollte lesen. Ob er den Tanz der Unsterblichen zu dem Donau= Wellen=Walzer des von ihm verehrten Johann Strauß noch einmal erleben würde, darf bezweifelt werden. Das Zeitalter der chemischen Formel — manche nennen es das vom Untergang der Seele — läßt derlei Erscheinungen nicht mehr zu.